…das lässt sich einem Beitrag von Florian Diekmann auf Spiegel online verfolgen. Der Autor hatte in jüngerer Zeit wiederholt über Armut und Hartz IV geschrieben, siehe hier. Sein Beitrag über das BGE ist sehr informiert, bleibt in seinen Schlussfolgerungen jedoch auf halbem Wege hängen, wie ich an wenigen Passagen zeigen möchte.
Diekmann referiert zwei Zugänge in der BGE-Diskussion, die zur Zeit besonders beachtet werden: Digitalisierung und die Abschaffung von Hartz IV. Er nimmt die Rede von der „Arbeitsgesellschaft“ auf und fragt, ob ihr wirklich die Arbeit ausgehe. Dass schon diese Beschreibung unserer Lebensverhältnisse schief ist und die politische Dimension der Bürgergemeinschaft nicht erwähnt wird, muss als Symptom verstanden werden, als Symptom eines Selbstmissverständnisses (siehe hier und hier). Das Problem beginnt schon bei der Frage, ob denn Erwerbsarbeit ausgehe oder nicht, die letztlich für ein BGE unbedeutend ist. Wenn also der „Arbeitsgesellschaft“ die Erwerbsarbeit nicht ausgehe, gleichwohl aber ein tiefgreifender Strukturwandel durch die Digitalisierung befördert werde, dann stelle sich die Lage folgendermaßen dar:
„Das zentrale Problem aber bliebe bestehen: Millionen Menschen die Teilhabe an einer weiterhin von Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft zu ermöglichen, obwohl ihre Kenntnisse und Fertigkeiten veraltet sind – und gleichzeitig eine riesige Lücke von fehlenden Arbeitskräften zu decken, die für den wirtschaftlichen Erfolg dieser Gesellschaft dringend gebraucht werden (der wiederum Voraussetzung für ein Grundeinkommen ist). Dazu braucht es passende Weiterbildung und Qualifizierung in jedem Lebensalter, und zwar so, dass die Menschen „mitkommen“ können und wollen.“
Ja, aber auf welcher Basis (siehe hier)? Dass auch zukünftig die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wichtig sein wird, steht nicht in Frage. Umerziehung gegen den Willen derer, die sich für andere Aufgaben entscheiden, kann wohl kein Mittel sein (siehe hier), um „Arbeitskräfte“ zu gewinnen oder etwa doch? Das ominöse Wort von der „Teilhabe“ blendet aus, dass die Teilnahme in vielerlei Hinsicht erfolgen kann und Erwerbstätigkeit schon heute nur eine davon ist, wenngleich eine normativ herausgehobene. Diekmann übersieht völlig die Leistung, die jenseits von Erwerbsarbeit erbracht wird. Angesichts der Differenziertheit des Beitrags ist das erstaunlich (siehe hier und hier) und wird an folgender Stelle noch einmal deutlich:
„Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren, unausweichlichen Zukunftsproblem: der Demografie. Die deutsche Gesellschaft überaltert, vor allem wegen der stark steigenden Lebenserwartung. Dass seit Jahrzehnten zu wenig Kinder geboren werden, verstärkt den Effekt noch. Vorausgesetzt Erwerbsarbeit wäre weiterhin unbedingt nötig für die wirtschaftliche Produktion, heißt das: Ein immer kleiner werdender produktiver Teil der Bevölkerung steht einem immer größer werdenden unproduktiven Teil gegenüber.“
Was heißt „unproduktiv“? Hat der Autor sich schon einmal mit den notwendigen Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit befasst? Es ist absurd, die einen gegen die anderen auszuspielen, wenn beide gleichermaßen notwendig sind.
