„Hochschultage Ökosoziale Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit“ – Diskussion zum Bedingungslosen Grundeinkommen

Die Hochschultage für Ökosoziale Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit in Erfurt, vom 13. bis 17. November 2012, widmeten sich der „Zukunft der Arbeit“. In diesem Rahmen wurde auch über das Bedingungslose Grundeinkommen diskutiert mit Adelheid Biesecker, Johannes Pfister und Thomas Loer (für Freiheit statt Vollbeschäftigung). Audiomitschnitte der Interviews mit Adelheid Biesecker und Thomas Loer, die Carsten Rose von Radio F.R.E.I. führte, sind hier verfügbar.

Grundeinkommen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“

In der 22. Sitzung der Enquete-Kommission (Video und weiteres Material), am 15. Oktober 2012, kam das Bedingungslose Grundeinkommen zur Sprache. Susanne Wiest kommentiert die Sitzung in ihrem Blog und macht dort zudem das Sitzungsprotokoll verfügbar. Auffällig ist an der gesamten Sitzung, welch geringen bis keinen Stellenwert eine bürgerschaftliche Deutung von Gemeinwesen hat, also eine, die das Bedingungslose Grundeinkommen aus diesem Zusammenhang begreift. Siehe auch Sascha Liebermann, „Das Menschenbild des Grundeinkommens – Wunschvorstellung oder Wirklichkeit?“

Freiräume schaffen oder Leistungsansprüche optimieren? Anmerkungen zu einer Diskussion über Pflege bei Beckmann

In der jüngsten Ausgabe der Talksendung Beckmann ging es um das Thema Pflege, besondere Aufmerksamkeit galt der Demenzerkrankung im Alter. Teils waren es persönliche, sehr unterschiedliche Erfahrungen von Menschen, die ihre Eltern pflegten, teils Auskünfte erfahrener Pflegekräfte, die in dieser Sendung verstören konnten. Jens Spahn, MdB (CDU), bemühte sich, auf kleine Fortschritte in der Pflegeversicherung hinzuweisen, durch die Angehörige besser unterstützt werden. Claus Fussek, erfahrener Pfleger und Kritiker der Zustände, hält all dies für viel zu wenig. An Spahns Ausführungen wurde deutlich, wie schwer es ist, solange – wenn auch redlich – im Bestehenden gedacht wird, über es hinauszugelangen. Die auf Einzelfallgerechtigkeit ausgelegte Pflegeversicherung in Deutschland versucht durch eine vermeintliche Objektivierbarkeit von Kriterien (Einteilung von Leistungen in Zeiteinheiten) angemessene Leistungen bereitzustellen. Jens Spahn drückte dies so aus, dass „jeder auch zu seinem Recht kommen soll in diesem System“. Es gelte „Kriterien [zu] entwickeln, damit es einigermaßen objektivierbar ist“. Das Ausmaß an Regulierung und Definition nimmt – wie Fussek betonte – groteske Formen an. Anträge auszufüllen ist, wie auch in anderen Bereichen sozialer Sicherung, aufwendig. Antragsteller stehen vor einem Wust an Detailauskünften, die gegeben werden müssen, ohne dass sie deren Tragweite ermessen können. Entsprechend bieten „Pflegestufenheber“ (so der Dokumentarfilmer David Sieveking) ihre Dienste an, die wissen, wie ein Antrag ausgefüllt werden muss, um die Eingruppierung einer zu pflegenden Person in eine höhere Pflegestufe zu erreichen – ein Symptom.

Einzelfallgerechtigkeit kann dazu führen, dass der einzelne Fall darin keinen Raum mehr hat, weil er durch „objektivierbare“ (was hier heißt: standardisierbare) Kriterien zu erfassen versucht wird. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob nicht Pauschalen, wenn nicht insgesamt, so aber in vielen Bereichen dem individuierten Leben deswegen näher kommen, weil sie der Individuiertheit Raum geben. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht, wenn Pauschalen großzügig bemessen werden. Sie bringen Vertrauen zum Ausdruck.

