„Die Sträflinge der Arbeitsgesellschaft“…

…ein Beitrag von Gabriela Simon in der taz aus dem Jahr 1998.

Manches klingt wie aus der heutigen Grundeinkommensdiskussion, anderes ist vorausweisend auf die Verschärfung der Sozialgesetzgebung, wiederum anderes zeigt, dass die Begründung eines BGE mit der Nicht-Verfügbarkeit von Arbeit für alle nicht allzu weit führt.

Im Beitrag heißt es unter anderem:

„Arbeitslose haben diese Unschuld verloren, und so ist ihr (erzwungenes) Fernbleiben von der Erwerbsarbeit – im Unterschied zu dem der Hausfrauen, Rentner oder Vermögenden – immer illegitim, eine Schuld, die abzutragen ist, wenngleich der Weg dazu versperrt ist.“

Wie sich die Zeiten geändert haben, denn Hausfrau zu sein, ist heute der Inbegriff von Rückständigkeit, worin zugleich eine Verachtung der Haushaltstätigkeiten zum Ausdruck kommt. Gefeiert wird die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ als ultimatives Ziel, obgleich es hilfreich wäre, ihre Nicht-Vereinbarkeit anzuerkennen, um sich darüber klar zu werden, dass die Spannung zwischen beiden Sphären nicht aufgehoben werden kann.

Und weiter an einer anderen Stelle:

„Arbeitslosigkeit ist ein Leben in Schuld. So ist es nur konsequent, daß Arbeitslose wie potentielle Verbrecher behandelt und einem strengen Reglement unterworfen werden: regelmäßige Vorladungen zum Amt, Kontrollgespräche, Verhöre über die Lebensführung und die eigenen Bemühungen, endlich aus diesem Leben in der Sünde herauszukommen. Arbeitslose sind, wie sie es auch wenden, immer auf der illegitimen Seite der Gesellschaft, ganz nah am Verbrechen, und jedes Gespräch mit dem Arbeitsvermittler, jeder Blick in die Zeitung belehrt sie darüber, wo die kriminelle Versuchung liegt, das Verbrechen, dessen sie alle stets verdächtig sind: Sie könnten an diesem Leben im Nichtstun Gefallen finden, sie könnten es genießen, sie könnten es womöglich sogar darauf anlegen, zu leben, ohne zu arbeiten, zu konsumieren, ohne sich durch Erwerbsarbeit nützlich zu machen.“

Wenn manche meinen, das habe erst mit den Verschärfungen der Sozialgesetzgebung 2005 begonnen, erhält hier Aufklärung. Die Vorurteile darüber haben sich kaum verändert.
Und brandaktuell:

„Ob dieser Kampf gegen die Degradierung Arbeitsloser zu Bürgern zweiter Klasse erfolgreich ist, wird davon abhängen, ob es gelingt, zugleich eine grundlegende geistige Prämisse der Arbeitsgesellschaft zu Fall zu bringen: die Idee, daß der Mensch nur dann ein vollwertiger Bürger sein könne, wenn er seine Nützlichkeit für die Gesellschaft durch Erwerbsarbeit unter Beweis stellt. Die aktiven Arbeitslosen müssen eine hochkomplizierte Aufgabenstellung bewältigen: die Auseinandersetzung mit der Erbsünde der Arbeitsgesellschaft, mit dem Irrglauben, Arbeit sei die Quelle der Würde des Menschen und nur durch sie könne er sich als Mensch verwirklichen.“

Es ist genau diese Verknüpfung von Würde und Arbeit, die immer wieder bezeugt, dass Würde für sich nichts ist und die letztlich zur Degradierung der Bürger führt.

Und abschließend:

„Wenn der Weg zur „Arbeit für alle“ versperrt ist, dann gibt es nur ein Mittel, um Arbeitslose aus ihrer gesellschaftlichen Sonderzone zu befreien: ein Bürgerrecht auf Nicht-Arbeit, das verschiedene Formen der Lebensgestaltung als gleichwertig anerkennt, das freiwillige Phasen des Rückzugs aus der Erwerbsarbeit ermöglicht und materiell – durch eine Grundsicherung – absichert.“

Hier bleibt die Autorin dann doch in einer defensiven Haltung zum Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft stecken, wenn sie die „Grundsicherung“ damit begründet, dass es nicht „Arbeit für alle“ gebe. Ein BGE, so wie es heute diskutiert wird, ist davon unabhängig, ob es oder ob es nicht „Arbeit für alle“ gibt, es setzt anders an. Wenn Gabriela Simon in der zuvor zitierten Passage davon schreibt, dass in der Arbeitsgesellschaft die Bürger degradiert werden, dann nennt sie den entscheidenden Ansatzpunkt, von dem aus ein BGE begründet werden kann: die Stellung der Bürger in der Demokratie.

Sascha Liebermann