Woran bemisst sich, ob ein Sozialstaat sein Ziel erreicht?

Diese Frage stellt sich anlässlich des Beitrags von Stephanie Gebert „Ein verstecktes Leben ohne eigene Wohnung“, der im Deutschlandfunk Kultur gesendet wurde. An zwei Zitaten wird deutlich, woran sich messen lässt, ob ein Sozialstaat sein Ziel erreicht:

„Das heißt, die Frau müssten dann den Gang zum Sozialamt machen und diese ganzen Anträge stellen und da durchgehen“, sagt Katja Caliebe. „Und viele Frauen wissen das entweder nicht oder sie schämen sich auch dafür zu sagen: Jetzt muss ich ja von anderen leben.“

Hardliner werden hierzu sagen, dass es eben in der Verantwortung des Einzelnen liege, seine Interessen wahrzunehmen, denn schließlich handele es sich bei diesen Angeboten um Rechtsansprüche (siehe auch hier). Das ist zwar richtig, sozialstaatliche Leistungen sind keine Almosen, doch geht es an der Sache vorbei, die Verantwortung in diesem Fall denjenigen zuzuschreiben, die die Leistungen nicht abrufen. Wer aufgrund seiner Lebensgeschichte nicht in der Lage ist, seine Interessen selbstbewusst wahrzunehmen und sich dafür womöglich sogar schämt; wenn derjenige dann noch auf einen Sozialstaat trifft, der von ihm erwartet, sich zu erklären, damit er Leistungen erhalten kann – dessen Leiden wird noch verstärkt. Er benötigt stattdessen einen Sozialstaat, der diese Situation erkennt, statt sie zu verstärken. In der Sozialpolitik ist in diesem Zusammenhang von „niedrigschwelligen“ Angeboten die Rede, doch worin bestünde hier die Niedrigschwelligkeit?

Sie wäre doch nur gegeben, wenn Leistungsbezieher zuerst einmal so, wie sie sind, angenommen würden. Das ist aber nicht möglich, wenn sie sich, um Ansprüche geltend zu machen, stets erklären müssen, weil sozialstaatliche Leistungen mit dem Ziel verbunden sind, dass der Bezieher sie möglichst wieder verlassen soll – Richtung Arbeitsmarkt. Deutlich wird das am zweiten Zitat:

„Beim Jobcenter und bei anderen Ämtern hat sie bislang vor allem demütigende Erfahrungen gemacht: „Wenn man schon selbst kein Selbstbewusstsein mehr hat oder die Stärke gar nicht hat und man geht da irgendwo hin und möchte Hilfe haben und die Frau dort dann so mit dir spricht, dann sagst du automatisch: Da geh ich nicht mehr hin, dann bleib ich lieber auf der Straße.“

Auch hier werden Hardliner wieder sagen, eben, dann hat sie es nicht besser verdient, wenn sie die Angebote schon nicht aufgreift. Damit würde die Lage dieser Frauen aber nicht ernstgenommen, sie würde einfach übergangen. Ein Sozialstaat, der darauf keine angemessene Antwort hat, versagt. Mit mehr Angeboten oder höheren Geldleistungen ist es nicht getan, das Problem liegt im stigmatisierenden Charakter der Leistungen, auch in der Scham, das eigene Leben nicht auf die Reihe zu bekommen. Es wäre also nötig, Leistungen anzubieten, die nicht als Leistungen für „Verlierer“ oder „Versager“ erscheinen, sie müssen deutlich machen, dass es um den Einzelnen geht, ganz gleich, wie er in diese Lage geraten ist. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen würde hier ein wichtiges Signal aussenden, gerade weil derjenige so angenommen würde, wie er ist und nirgendwo hinstreben müsste. Sicher, es würde auch dann Menschen geben, die mit dem BGE alleine nicht auskämen. Die entscheidende Frage wäre allerdings, ob nicht ein Gemeinwesen, das ein BGE bereitstellt, nicht zugleich ein anderes Sozialstaatsverständnis verkörperte, das es gerade wie im hier vorliegenden Fall leichter machen würde, Leistungen zu beanspruchen. Hilfe diente dann nicht vorrangig dazu, wieder erwerbstätig zu werden, was die normative Basis heutiger Leistungen ist, sondern das Leben ganz grundsätzlich wieder in die eigenen Hände nehmen zu können, das greift viel weiter.

Sascha Liebermann