Auf der Hand liegt, was ein Bedingungsloses Grundeinkommen für die häusliche Pflege im besonderen, jedoch auch für die Pflege im allgemeinen leisten könnte. Weshalb? Heute kann nur derjenige sich um einen Angehörigen kümmern, der durch Erwerbseinkommen ausreichend versorgt ist, sei es durch eigenes oder das seines Partners oder eines Dritten (Erbvermögen sei hier außen vor gelassen). Die Leistungen der Pflegeversicherung reichen hier nicht aus, erst recht nicht, wenn Unterstützungsdienste zu bezahlen sind. Wer erwerbstätig ist und ausreichend Einkommen erzielt allerdings, kann seine Anstellung nicht ohne weiteres aufgeben, verliert er so genau das, was er braucht: das Einkommen. Er kann es aber auch aus anderen Gründen nicht. Eine Rückkehr in die Erwerbstätigkeit ist oft schwierig, er riskiert sein zukünftiges Auskommen. Ganz abgesehen sei hier von der normativen Hierarchie, die die Erwerbsidealisierung schafft. Häusliche Pflege wird durch sie zu einem Hobby abgewertet, zu einer schönen Angelegenheit, die Privatsache ist und nicht dem Gemeinwohl dient. Hier verkennen die Erwerbsapologeten, dass sich in solchen Tätigkeiten wie der Pflege durch Angehörige ein Solidarband artikuliert, das wie selbstverständlich zu bestehen scheint – mit allen innerfamilialen Konflikten, die denkbar sind. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen in ausreichender Höhe würde all die Fragen und Sorgen auf ein anderes Fundament stellen. Es würde als Leistung aller Bürger an alle in einem Gemeinwesen gerade zum Ausdruck bringen, wie sehr alle von allen abhängig sind. Stärkung von Solidarität durch Anerkennung des Einzelnen im Gemeinwesen. Dem Vertrauen, das dazu nötig wäre, kommt unser Misstrauen in den Weg.

Siehe auch „Drohender Pflegekollaps – Möglichkeiten durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen“

Sascha Liebermann

Interessantes Interview mit Albert Jörimann, Präsident von BIEN-Schweiz

Ein in vielerlei Hinsicht interessantes Interview mit Albert Jörimann, dem Präsidenten von BIEN-Schweiz, ist nachzulesen beim Netzwerk Grundeinkommen. Er spricht u.a. über die durchaus eigenwillige Entstehung von BIEN-Schweiz, den Schritt aus der akademischen in die öffentliche Diskussion durch die Initiative Grundeinkommen Basel in 2006 und die aktuelle Entwicklung der Volksinitiative. Häufig ist in Schweizer Medien berichtet worden, das die Sozialdemokratische Partei der Schweiz das Grundeinkommen in ihr Programm aufgenommen habe, das kommt auch im Interview vor. Im Programm selbst ist nicht eindeutig, dass damit ein Bedingungsloses Grundeinkommen gemeint ist, dass jederzeit für alle zur Verfügung stünde (siehe S.26, 2. im Programm der SP von 2010). Interessant ist auch, wie gelassen er in die politische Vernunft vertraut:

„…Auch eine bürgerliche Mehrheit im Parlament wird es nicht wagen, einen Volksentscheid aufgrund einer klaren Kampagne (Grundeinkommen von 2500 Schweizer Franken pro Person und Monat, mindestens aber die maximale AHV-Rente von 2320 Franken pro Person und Monat) einfach so auszunützen für eine Attacke auf die sozialen Errungenschaften. Die Versuchung ist ja immer da, dafür braucht es keine Grundeinkommensinitiative. Aber die politische Vernunft wird diese Leute davon abhalten, ihrerseits in Extremismus und in Unvernunft zu verfallen (wenn man ihre eigenen Argumente mal gegen sie umdrehen darf). Und wenn sie dieser Versuchung dann doch nicht widerstehen können, gibt es zwei recht effiziente Abwehrmechanismen: Gegen ein eindeutig schlechtes Grundeinkommensgesetz kann man jederzeit das Referendum ergreifen, dafür sind dann nicht mehr 100.000, sondern nur noch 50.000 Unterschriften nötig. Und dann gibt es ja auch wieder mal Neuwahlen. Da wird man jene Personen klar benennen, welche dafür gesorgt haben, dass der Sinn der Initiative ins Gegenteil verkehrt wurde….“

Siehe auch ein Interview mit Götz W. Werner zur Volksinitiative, das Enno Schmidt geführt hat.

