„Totalität der Erwerbsarbeit“ – war denn Friedhelm Hengsbach in der Vergangenheit dagegen?

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In einem Interview vor fünf Jahren sagte Friedhelm Hengsbach: „Dies kann nur gelingen, wenn möglichst viele an zusätzlicher, gesellschaftlich organisierter Arbeit beteiligt werden“. Vielleicht hatte er da einen erweiterten Arbeitsbegriff im Sinn, ein Bedingungsloses Grundeinkommen lehnte er jedenfalls ab, obwohl genau das und nur es die „Totalität der Erwerbsarbeit“ aufheben würde. Siehe unseren Kommentar dazu hier. Da er auch für das Papier „Für eine radikal reformierte Arbeitsgesellschaft“ verantwortlich zeichnet, scheint die Meldung sonderbar oder bezeugt sie einen Sinneswandel?

Sascha Liebermann

Einseitige Berichterstattung zum Bedingungslosen Grundeinkommen und die Verantwortung der Medien – eine Einschätzung von Sascha Liebermann

Das Archiv Grundeinkommen zitiert aus einer Email-Zuschrift, die sich zur einseitigen Berichterstattung über das BGE in den Medien äußert. Anlass dazu war der Film „Nie wieder arbeiten“, den das Bayrische Fernsehen kürzlich ausstrahlte.

Hier die Auszüge aus der Email, die ich direkt kommentieren möchte:

„…Wie üblich wurde – seit Götz W. Werner als der bekannteste Hauptstreiter für ein Grundeinkommen auftritt – wieder nur eine Finanzierungsart erwähnt. Dies tut der Sache BGE nicht gut. Was mich wirklich erschüttert hat, ist die Tatsache, dass jemand wie Herr Werner sich als Hauptstreiter für ein BGE feiern lässt (so gut und wichtig seine Argumente FÜR ein Grundeinkommen auch sind) wohlwissend, dass deutschlandweit und auch weltweit schon lange bevor er sich dafür eingesetzt hat, viele Wissenschaftler und Initiativen sich für ein Grundeinkommen engagierten und es auch heute noch tun. Ich habe mir beim Anschauen der Sendung überlegt, ob ich an seiner Stelle das so auf sich beruhen lassen würde, wenn ich quasi als der Erfinder des BGE hingestellt würde, ohne peinlich berührt zu sein. Ich bin sicher, dass mir das die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte und dass ich zumindest erwähnt hätte, dass viele Gruppen und Initiativen sich dafür einsetzen und nach reiflicher Überlegung zu ganz anderen Finanzierungsvorschlägen gekommen sind…“

Meine Erfahrung mit den Medien, aber durchaus auch Grundeinkommensinteressierten, war schon des Öfteren, dass sie über mediale Berichterstattung von der Idee gehört hatten. Die Präsenz Herrn Werners ist dort außerordentlich hoch, was dazu beiträgt, dass er mit der Idee in Verbindung gebracht wird und in der Tat manche meinen, es stamme von ihm – wobei er das meines Wissens nie behauptet hat. Als die Piratenpartei begann, sich stärker damit zu befassen, konnte man den Eindruck gewinnen, sie seien diejenigen, die das BGE erfunden haben – teils lag das an den Medien, teils an Piraten, wie ich selbst erlebt habe. Dasselbe Phänomen hatten wir vor vielen Jahren schon einmal, als noch mehr über die Befürworter eines BGE in der Partei Die Linke berichtet wurde, insbesondere über Katja Kipping. Manche meinten deswegen, das BGE sei ein linke Idee, ähnlich war es dann mit der Präsenz Thomas Straubhaars. Diese selektive Wahrnehmung genauso auch die Zuschreibung von Attributen wie Vordenker, Vorkämpfer und ähnlichem ist vor allem ein Medienphänomen.

Vor vielen Jahren schon habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein Journalist einer bekannten deutschen Tageszeitung sich von mir eine halbe Stunde lang Fragen zum BGE beantworten ließ, dann einen langen Artikel dazu verfasste, in dem auf unser Gespräch nicht an einer Stelle hingewiesen wurde. Ich fragte ihn daraufhin, weshalb er nicht darauf hingewies, das wäre doch eine Frage der Redlichkeit. Er larvierte herum und entschuldigte sich mit dem Verweis darauf, wohl dem „Promi-Reflex“ erlegen zu sein. Damit meinte er, nur namhafte Personen im Artikel unterzubringen, die brauche man halt. Vor kamen dort tatsächlich Katja Kipping, Thomas Straubhaar und Götz W. Werner. Das war nicht die einzige Erfahrung dieser Art. Vergessen werden sollte hierbei ebensowenig, wie verbreitet in Deutschland die Haltung ist, dass Argumente nicht für sich stehen, sondern ihre Bedeutung durch die Person verbürgt werden muss. Wenn ein Professor – oder ein erfahrener Unternehmer – das sagt, um es salopp auszudrücken, dann muss es ja stimmen.

