„Die Schweiz hat einen liberalen Arbeitsmarkt…“ – braucht sie deswegen kein Grundeinkommen?

Dass die Schweiz deswegen kein Bedingungsloses Grundeinkommen brauche, diese Auffassung hat jüngst in einem Interview Thomas Straubhaar in der Neuen Zürcher Zeitung geäußert. Damit verkürzt er das BGE auf ein Instrument zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Was hat er genau in dem Interview, in dem es auch um andere Fragen ging, über das BGE gesagt?

„NZZ: Im Juni stimmt die Schweiz über ein bedingungsloses Grundeinkommen ab. Sie sind als Schweizer stimmberechtigt und haben Sympathien für die Idee. Werden Sie ein «Ja» einlegen?“
Straubhaar: Nein! Ich bin zu wenig risikofreudig, um einem solchen Systemwechsel bei so viel offen bleibenden Kernpunkten zuzustimmen. Zwei wesentliche Fragen sind nämlich ausgeklammert. So wird nichts über die Finanzierung gesagt und nichts über die konkrete Höhe des Grundeinkommens.“

Weshalb ist das ein Hindernis? Es würde doch gerade eine Diskussion darüber nötig machen, wie hoch es ausfallen sollte und wie es zu gestalten sei? In einem anderen Interview hatte er gerade diese Offenheit für hilfreich erklärt, dass die Initiative eine Diskussion über die Zukunft der Sicherungssysteme befördere. Darüber hinaus äußerte er dort auch, wie nah die Schweiz an einem Grundeinkommen sei aufgrund ihrer Sicherungssysteme, die eine höhere Umverteilung vollziehen als in Deutschland.

„Wie müsste das Grundeinkommen denn ausgestaltet sein?
Ich bin ein Anhänger eines niedrigen Grundeinkommens, das nur die Existenz absichert. Dies würde Effizienzgewinne erlauben, indem man Doppelspurigkeiten die Bürokratie der Sozialwerke abbaut. Die Befürworter in der Schweiz wollen jedoch ein hohes Grundeinkommen, was hohe Steuern mit sich bringen würde. Das wird die Arbeitsmotivation senken.“

Hierfür darf ich auf einen jüngeren Kommentar zum „Arbeitsanreiz“ verweisen. Die Schlussfolgerung träfe nur zu, wenn Einkommenserzielung und Steuerbelastung (ob dies zutrifft, sei dahingestellt) direkte Wirkungen auf die Leistungsbereitschaft hätten. Straubhaar setzt hier ein ganz bestimmtes Modell zur Erklärung von Handeln an, dessen empirische Basis mehr als fragwürdig ist.

„Aber passt ein bedingungsloses Grundeinkommen überhaupt zu einer liberalen Gesellschaft?
Absolut. Es geht um die Unterstützung der Schwächeren. Urliberal ist, wenn man Transfers nicht an Bedingungen knüpft, wenn der Staat gerade nicht ein bestimmtes Verhalten vorschreibt. Deshalb hat auch der liberale Ökonom Milton Friedman die negative Einkommenssteuer – und nichts anderes ist das bedingungslose Grundeinkommen – propagiert.“

Der Hinweis auf Friedman, der in der Tat kein Verhalten vorschreiben wollte, ist treffend. In der meist hierfür zitierten Passage aus „Capitalism and Freedom“ sagt er genau das, was Straubhaar wiedergibt. Der Vergleich von Negativer Einkommensteuer und BGE, zumal in der Friedmanschen Version, trifft jedoch nicht zu, wie in dem genannten Buch ebenfalls deutlich wird (siehe auch den verlinkten Kommentar zur NES).

„Aber Sie selbst haben einmal geschrieben, dass in der Sozialen Marktwirtschaft die Menschen eigenverantwortlich und selbstbestimmt handeln. Wo bleibt die Eigenverantwortung, wenn jeder automatisch Geld vom Staat erhält?
Es wird ja nur das Existenzminimum abgedeckt, in Deutschland zum Beispiel 7500 € pro Erwachsenen und Jahr. Das Existenzminimum ist durch die Sozialhilfe schon heute für jeden garantiert. Alles darüber hinaus bleibt der Eigenverantwortung überlassen. Wer mehr will, muss selbst aktiv werden.“

So sähe das BGE von Thomas Straubhaar aus, das wäre für eine alleinstehende Person in der Tat wenig, ohne Erwerbsarbeit würde das nicht ausreichen. Für einen Haushalt hingegen wäre es mehr als heute, sofern er nur vom BGE leben wollte, allerdings nur bei drei bis vier Personen. Sofern bedarfsgeprüfte Leistungen fortbestehen, könnte aber auch ein solches BGE schon dazu führen, dass eine entscheidende Barriere für den Wandel genommen wird: die Bedingungslosigkeit. Selbst bei einem solchen Betrag könnte das erhebliche Veränderungen nach sich ziehen. Denn verglichen mit der gegenwärtigen Situation wäre auch das eine erhebliche Verbesserung.