„Geld für alle. Ein Dorf testet das bedingungslose Grundeinkommen“ – interessantes Interview in der FAZ

Dieses Interview mit einer Ethnologin über das Grundeinkommensprojekt in Namibia im Hochschulanzeiger der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sticht aus der Berichterstattung über das Bedingungslose Grundeinkomen heraus, weil es den Blick für Fragen öffnet, die oft vernachlässigt werden: die kulturellen Voraussetzungen nämlich, die darüber entscheiden, wie ein BGE womöglich genutzt werden würde. In Deutschland wird das Projekt in Namibia häufig als Beleg dafür angeführt, was ein BGE bewirken könne. Doch der Forschungsbericht – im Unterschied zu diesem Interview – über das Projekt geht auf kulturelle Eigenheiten und Voraussetzungen, so weit ich sehen kann, gar nicht ein (siehe auch diesen Vortrag von Claudia & Dirk Haarmann über das BIG-Projekt in Namibia). Genau deren Bedeutung sollte jedoch nicht übersehen werden, denn, was sich in Namibia vollzogen hat, ist nicht einfach auf ein anderes Land übertragbar, dessen kulturelle Voraussetungen andere sind. Und selbst dort, wo die Resultate ähnlich scheinen, können die Wirkzusammenhänge andere sein.

Ausgewählte Stellen seien hier kommentiert:

…(FAZ) Sie haben untersucht, wie das Geld das Leben der Dorfbevölkerung verändert hat. Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Man muss wissen, dass in Otjivero zu rund 80 Prozent Damara leben, eine Volksgruppe, die zu den Khoisan-Völkern gehört. Bei den Khoisan herrscht eine ausgeprägte Kultur des Schenkens und des Einforderns. Wer etwas übrig hat, egal ob Essen, Wasser, Geld oder Zeit, gibt anderen etwas ab. Und wer etwas braucht, eine Tasse Maismehl, ein Stück Seife oder jemanden, der auf die Kinder aufpasst, fragt bei Angehörigen und Nachbarn. Wir Deutschen definieren uns ja eher über das, was wir haben: Wenn Sie mit 40 immer noch in einer Studentenbude wohnen, fragt die Familie, wie es weitergehen soll. Das würden die Khoisan nie tun. Sie definieren sich darüber, was sie anderen geben. Wer nie etwas abgibt, dessen Status sinkt, und irgendwann wird er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen…