Es ist, historisch betrachtet, ein schwieriges Unterfangen, wo der Anfang der Diskussion gesetzt werden soll, einige Vergleiche sind ja geradezu irreführend, wie z. B. der notorische Hinweis auf Thomas Morus Utopia. Wer sich den Text angeschaut, wird schnell verstehen, weshalb. Andere vergleichen des BGE mit Erfahrungen des „poor law“ in England sind geradezu abwegig, dennoch werden sie gezogen. Wiederum andere behaupteten mit leicht hämischem Unterton, in der Schweiz tue sich mehr als in Deutschland und richteten den Blick nur auf die Lancierung der Volksinitiative. Selbst die Diskussionen im Basic Income Earth Network sind so eindeutig nicht. Wer in welcher Form auch immer den Beginn der Diskussion ausmachen will, muss sich nach den Kriterien fragen, die er zum Maßstab dafür erklärt. Der Beginn der Diskussion ist also nur relativ zu den Maßstäben bestimmbar.

Weiter heißt es:

„…Entweder ich setze mich ein für ein Grundeinkommen, wenn es mir tatsächlich ernst ist mit der Idee oder ich lasse es bleiben. Es geht zum derzeitigen Diskussionsstand wirklich NOCH nicht darum, alle anderen Modelle zu „verteufeln“, sondern Menschen zu gewinnen, sich mit der Idee zu beschäftigen…“

Diese Einschätzung würde ich teilen, wenn es um ein einführendes Seminar im Rahmen einer Bildungseinrichtung ginge, z.B. an einer Hochschule. Im Zentrum muss dort stehen, verschiedene Argumente zu prüfen und ihre Konsequenzen auszubuchstabieren. Sich über Zusammenhänge Klarheit zu verschaffen, ist selbstredend auch für Befüworter unerlässlich, die sich dafür einsetzen, dass es eine öffentliche Diskussion gibt und diese langfristig zur Einführung eines BGE führt. Doch welche Ausgestaltung den eigenen Wertvorstellungen am nächsten kommt und diese dann die Darstellung der Idee prägt, halte ich für naheliegend. So wird jeder Engagierte, so klingt es ja auch in dieser Mail durch (siehe weiter unten „Schere zwischen arm und reich“), die Überlegungen und Zusammenhänge besonders herausheben, denen er die größte Bedeutung zumisst und sich gegen andere abgrenzen. Manchmal geschieht das aus Überzeugung, manchmal aus Strategie.

„…Grundeinkommen wird durch eine geschickte Werbestrategie zunehmend NUR mit dem Konsumsteuer-Modell in Verbindung gebracht – und gerade deshalb abgelehnt. Das macht viele Jahre Engagement für dieses Thema zunichte…“

Warum sollte nicht jeder für die Idee bzw. Ideen werben können, die er für richtig hält? Pluralität in der Meinungsbildung herzustellen ist Aufgabe der Medien – und da lässt sich zurecht beklagen, dass es nicht gut gelingt. Darüber hinaus ist jeder selbst in der Pflicht, sich über einen Vorschlag zu informieren. An Informationen mangelt es hierfür nicht, und zwar in alle BGE-Richtungen.

„…Ich schreibe mir die Finger wund, um Menschen (z.B. Hengsbach, Gysi, Gewerkschaftsleute etc.) davon zu überzeugen, dass dieses – geschickt in die Medien und in die Öffentlichkeit lancierte – auch von vielen Grundeinkommensbefürworter/innen kritisch hinterfragte Modell eben gerade NICHT dazu geeignet ist, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen und auch die Wohlhabenden über entsprechend gestaltete Steuern zur solidarischen Finanzierung dieser genialen Idee heranzuziehen…“

Die Frage ist, welche Gewichtung in der Debatte einem selbst wichtig ist. Wer in der „Schere zwischen Arm und Reich“, die ohnehin nur eine relative sein kann, nicht den Schwerpunkt der Debatte erkennt, wird andere Akzente setzen. Auch ist die Frage, ob diese „Schere“ nicht auf verschiedenen Wegen relativiert werden kann. Friedhelm Hengsbach, Gregor Gysi (siehe auch hier) und andere erwärmen sich aus Gründen ihrer jeweiligen Werthaltung nicht für das BGE, sonst könnten sie immerhin das Modell der BAG Grundeinkommen befürworten. Das tun sie meines Wissens aber nicht.

