„Darf das Existenzminimum gekürzt werden?“…

…fragt Anja Nehls im Deutschlandfunk anlässlich der bevorstehenden Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionierung des Existenzminimums, wie es beim Arbeitslosengeld II der Fall ist. An einer Stelle zitiert sie den Sozialrichter Jens Petermann (siehe auch hier), der vor vier Jahren dem BVerG diese Frage vorgelegt hat:

„Jetzt erinnert Petermann in diesem Zusammenhang an ein Verfassungsgerichtsurteil von 2010, als es schon einmal um Hartz IV ging: ‚Zur Höhe hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass der gesetzliche Leistungsanspruch so ausgestaltet sein muss, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Was passiert damit, wenn es ein Gesetz gibt, das Kürzungen vorsieht? Das ein bestimmtes Verhalten daran knüpft, das bestimmte Verpflichtungen damit verbindet, die sich aber so aus dem Grundgesetz selbst nicht ablesen lassen?'“

„Darf das Existenzminimum gekürzt werden?“… weiterlesen

„Sind Hartz IV-Sanktionen verfassungswidrig? Sozialrichter Jens Petermann und Landrätin Michaele Sojka“

Vortrag und Diskussion, die jüngst in Berlin stattfanden. Petermann hebt sehr deutlich heraus, dass das Bundesverfassungsgericht das Recht auslegt im Verhältnis zur Verfassung. Das ist nicht gleichzusetzen mit politischer Willensbildung. Siehe die Antwort von Sascha Liebermann an Diana Aman.

„Eingriff in Grundrechte“…

…unter diesem Titel berichtet die junge welt von einer Veranstaltung mit dem Gothaer Richter Jens Petermann über die Sanktionspraxis der Jobcenter und die dazu bestehende Gesetzgebung (siehe frühere Meldungen bei uns hier). Petermann gehört der Kammer des Gothaer Sozialgerichts an, die im Juni das Bundesverfassungsgericht zu einer Klärung angerufen hat, ob die Gesetzgebung und Sanktionspraxis verfassungsgemäß ist. Eine Passage aus dem Artikel sei hier zitiert:

„Petermann sprach von einer juristischen und einer politischen Ebene, auf der die Praxis angegangen werden müsse. Letztere beschreibe die Stimmung, unter der die Agenda entstanden ist und fortgeführt wird. »Die Mehrheit ist meiner Einschätzung nach pro Sanktionen«, sagte er. Dabei spiele das Menschenbild vom »faulen Erwerbslosen« und gleichzeitiges Ausblenden wirtschaftlicher Faktoren eine tragende Rolle. Hier seien kritische Politiker gefordert. Bundestagsfraktionen könnten beispielsweise eine Normenkontrollklage in Karlsruhe erwirken. Diese würden in der Regel schneller beschieden als Richtervorlagen…“

Auf diesen Umstand habe ich meinem Beitrag zur Aktion von Ralph Boes hingewiesen. Die Gesetze, die die Sanktionspraxis ermöglichen, sind nach demokratischen Verfahren zustande gekommen, dadurch sind sie legitimiert. Wer sie für nicht legitim hält, muss dagegen mit politischen Mitteln vorgehen, wobei stets vorausgesetzt bleiben muss, dass die Würde des Menschen Grundlage jeden Handelns bleibt. Das ist eine eminent politische und keine juristische Frage. Sich über die Geltung des Rechts einfach hinwegzusetzen ist ein Willkürakt und zieht – wir vor etlichen Jahren in der Diskussion um zivilen Ungehorsam deutlich wurde – entsprechende Konsequenzen nach sich. Die Geltung des Rechts muss dann wiederhergestellt werden. Die Alternative wäre, sich der Rechtslage zu beugen, so bitter das für jeden sein muss, der mit ihr nicht einverstanden ist. Ein nach demokratischen Verfahren zustandegekommenes Gesetz steht in seiner Geltung jedoch über dem Einzelnen.

Petermann wird weiter so zitiert:

„…Juristisch gehe es um die Auslegung von Gesetzen. Die sei sehr unterschiedlich. So deklarierte das BVerfG das physische und soziokulturelle Existenzminimum als »dem Grunde nach unverfügbar«. Aus dem Zusatz »dem Grunde nach« bastelten einige »Experten« die Einschränkung, dass Bedürftige verpflichtet werden könnten, ihr Minimum nur unter Einhalten von Auflagen zu erhalten. »Das ist schlicht falsch«, rügte Petermann. Ein weiteres Problem sieht er darin, dass Jobcenter bei Klagen von Betroffenen von der Zahlung der Gerichtskosten ausgenommen seien. Andere Behörden und Krankenkassen müssten etwa 150 Euro pro Verfahren löhnen. »Hätten Jobcenter auch diesen Druck, würde sich vielleicht etwas ändern«, vermutet Petermann.“

Wie Petermann selbst herausstellt, ist die juristische Frage eine, in der es um die Auslegung von Gesetzen im Verhältnis zur Verfassung geht. Es geht also nicht mehr um demokratische Verfahren, sondern um juristische Methodenlehre. Petermann legt die Verfassung anders aus, als es bisher getan wurde, andere legen sie anders aus. Wenn er davon spricht, dass die hier monierte Auslegung „falsch“ sei, ist das dann eine Schlussfolgerung aus der juristischen Auslegungstechnik oder eine aus einem politischen Werturteil? Nehmen wir den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die Gesetzeslage und Sanktionspraxis für verfassungsgemäß hielte, was dann? Sollte deswegen das politische Ringen um eine Veränderung unterlassen werden? Natürlich nicht, da es hierbei nicht um juristische Auslegungstechnik geht, sondern um Willensbildung. Das Bundesverfassungsgericht fragt und prüft nicht, wie wir zusammenleben wollen, genau darum jedoch geht es jedoch in der Diskussion und in der Aktion von Ralph Boes. Die Selbstbestimmung des Souveräns einer politischen Ordnung, also der Gemeinschaft von Bürgern, findet ihren entscheidenden Ausdruck gerade in der Gesetzgebung. Sie findet im Parlament statt. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht keine Durchsetzungsmacht, es kann keine Exekutive beauftragen, seine Urteile durchzusetzen. Das sollten wir ernst nehmen.

Ohnehin ist es eine sonderbare Eigenheit des Grundgesetzes, die Würde des Menschen nicht in ihrer Geltung vorauszusetzen und sich zu ihr in der Präambel zu bekennen, wie es in anderen Verfassungen der Fall ist. Das Grundgesetz erhebt mit Artikel 1 die Würde zu einem Wert, der erst durch es geschaffen werde. Eine Abschaffung oder Außerkraftsetzung der Verfassung würde dann eine Abschaffung oder Außerkraftsetzung der Würde zur Folge haben. Das wäre die Konsequenz daraus, die Würde des Menschen juristisch zu betrachten, nicht politisch.

Sascha Liebermann

„Das gefährdet die Existenz“…

…so Richter Jens Petermann vom Sozialgericht in Gotha, das die Sanktiongsregelung im SGB II vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen will, in einem Interview mit dem mdr. Siehe auch diesen Beitrag des mdr.

Siehe unseren Kommentar zur Frage, ob solche Fragen juristisch oder politisch gelöst werden müssen sowie weitere Kommentare hier und hier zur Geschichte der Sanktionen im Bundessozialhilfe- wie im Arbeitsförderungsgesetz von 1969. An dem heute geltenden Sozialgesetzbuch gibt es Vieles zu kritisieren, es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, das sei alles von gestern auf heute über uns gekommen – es hat vielmehr Tradition.