Folgt man den Ausführungen, dann fällt eines gleich auf. Schenken und Einfordern, wie es hier geschildert wird, bedeuten nicht, dass bedingungslos gegeben wird. Es herrscht ein hoher Grad der Verpflichtung zu geben, das Geben kann also wiederum eingefordert werden. Das könnte Ausdruck eines hohen Maßes an sozialer Kontrolle sein, damit womöglich einer traditionalen Gemeinschaftsvorstellung. Dazu, sofern das zutrifft, gehört auch eine Sicht auf das Individuum, in der das Kollektiv Vorrang hat, während für die moderne Demokratie ein gleichgewichtiges Verhältnis von Individuum und Kollektiv konstitutiv ist. Nicht ganz ohne Vorurteile ist die Bemerkung über die „Studentenbude“. In unserer Kultur mit einer ausgesprochen starken Vorstellung vom Individuum und großen Anforderungen an Autonomie muss bei der Deutung der „Studentenbude“ der normative Hintergrund bedacht werden. Das Studium ist ein Moratorium, also ein Schutz- und Schonraum, der gerade begünstigen soll, sich müßig mit einer Sache – dem Gegenstand eines Studiums – auseinanderzusetzen. Das Einüben einer Forschungshaltung ist hierbei Zweck. Diesen Schonraum zeichnet dabei auch aus, noch nicht die volle Verantwortung und nicht die vollen Verpflichtungen eines Erwachsenen übernehmen zu müssen. Das Verlassen der „Studentenbude“ – sieht man einmal von Klischees, die damit verbunden werden, ab – ist also auch Ausdruck dafür, sich aller Verantwortung und allen Verpflichtungen des Erwachsenenlebens zu stellen, den je eigenen Weg zu finden, ihnen gerecht zu werden. Es geht dabei auch um eine Ablösung aus der Herkunftsfamilie, auch der Alimentierung durch sie und der Hinwendung zum Gemeinwesen als umgreifender Gemeinschaft. Ich würde auch die Einschätzung nicht teilen, dass es in unserer Kultur vorwiegend um das Haben geht, denn allerhand Schenkrituale wie Geburtstage, Weihnachten und andere Anlässe zeigen die große Bedeutung des Gebens, das noch viele andere Formen kennt, ganz wesentlich die der Familie. Denn in ihr widmen sich die Eltern bedingungslos ihren Kindern. Verantwortung und Verpflichtung haben in unserer Kultur also nur eine bestimmte Form und einen bestimmten Inhalt. Das Haben von etwas wird dort herausgestellt, wo es ein Fehlen von etwas anderem kompensiert – z.B. das Fehlen von Sinn im Beruf oder gar im Leben. Unsere Kultur in Gestalt politischer Gemeinschaft kennt auch keine Ausschluss, zumindest nicht von der Seite, Staatsbürger zu sein. Und Einschränkungen der Bürgerrechte sind – darüber wird im Zusammenhang mit dem Arbeitslosengeld II diskutiert – sind kein Ausschluss im strengen Sinn. Das ist offenbar bei den Khoisan anders, ausgeschlossen wird, wer die Pflichten verletzt. Manches am Vergleich mit der „Studentenbude“ ist also schief oder gar unzutreffend.

…Auch die Kriminalitätsrate sank: Auf den umliegenden Farmen wurde kaum noch gewildert. Frauen, die vorher gelegentlich genäht hatten, kurbelten ihr Geschäft an. Sie reisten nach Windhoek, um auch dort ihre Kleider zu verkaufen. Zudem konnten die Menschen ihr Ansehen in der Gemeinschaft steigern. Otjivero ist ein extrem armer Ort – es gibt kaum Vieh und so gut wie keine Arbeit. Viele sind auf die Unterstützung von Familienmitgliedern aus anderen Dörfern angewiesen. Nun konnten sie etwas zurückgeben: etwa Geld schicken oder Kinder aus der Verwandtschaft aufnehmen…

Hier wird deutlich, wie sehr das Schenken status- bzw. reputationsfördernd ist und so gleichmaßen ein Überbietungswettbewerb in Gang kommen kann. Auch sollte nicht vergessen werden, dass der heutige Sozialstaat ein ungleich abstrakteres Solidarband darstellt, als es in kleinen überschaubaren Gemeinschaften der Fall ist. Unsere Systeme sozialer Sicherung sind Ausdruck dessen, dass bestimmte Aufgaben an das Gemeinwesen übertragen werden, was eben zugleich eine Befreiung von familialen Abhängigkeiten mit sich bringt bzw. bringen soll.

…Ich finde, auch die Menschen sollte man einfach mal machen lassen und ihnen nur die Unterstützung anbieten, die sie selbst haben wollen…

Sehr interessant, wenn auch trivial. Doch genau dies ist ein heikler Punkt auch in der Grundeinkommensdiskussion. Dort finden sich ebenso Positionen und Argumente, die mindestens den Eindruck erwecken, es sei nicht Sache derer allein, die Hilfe benötigen, sie auch zu rufen (siehe frühere Kommentare dazu hier und hier). Von Hilfe zu Bevormundung ist es nur ein kleiner Schritt.