Viele der Ablehner/innen kennen – wegen der Medienpräsenz – nur dieses Modell und identifizieren Grundeinkommen mit Götz Werner und seinem Finanzierungsmodell und lehnen es deshalb ab.
Das ist leider ein Bärendienst für diese so wichtige Vision einer anderen Gesellschaft.
Mit nachdenklichen Grüßen aus Ulm …“

Man kann sehr wohl Überlegungen zur Finanzierung kritisieren, ohne dass BGE als solches abzulehnen. Wer den Konsumsteuervorschlag als Grund dafür instrumentalisiert, das BGE als Ganzes abzulehnen, sucht sich nur einen passenden Anlass. Denn die Handlungsmöglichkeiten, die ein BGE schüfe, sind von der Finanzierungstechnik der Sache nach unabhängig. Man müsste sogar sagen, dass erst dann über die Finanzierungstechnik befunden werden kann, wenn klar ist, was mit einem BGE erreicht werden soll. Der Finanzierungseinwand kam in der Vergangenheit – und kommt noch – blitzartig, wie aus der Pistole geschossen, bevor überhaupt eine Auseinandersetzung mit dem BGE stattgefunden hat.

Zu Beginn unseres Engagements wollten wir dem etwas entgegenhalten können. So kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit von Ute Fischer und Helmut Pelzer (siehe hier). Die Erfahrungen zeigten aber, dass selbst Berechnungsmodelle die Bedenken derjenigen, die die Finanzierungsmöglichkeiten bezweifelten, nicht zerstreuen konnten. Zumal diese Modelle ohnehin ja nichts darüber sagen, wie es sich tatsächlich in Zukunft mit der Einnahmeseite verhalten wird. Darauf wiesen übrigens nicht selten gerade diejenigen hin, die sie zuvor forderten.

In der öffentlichen Diskussion, über das Internet leicht zugänglich, sind die verschiedensten Argumente für ein BGE einsehbar, ebenso wie die verschiedensten Finanzierungsmodelle. Dass Befürworter von ihren Überlegungen jeweils besonders überzeugt sind, ist nicht ungewöhnlich, dafür gibt es die ebenso öffentliche Auseinandersetzung mit entsprechenden Überlegungen. Dass die Medien eher zur Vereinseitigung als zur Sichtbarmachung der Vielfalt beigetragen haben, ist beklagenswert. Dennoch hat sich die Diskussion etablieren können, das BGE ist bekannter, als man meint. Wer sich informieren will, der kann das längst. Ein wirkliches Hindernis für die Diskussion findet sich nicht in den Medien, sie findet sich darin, die Bevormundung des anderen (hier und hier) nicht aufgeben zu wollen, die selbst unter Grundeinkommensbefürwortern (z.B. hier) anzutreffen ist.

Sascha Liebermann

Sich beteiligen oder beteiligt werden? – Anmerkungen zu einem jüngeren Interview mit Friedhelm Hengsbach

Friedhelm Hengsbach hat in einem Interview auf heute.de die These vertreten, die „Mehrheit der Menschen in Deutschland“ lebe unter ihren Verhältnissen. Vom Bedingungslosen Grundeinkommen hält er nichts, warum eigentlich? Seine Antwort ist verwunderlich und bezeichnend:

„…heute.de: Wäre das bedingungslose Grundeinkommen ein Weg zu mehr Gerechtigkeit?
Hengsbach: Ich bin kein Anhänger davon. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt unter ihren Verhältnissen. Es geht dabei nicht nur um materielle Güter, sondern um vitale Bedürfnisse, die nicht befriedigt sind: Gelingende Partnerschaften, den Kinderwunsch sich frühzeitig zu erfüllen und nicht erst, wenn die Karriere so weit fortgeschritten ist, dass er sich erübrigt. In einer natürlichen Umwelt zu leben, die nicht krank macht. Vor allem: Autonomie über die eigene Zeit wieder zu gewinnen für sich, für Kinder, füreinander…“