Straubhaar versäumt es – vielleicht sieht er es auch nicht -, dass die „soziale Marktwirtschaft“ nicht im luftleeren Raum existiert, sondern nur dort, wo ein Gemeinwesen ihre Funktionsvoraussetzungen schafft und schützt. Den Begriff der „Eigenverantwortung“ auf die Einkommenserzielung zu verkürzen, ist eine typisch verengte Sichtweise auf den Zusammenhang von Autonomie und Verantwortung. „Eigenverantwortung“ – die immer zugleich Verantwortung für andere ist, insofern ist es ein ungeeigneter Begriff – im politischen Sinne als Souverän tragen die Bürger jeden Tag selbstverständlich, ob die Bedingungen dafür ihrer Stellung im Gemeinwesen angemessen sind, wird kaum gefragt. Ein BGE würde aber diese Bedingungen genau verbessern, den Sozialstaat den Voraussetzungen der Demokratie gemäß gestalten.

„Selbst bei einem Grundeinkommen gibt es Leute, die darüber hinaus finanzielle Unterstützung benötigen, wie Behinderte oder alte Menschen.
 Ich gebe zu: Die Ergänzungsleistungen sind beim Grundeinkommen eine offene Flanke. Mir gehen die Argumente aus, wenn jemand eine schwere Behinderung hat. Da reicht das Grundeinkommen nicht. Dabei wäre die Eleganz gerade, dass ich keine Bedürfnisprüfung mehr machen muss. Man sollte aber auch sagen: Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist das ein kleiner Prozentsatz, bei dem sich dieses Problem stellt.“

Straubhaar räumt hier ein, dass es weitere Leistungen oberhalb des BGE geben müsse, sonst, so würde ich sagen, verkehrt es sich in sein Gegenteil. Der Charme ist nicht die Reduzierung von Verwaltungskosten, wie er vor Augen zu haben scheint, sondern die Ermöglichung von mehr Selbstbestimmung. Ein BGE, das vom Bürger seinen Ausgang nimmt, vom Status der Person, und nicht von einer Leistungsverpflichtung, verändert auch den Charakter bedarfsgeprüfter Leistungen. Sie dienen dann nicht mehr dem Ausgleich von Erwerbsunfähigkeit oder -einschränkung, sondern zur Ermöglichung von Selbstbestimmung.

Was Straubhaar hier vollkommen übersieht, das sind Zwei-Personen-Haushalte wie im Fall eines alleinerziehenden Elternteils und eines Kindes. Sie wären mit diesem Grundeinkommen nicht gut versorgt, da es kaum ausreichen würde.

„Braucht es bei einem bedingungslosen Grundeinkommen noch eine Sicherung durch den Mindestlohn oder den Kündigungsschutz?
 Nein, diesen Schutz braucht es nicht mehr. Das ist auch ein Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz. Die Schweiz hat keinen Kündigungsschutz und keinen Mindestlohn, sondern einen vergleichsweise liberalen Arbeitsmarkt. Deshalb setze ich mich für das Grundeinkommen in der Schweiz auch nicht ein.“

Einen gewissen Kündigungsschutz gibt es allerdings auch in der Schweiz. Worin er den Unterschied sieht, wird nicht deutlich, vermutlich ist der Kündigungsschutz in Deutschland umfangreicher und strikter. Dass ein BGE in ausreichender Höhe die Frage aufwirft, ob heutige Kündigungsschutzregelungen noch den neuen Verhältnissen angemessen, wo sie zu verändern, aufzugeben oder beizubehalten wären, diese Diskussion wäre dann eröffnet. Letztlich ist das keine theoretische, sondern eine praktisch zu beantwortende Frage, was gewollt ist. Straubhaars Einschätzung des Mindestlohns halte ich für treffend (siehe meine früheren Kommentare hier und hier). Deutlich wird, was in Straubhaars Äußerungen zum Bedingungslosen Grundeinkommen über die Jahre oft entweder ausdrücklich oder zwischen den Zeilen zu erkennen gaben. Dass es ihm vor allem um Flexibilität für und am Arbeitsmarkt geht. Existenzsicherung, ja, aber Vorsicht, die Anreize dürfen nicht untergraben werden, weshalb er es gleich auf der Höhe des Grundfreibetrags in der Einkommensteuer belassen will. Weder setzt er das BGE ins Verhältnis zu den Grundfesten der Demokratie, noch sieht er die Stellung, die die Bürger darin schon innehaben. Er verbindet damit also etwas ganz Anderes mit dem BGE als die Stärkung des demokratischen Gemeinwesens durch die Stärkung seiner Bürger. Auch geht es ihm nicht darum, die für ein Gemeinwesen gleichermaßen unerlässlichen Tätigkeiten – Familie, Freiwilligendienst und Erwerbstätigkeit – zu egalisieren, also sie in ihrer Bedeutung gleichermaßen anzuerkennen. Dazu müsste der Vorrang von Erwerbstätigkeit aufgehoben werden. Das geht nur mit einem BGE.

Sascha Liebermann