…Mehr Zeit für den Einzelnen und mehr Jobs für alle – klingt nicht übel …
Ja, aber das Grundeinkommen muss ja irgendwoher kommen. Götz Werner, der Gründer der Drogeriemarktkette dm und prominenter Befürworter der Idee, plädiert für ein Grundeinkommen von 1.000 Euro. Das würde uns jährlich über 900 Milliarden kosten. 900 Milliarden! Das halte ich nicht für realistisch. Namibia dagegen könnte sich aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und der Einnahmen aus dem Verkauf von Diamanten und Uran ein Grundeinkommen für alle leisten. Ich fände es gut, wenn sie es dort mal fünf Jahre lang ausprobieren würden. Dann würde man sehen: Führt die Umverteilung tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit und weniger Armut? Oder ist es volkswirtschaftlich gesehen nichts weiter als eine schöne Idee?…

Angesichts der zahlreichen, doch sehr klaren Argumente zur Finanzierung wäre hier Zurückhaltung angebracht gewesen. Nur weil Frau Klocke-Daffa es nicht „realistisch“ erscheint, kann es dennoch realistisch sein. Alleine, wenn sie das Bruttoinlandsprodukt oder Volkseinkommen Deutschlands ins Verhältnis zu den 900 Milliarden gesetzt hätte, hätte ihr auffallen müssen, dass es nicht unrealistisch ist. Dass es beim BGE vor allem um die Frage geht, welcher Teil der Wertschöpfung soll in öffentliche Hand gelangen (z.B. zur Finanzierung des BGE) und welcher soll in privater verfügbar sein? Ein etwas sonderbares Verständnis von Selbstbestimmung zeigt sich in den abschließenden Fragen. Denn, ob die Bürger Namibias es für gerecht halten, ist ihre Angelegenheit. Wir können allenfalls wissenschaftlich etwas zur Einkommensverteilung feststellen, nicht aber, was die Namibianer davon zu halten haben. Womöglich bietet dieser Artikel von Frau Klocke-Daffa weitere Denkanstöße.

Sascha Liebermann

„Jeder muss sich eigentlich fragen ‚Ist meine Arbeit sinnvoll?'“ – Interview mit Konstantin Faigle

Bei youtube anschauen

„…Das ist ja so ein deutsches Phänomen, entweder hat man die große Lösung oder gar nichts…es gibt um mich herum ganz viele Menschen, die schon kleine Lösungen haben…“ – dieser Satz von Konstantin Faigle charakterisiert auch die Grundeinkommensdiskussion ganz gut, denn unter Kritikern wie Befürwortern geht es nicht selten um alles. Dabei beginnen Veränderungen durchaus im Kleinen, das BGE öffnet viele Türen öffnet, ohne „sicherzustellen“, was passiert, wenn wir hindurchgehen.

Sascha Liebermann

„Vierzig Stunden in der Kita“ – wie wollen wir leben?

Der Artikel war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt. Nimmt man ihn so, wie er ist, und geht davon aus, dass alles, was berichtet wird, stimmt, dann kann er einen sprachlos machen. Eine Kita in Schwerin bietet 24-Stunden-Betreuung an. Sie richtet sich an Eltern, die beide berufstätig sind und besondere Arbeitsbedingungen haben. An einer Stelle im Artikel heißt es: „Die Bundesagentur für Arbeit spricht mit Blick auf die unflexiblen Öffnungszeiten der Kindertagesstätten von einem ‚grundlegenden Problem‘. „Stellen Sie sich mal vor, eine Verkäuferin bei Karstadt eröffnet ihrem Arbeitgeber, sie könne nur von Montag bis Freitag zwischen 8 und 15 Uhr arbeiten“, sagt eine Sprecherin. „Dann kriegt sie zu hören: Unsere Stoßzeiten sind aber am Samstag und nach Feierabend.“ Der Bäckereifachverkäuferin, die um 5 Uhr morgens ihre Backlinge geliefert bekomme, gehe es nicht anders.“

