„Darf das Existenzminimum gekürzt werden?“…

…fragt Anja Nehls im Deutschlandfunk anlässlich der bevorstehenden Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionierung des Existenzminimums, wie es beim Arbeitslosengeld II der Fall ist. An einer Stelle zitiert sie den Sozialrichter Jens Petermann (siehe auch hier), der vor vier Jahren dem BVerG diese Frage vorgelegt hat:

„Jetzt erinnert Petermann in diesem Zusammenhang an ein Verfassungsgerichtsurteil von 2010, als es schon einmal um Hartz IV ging: ‚Zur Höhe hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass der gesetzliche Leistungsanspruch so ausgestaltet sein muss, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Was passiert damit, wenn es ein Gesetz gibt, das Kürzungen vorsieht? Das ein bestimmtes Verhalten daran knüpft, das bestimmte Verpflichtungen damit verbindet, die sich aber so aus dem Grundgesetz selbst nicht ablesen lassen?'“

Petermann kann sich hier darauf beziehen, dass es im Grundgesetz keine Erwerbsobliegenheit gibt, die Würde des Menschen unverfügbar ist, so auch das Existenzminimum. Anders argumentiert Markus Mempe vom Deutschen Landkreistag, der auf den Erfolg von Sanktionen verweist und festhält:

„Weil das Grundgesetz keine bedingungslosen Sozialleistungen fordert und die Mitwirkungsverpflichtung von Sozialleistungsberechtigten dem deutschen Sozialrecht immanent ist. Insofern haben wir damit kein Problem. Zumal möchte ich daran erinnern, dass dieser Gedanke von Fördern und Fordern auch auf einem gesellschaftlichen Grundkonsens fußt. Insofern ist das staatlich sozusagen eingeforderte Bemühen von Leistungsberechtigten unbedingt beizubehalten.“

Zuerst einmal hat die Frage der Verfassungsmäßigkeit nichts damit zu tun, ob Sanktionen wirken oder nicht. Das sind zwei verschiedene Dinge. Dass das Grundgesetz keine „bedingungslosen Sozialleistungen fordert“ heißt nicht, das sie aus ihm nicht dennoch abgeleitet werden könnten. Das Grundgesetz fordert ja ebensowenig Sanktionen. Dass die „Mitwirkungspflicht“ dem Sozialrecht „immanent“ sei, hat ebensowenig etwas mit der Frage zu tun, die das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Das Sozialrecht könnte hier eben gerade etwas entworfen haben, das vom Grundgesetz nicht gedeckt ist, darum wird es vor dem Bundesverfassungsgericht gehen.

Anders verhält es sich mit dem „gesellschaftlichen Grundkonsens“, auf den Mempe sich beruft. In der Tat scheint dieser Konsens sehr stark zu sein, sonst hätte es zur Verschärfung der Sozialgesetzgebung gar nicht kommen und sie hätte sich nicht halten können.

Wenn Mempe zuvor noch auf den Erfolg verweist, stellt sich die Frage, welchen Erfolg er meint? Ist es denn ein Erfolg, wenn auf Grund des Drucks, den Sanktionen erzeugen, ein Arbeitsangebot angenommen wird? Ist das im Sinne des Leistungsethos, in dessen Zentrum eine zu bewältigende Aufgabe steht? Oder unterhöhlt dies vielmehr dieses Ethos und verwandelt Unternehmen in Erziehungsanstalten? Das wäre allerdings der Erwirtschaftung von Wohlstand ab- und nicht zuträglich, würde gerade seine Basis zerstören. Das scheint vielen nicht klar zu sein, die die Haltung haben, jeder Arbeit sei besser als Arbeitslosigkeit, anstatt Erwerbstätigkeit an Leistung zu messen, die gegebenenfalls auch mit Maschinen besser erzeugt werden kann.

Sascha Liebermann