Ein Denkmal für Leistungsfeindlichkeit…

…will Michael Theurer (FDP, MdB) in seinem Beitrag in der taz errichten, in dem wieder einmal die vermeintlichen Erfolge der Agenda 2010 gefeiert werden. Hier dürfen die üblichen Erfolgsanzeichen nicht fehlen: gestiegene sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und halbierte Langzeitarbeitslosigkeit. Es stört dabei den Verfasser nicht, dass der größte Anstieg der Beschäftigung in Teilzeit (siehe Arbeitszeit je Erwerbstätigen) zu verzeichnen ist und die Halbierung der Langzeitarbeitslosigkeit nichts darüber sagt, was sie an Wertschöpfungssteigerungen mit sich bringt. Dabei macht Theurer die Crux der Sozialpolitik deutlich:

„Wenn wir heute über eine weitere Sozialstaatsreform diskutieren, müssen wir uns zunächst fragen, was die Zielsetzung eines Sozialstaats sein sollte. Die Agenda-Reformen hatten das Ziel, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen.“

Das wäre in der Tat zu fragen. Soll der Sozialstaat dazu dienen, die Autonomie der Bürger zu stärken oder soll er Arbeit zum Selbstzweck erheben? Diese Frage ist nicht ohne. Orientiert sich die Antwort in die erste Richtung wäre zu fragen, wie die Handlungsfähigkeit der Bürger maximal unterstützt werden kann entsprechend der vielfältigen Ambitionen und Neigungen. Autonomie setzt Vertrauen in die Mündigkeit voraus, dass die Bürger sehr wohl wollen und wünschen, ihre Leben in die eigenen Hände zu nehmen, aber nach ihrer Vorstellung davon. Die zweite Richtung, in die noch immer die Antwort gesucht wird, erhebt Erwerbsarbeit zum Selbstzweck, als ob Wohl und Wehe einer Demokratie davon abhingen. Dabei kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass es für Unternehmen gleichgültig ist, welche Mitarbeiter sie haben, ob diese dort sich engagieren wollen oder nicht. Zwar ist die Haltung verbreitet, als wäre es Aufgabe von Unternehmen, Mitarbeiter zu erziehen, im Sinne der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen, im Sinne der Erzeugung neuer Problemlösungen ist das nicht. Während die Unterstützung von Autonomie dem Leistungsethos gewogen ist, ist die Überhöhung von Erwerbstätigkeit leistungsfeindlich. Deswegen kann auch die oben genannte Erfolgsmeldung nur die Hälfte der Geschichte sein. Sie geht zu Lasten anderer Lebensbereiche, wenn wir nur daran denken, in welch absurde Dimensionen die außerhäusliche Betreuung von Kindern getrieben wird: je früher, je länger, desto besser (siehe hier und hier).

Weiter schreibt er:

„Dahinter steckt die Erkenntnis, dass ein auf Verstetigung von Arbeitslosigkeit ausgerichtetes Sozialsystem auf Dauer das bestehende Wohlstandsniveau nicht halten kann und gleichzeitig Arbeit nichts per se Schlechtes ist: Sie stiftet Sinn und Selbstverständnis, während Langzeitarbeitslosigkeit oft in Depression und Verzweiflung mündet.“

Wenn man dies wohlmeinend als eine Kritik an einer entwürdigenden, mit Sanktionen bewehrten Beaufsichtung durch Arbeitsagenturen und Jobcenter deuten könnte, wäre dem etwas abzugewinnen. Es ist der normative Druck, durch Arbeitslosigkeit in eine illegitimen Zustand zu fallen, der bedrückend ist; es ist das Signal, wer nicht erwerbstätig ist, ist nichts, der Grund für diesen Missstand ist.

Weit gefehlt, hier wird gefeiert.

„Gerade deshalb ist es konsequent, von Arbeitslosen eine tätige Mithilfe bei der Suche nach einer neuen Beschäftigung oder Qualifikation von staatlicher Seite einzufordern. Wenn jemand vom Lohn seiner Arbeit nicht vernünftig leben kann, gibt der Staat noch etwas dazu – wer im gleichen Job mehr arbeitet, soll auch mehr bekommen.“

Das ist konsequent innerhalb des heutigen Gefüges, so wie der Sozialstaat gedeutet wird. Es ist nicht konsequent, wenn dabei an die Grundfesten der Demokratie gedacht wird: Mündigkeit, was nichts anders als Autonomie ist. „Tätige Mithilfe“ kann hier nur als Verballhornung dessen betrachtet werden, was das mit Sanktionen bewehrte System heute bedeutet.