Wie hier die Problemlage geschildert wird, lässt allzu deutlich werden, wie sehr es um Prioritäten geht. Damit sind sowohl individuelle wie auch gemeinschaftliche gemeint. Wollen wir als Gemeinwesen Arbeitszeiten über das Wohl der Familie stellen? Dann ist der Ausbau zur 24-Stunden-Betreuung konsequent. Abseits solch extremer Entwicklungen nehmen Betreuungszeiten in Einrichtungen ohnehin zu, weil Eltern früh erwerbstätig sein wollen – teils aus Sorge, teils aus Not, teils, weil sie gebraucht werden möchten. Letzteres klingt gerade dann absurd, wenn kleine Kinder ihre Eltern zuhause um so mehr brauchen. Während diese Eltern als Erwerbstätige ersetzbar, austauschbar sind, sind sie es zuhause nicht. Mitarbeiter eines Unternehmens wird jemand, weil er eine Aufgabe erfüllt, nicht aber, weil er geliebt wird. Was die Bedeutung des Einzelnen im Berufsleben betrifft, machen sich viele Illusionen. Zugleich ist es allerdings die normativ herausragende Stellung, die Erwerbstätigkeit heute zukommt, die viele so früh womöglich wieder in das Erwerbsleben zurückstreben lässt. Anerkennung findet eben vor allem das Engagement im Erwerbsleben, nicht aber in der Familie. Trotz alle dem aber kann der Einzelne aus seiner Verantwortung für Alternativen nicht entlassen werden. Manches Mal sind nur kleine Veränderungen nötig, um die Familiensituation zu verbessern. Manchmal reicht Verzicht oder auch Einschränkung, um mehr Zeit für die Familie zu gewinnen – sofern es gewollt ist.

An einer anderen Stelle heißt es: „Die meisten Krankenschwestern bekommen nur einen Job, wenn sie bereit sind, Schicht zu arbeiten. Eine normale Kita geht da nicht.“ Das Hin- und Hergerissensein mancher Eltern, die im Artikel zitiert werden, ist allzu deutlich, z.B. hier: „Was die Arbeit angeht, bezeichnet Heins die Kita als „die Lösung all meiner Probleme“. Die Einrichtung ermögliche es ihr, bis zu vier Tage am Stück Seminare zu geben. Persönlich aber setze ihr die Situation zu: „Manchmal liege ich weinend im Hotelzimmer und denke an meinen Sohn.“

Die Frage, was ihr wichtiger ist, muss die Dame selbst beantworten. Wenn ihr die Situation aber zusetzt, wäre es an der Zeit, sie zu ändern. Es ist immer leicht zu sagen, das geht doch nicht, bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich durchaus, dass das Nicht-Gehen auch mit einem Nicht-Wollen verbunden sein kann. Das ist legitim, sollte dann aber offen eingestanden werden.

Eine weitere Passage sei zitiert: „Eine andere Erzieherin sieht das kritischer: „Wir sind nur familienergänzend, kein Familienersatz. Das vergessen die Eltern und ihre Arbeitgeber manchmal.“

Auch wenn diese Aussage der Sache nach zutrifft, durch die umfangreichen Betreuungszeiten hingegen wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass auf dieser Basis noch ein Familienleben möglich ist. Um eine Beziehung zu den eigenen Kindern zu erlangen und zu erhalten, braucht es Zeit, ungeplante Zeit mit offenem Ausgang. Wie soll dies möglich sein, selbst wenn eine Betreuung werktags ’nur‘ von 8 bis 16 Uhr dauert?

Zur Veranschaulichung der Degradierung von Familie, die zum Alltag gehört, sei auf diese Zeichnung noch einmal hingewiesen:

 Sascha Liebermann


Frühere Kommentare von Sascha Liebermann zu verwandten Themen: Familie – hier, hier und hier. Ein Einspruch gegen diese Situation in der FAZ im alten Jahr, siehe „Markt und Familie“. Gerade zur schwierigen Arbeitsmarktlage in manchen Regionen sei auch dieser Beitrag
„Strukturschwache Regionen und das Bedingungslose Grundeinkommen“ in Erinnerung gerufen.