Wir haben kürzlich auf einen Beitrag von Helga Spindler über Kinderarmut hingewiesen, in dem es auch darum ging, deutlich zu machen, dass Kinderarmut immer Familienarmut ist und Kinder nicht von der Familie separiert betrachtet werden können. In der Diskussion um eine Kindergrundsicherung bzw. ein Kindergrundeinkommen geschieht das durchaus. Nun hat der Beitrag von Helga Spindler, der auf den Nachdenkseiten veröffentlicht wurde, Kritik auf sich gezogen, Sie finden sie hier.
Zum einen wird in der Kritik darauf hingewiesen, dass der stigmatisierende Charakter solcher Leistungen, die Helga Spindler erörtert, unerwähnt bleibt. Das ist richtig, er spielt in ihren Ausführungen nur am Rande ein Rolle, wenn sie erwähnt, dass Ansprüche im bestehenden System durchaus nicht geltend gemacht werden („verdeckte Armut“). Sie geht aber nicht soweit sich zu fragen, woher dieses Phänomen rührt und welche Rolle dabei die stigmatisierenden Effekte eines auf der Erwerbsnorm ruhenden Sozialstaates spielen. Das ist erstaunlich. Erstaunlich ist allerdings zugleich, dass keiner der Kritiker darauf hinweist, wie denn eine solche strukturelle Stigmatisierung aufgehoben werden könnte. Einen Weg innerhalb eine Sozialstaats, der auf dem normativen Vorrang von Erwerbsarbeit beruht, gibt es nämlich nicht. Jegliche Beanspruchung von Unterstützungsleistungen ist in diesem Gefüge zugleich eine Nicht-Befolgung der Norm, erwerbstätig sein zu sollen, auch wenn es dafür gute Gründe gibt. Und weil genau dieser Umstand, der Norm nicht zu folgen, als unerwünscht gilt, darf er kein Dauerzustand werden, die Leistungsbezieher sollen den Leistungsbezug wieder verlassen. Das ist Ziel des entsprechenden Sozialgesetzbuches und war es auch früher im Bundessozialhilfegesetz. Das ist kein Phänomen, das durch die Sozialpolitik unter der Flagge der Agenda 2010 hervorgebracht wurde, es hat mit dem Status der Leistungen zu tun.
Eine „repressionsfreie Mindestsicherung“ oder Grundsicherung kann es in diesem Gefüge nur in einem ganz engen Sinne geben. Sie bleibt aber ebenso in der normativen Erwerbszentrierung des Systems stecken. Diese Spezifität des Sozialstaats nicht antasten zu wollen mag besonders irritieren, wenn z. B. Helga Spindler deutlich macht, wohin die gegenwärtigen Bemühungen, Auswege aus der Armut zu ebnen, führen: dass Eltern wenig oder kaum mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Wer vollerwerbstätig ist, bekommt zuhause eben nicht viel mit. Kein Deut besser sind diesbezüglich die Kritiker von Helga Spindler. So wird die Stigmatisierung zwar als Problem erkannt, aber kein Ausweg entworfen.
Wo liegt ein Ausweg aus diesem Dilemma? Ganz einfach – in einem Bedingungslosen Grundeinkommen, aber das geht natürlich nicht, wenn man der Überzeugung ist, dass Erwerbstätigkeit doch letztlich über allem steht. Denjenigen, die das BGE gerne als utopisch bezeichnen und es für weit weg von Realpolitik erklären, könnte berechtigt entgegengehalten werden: Es ist das BGE, welches hier seine realpolitische Stärke zeigt, etwas gegen diese Stigmatisierung anzubieten zu haben. Utopisch ist hingegen, in der bestehenden Erwerbszentrierung Auswirkungen derselben aufheben zu wollen.
Sascha Liebermann