„Diese Grundprinzipien sind gesamtgesellschaftlich akzeptiert. Auch wenn es medial anders klingt: Es ist eine verschwindend kleine Minderheit, welche beispielsweise Sanktionen für Grundsicherungsempfänger abschaffen will. So wie nun eine grüne Politikerin Knecht Ruprecht abschaffen will, weil man Kinder niemals bestrafen dürfe, so wollen auch die Spitzen von Grün-Rot-Rot die Grundsicherungsempfänger nicht mehr sanktionieren, wenn sie beispielsweise wiederholt nicht zu vereinbarten Terminen erscheinen.“

Hier liegt Theurer bislang richtig, in der Tat ist es die Mehrheit, die dieser Überzeugung ist (man lasse sich von Meinungsumfragen nicht täuschen). Das sollte einen allerdings nicht davon abhalten, über die Widersprüche aufzuklären und welche Folgen die Sozialpolitik langfristig hat, wenn wir den Leistungsbegriffs seines Inhalts berauben, weil Erwerbsarbeit als solche für wichtig gehalten wird.

Achtung, es folgt ein Vergleich:

„Man stelle sich vor, man würde andere erwachsene Menschen so infantilisieren, indem man etwa einem Handwerker, der nie erscheint, einen Auftrag nicht entzieht oder akzeptiert, dass die Feuerwehr einfach nicht kommt.“

Hanebüchen. Hier wird deutlich, wie wichtig die Frage nach dem Zweck des Sozialstaats ist. Wer würde ernsthaft an einem Handwerker festhalten wollen, der unzuverlässig ist? Würde es etwa einem Unternehmen helfen, Mitarbeiter einzustellen, die nicht bei ihm arbeiten wollen? Theurer argumentiert hier paternalistisch und nimmt einen schiefen Vergleich zu Hilfe. Weder ist ein Leistungsbezieher ein Auftragnehmer, noch bewirbt er sich, weil ihn die Arbeitsagentur einfach gewähren lasse. Sicher, er kann das tun, tut er es aber nicht, bekommt er dies zu spüren. Die Feuerwehr kommt, weil diejenigen, die dort tätig sind, diesen Beruf ergriffen haben oder sich ehrenamtlich engagieren. Wenn aber die Feuerwehrkräfte kündigen bzw. ihr Engagement niederlegen, kommt die Feuerwehr eben nicht. Dagegen gibt es kein Sanktionsmittel. So viel zu diesem Vergleich.

Akademikerschelte darf natürlich nicht fehlen von einem erfahrenen, nah am Leben sich orientierenden Mitglied des Deutschen Bundestages:

„Diese Denke mag im akademischen Elfenbeinturm oder in Berliner Politzirkeln gefeiert werden, als gerecht oder sinnvoll werden es arbeitende Normalbürger nicht empfinden. Würde man das Prinzip „Fördern und Fordern“ aufgeben, täte man nahezu niemandem einen Gefallen. Das Ende von Sanktionen würde massiv zulasten der Schwächsten gehen: einerseits durch eine stärkere Stigmatisierung, andererseits durch eine fehlende Aktivierung.“

Eben, paternalistisch, von Autonomie keine Rede, man fühlt sich an Westerwelles Klage über „spätrömische Dekadenz“ erinnert. Dass es gerade die Fixierung auf Erwerbstätigkeit ist, die zur Stigmatisierung führt, das war vor der Agenda 2010 auch nicht besser, auf diesen Gedanken scheint Theurer nicht zu kommen. Es wäre hilfreich, hier den akademischen Elfenbeintrum zu Rate zu ziehen oder sich schlicht die Grundfesten der Demokratie vor Augen zu führen. Aber das scheint nicht so einfach zu sein.

Theurer kritisiert dann zurecht die hohe Transferentzugsrate, überstrapaziert aber auch das Lohnabstandsgebot, hinter dem stets das Armustfallentheorem lauert.

Abschließend stellt er in seinem Beitrag fest:

„Die bestehenden Zuverdienstmöglichkeiten sind also leistungsfeindlich und ungerecht. In den frühen 2000ern musste man sich damit zufriedengeben, dass viele Arbeitslose aufgrund der angespannten Arbeitsmarktlage möglicherweise nur einen 1-Euro-Job bekommen. Heute ist das anders – es gibt viele Stellen. Statt die Menschen also durch ein leistungsfeindliches System künstlich in geringfügigen Beschäftigungen zu halten, sollten einerseits der Freibetrag und die erste extrem geringe Entzugsstufe wegfallen, andererseits jedoch darüber der Transferentzug deutlich geringer ausfallen. Orientierungsgröße sollte dabei 50 Prozent Transferentzug sein; in jedem Fall sollte er nach Möglichkeit nie über 70 Prozent liegen. Arbeit muss sich lohnen.“

So berechtigt diese Kritik ist, so leistungsfeindlich ist Theurers Überhöhung von Arbeitsplätzen. Wenn Leistung das Maß sein soll, dann muss es um die Bereitstellung von Problemlösungen in Gestalt von Gütern und Dienstleistungen gehen. Wenn es dazu menschlicher Arbeitskraft bedarf, gut, wenn nicht, auch gut. Wer aber Arbeitsplätze über Wertschöpfung stellt, argumentiert leistungsfeindlich.

Sascha Liebermann

Siehe auch das Gespräch mit Michael Theurer im Deutschlandfunk.