Kein Argument gegen das BGE zu erkennen. Hengsbach reduziert die Befürwortung auf Anhängerschaft, als handele es sich um ein sektenähnliches Phänomen. Dann zählt er unbefriedigte Bedürfnisse der Menschen auf, die alle Grund genug wären, ein BGE zu befürworten, das mehr Selbstbestimmung ermöglichte, ohne in eine Richtung zu leiten. Doch, weit gefehlt. Hengsbach – so kann seine Äußerung gelesen werden – reduziert das BGE auf Geld, auf ein materielles Gut. Das ist es zwar auch, das Geld ist aber kein Selbstzweck, sondern ermöglicht Tausch, es ist eine Ermöglichungsmittel. Nicht das Geld ist der Zweck, es sind die Freiräume, die der Einzelne dadurch gewinnen könnte, weil sein Auskommen nicht mehr von einer bestimmten Tätigkeitsform abhinge. Das BGE würde den Einzelnen stärken, ohne individualistisch zu sein, es wäre gemeinschaftsfördernd, ohne kollektivistisch zu sein. Es verbindet zwei Momente, die dadurch wiederum klar werden: Freiheit des Einzelnen bedeutet zugleich Anerkennung seiner Abhängigkeit von anderen. Ein starkes Individuum kann es ohne Gemeinwesen nicht geben. Hengsbach sieht diese Zusammenhänge eines BGE offenbar nicht.

Im Schlusssatz der zitierten Passage, wird deutlich, weshalb er sie nicht sehen kann oder will:

„…Dies kann nur gelingen, wenn möglichst viele an zusätzlicher, gesellschaftlich organisierter Arbeit beteiligt werden…“

Nicht das Schaffen von Freiräumen steht im Zentrum, sondern die Hinführung zu einem bestimmten Zweck: gesellschaftlich organisierter Arbeit. „Beteiligt werden“ ist etwas anderes als die Möglichkeiten zu geben, sich zu beteiligen. Hengsbach hebt die passivische Form hervor, was letztlich heißt, die Gesellschaft soll die Menschen beteiligen. Und wenn sie diese Arbeit nicht wollen, was dann? Was sieht er da vor? Werden sie sanktioniert? Es reicht ihm offenbar nicht, Möglichkeiten zu schaffen, wodurch er – sicher wider Willen und entgegen seiner Absicht – in die Nähe der Sozialpolitik gerät, die wir heute haben. Vermutlich ungewollt sind auch andere Kritiker der heutigen Sanktionssozialpolitik schon in diese Richtung gegangen, siehe hier und hier.

Vor einigen Jahren stand Friedhelm Hengsbach dem BGE noch wohlwollend gegenüber und befürwortete es, allerdings mit einer besonderen Begründung:

„…Wenn, wie in Deutschland gegenwärtig Arbeitslose diskriminiert und in pathologische Arbeitsverhältnisse wie Mini-Jobs oder Ein-Euro-Jobs gedrängt werden, ist das bedingungslose Grundeinkommen die Sicherung des Grundrechtes jedes Bürgers, eine Arbeit auch ablehnen zu können. 80 Prozent der Arbeitsplätze sind schlechte Arbeit…“

Es geht ihm also nicht um die Aufhebung der Erwerbsverpflichtung bzw. um die Aufhebung einer allgemeinen Arbeitsverpflichtung, es geht ihm lediglich um ein Abwehrrecht gegen eine bestimmte Form oder Ausformung dieser Verpflichtung. Damit wäre zumindest die obige Deutung erhärtet, dass gesellschaftlich organisierte Arbeit für ihn von zentraler Bedeutung ist. Verwirrend wiederum ist eine andere Passage aus einem weiteren Interview:

„…Hengsbach: Wenn das Grundeinkommen die unwürdigen Hartz-IV-Regelungen abschafft oder ersetzt, bin ich dafür. Aber ich sehe nicht ein, dass Höherverdienende und Vermögende auch noch ein bedingungsloses Grundeinkommen beanspruchen können…“

Es entsteht der Eindruck, dass sich Hengsbach mit dem BGE überhaupt nicht ernsthaft befasst hat, denn es zielt durch eine entsprechende Ausgestaltung ja gerade darauf, allgemeine Bedürftigkeitsprüfungen abzuschaffen.

Sascha Liebermann