An nachstehender Äußerung wird dann deutlich, dass der Autor sich nicht eingehender mit dem BGE befasst hat oder anders gesagt: wie sehr wichtige Argumente für ein BGE unabhängig von Digitalisierung und Arbeitsmarktentwicklung in der öffentlichen Debatte offenbar nicht genügend durchgedrungen sind:
„Das alles spricht keineswegs gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen – sondern eher dafür, dass das Nachdenken und der Streit darüber nötig sind, um auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet zu sein. Aber es zeigt auch deutlich die Grenzen des Konzepts auf: Nur wenn die Arbeitsgesellschaft verschwindet, ist ein bedingungsloses Einkommen zugleich zwingend und Lösung der Probleme.“
Weshalb denn das? Geht das BGE mit Arbeitsverbot einher oder bestreitet es die Bedeutung der Bereitstellung standardisierter Güter und Dienstleistungen? Keineswegs. Es ist eine leider verbreitete Verirrung, das BGE nicht unabhängig von diesen Fragen zu betrachten. Seine Bedeutung bezieht es aus der Verbindung zu den Grundfesten der Demokratie, ganz gleich wie der Arbeitsmarkt sich entwickelt.
Auch an anderer Stelle bleibt der Autor auf halben Wege stecken, wenn er schreibt:
„Dieses Problem ließe sich noch relativ einfach und unbürokratisch beheben, indem das bedingungslose Grundeinkommen nach Wohnort gestaffelt wird – einige wenige Modelle sehen das auch vor. Doch was ist mit Kranken, die eine besondere Ernährung benötigen, mit Behinderten, mit Schwangeren, mit Alleinerziehenden? Für all diese – und noch weit mehr – Fälle sehen Hartz IV und Sozialhilfe Extra-Zahlungen vor.
Zu Beginn geht es um die Frage, ob ein BGE nicht nach Lebenshaltungskosten relativ zum Wohnort gestaffelt werden müsste. Diese Debatte ist nun keineswegs neu, sondern ein alter Hut. Zwei Antworten mit unterschiedlichen Folgen wurde bislang darauf gegeben, an Gewicht haben sie nichts eingebüßt:
1) Sieht man das BGE als einheitlichen Betrag vor, so ist es relativ zu den Lebenshaltungskosten in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich viel wert, das ist richtig. Allerdings darf nicht übersehen werden, wie stark die Entwicklung der Lebenshaltungskosten (Miete z. B.) mit den Wanderungsbewegungen vom Land in Ballungsräume zu tun hat. Sie sind also Ausdruck dessen, den Arbeitsplätzen hinterherzuziehen. Ein BGE nun würde gerade in Frage stellen und die Möglichkeit schaffen, auf diese Wanderung zu verzichten, also dort zu verbleiben, wo zuvor aus Einkommensgründen eine Abwanderung nötig war. Das würde sich vermutlich auf die Lebenshaltungskosten in Ballungsräumen auswirken, es würde womöglich eine Entzerrung herbeiführen.
2) Damit ist deutlich, welchen Folgen eine Staffelung nach Lebenshaltungskosten mit sich brächte. Sie würde die Ballungsraumbildung, die Wanderung dorthin mindestens bestärken.
Vergessen werden sollte nicht, dass unter 1) Mehrpersonenhaushalte über soviele BGE verfügen, wie Personen im Haushalt leben. Ein einheitlicher Betrag wäre also wirkmächtig ohne Staffelung.
Diekmann folgert aus seiner ungenauen Diagnose, es werde weiterhin bedarfsgeprüfter Leistungen bedürfen, wenn das BGE nicht ausreiche, damit sei dann also ein System der Gängelung nötig, das doch gerade mit einem BGE beseitigt werden sollte. Hierbei übersieht er, das Bedarfsprüfung nicht gleich Bedarfsprüfung ist. Was heute als Gängelung wahrgenommen wird, ist nur vor dem Hintergrund eines normativen Vorrangs von Erwerbstätigkeit zu verstehen. Die Bedarfsprüfung geht also immer mit einer normativen Zwecksetzung einher, die Leistungsbezieher wieder aus dem Leistungsbezug herauszubefördern. Mit einem BGE ist das nicht mehr der Zweck der Leistung, von daher ändert sich die Bedarfsprüfung in ihrer gesamten Ausrichtung. Selbstverständlich wird es weiterhin relevant sein, welchen Anteil vorhandenen Vermögens jemand verbrauchen muss, bevor er bedarfsgeprüfte Leistungen in Anspruch nehmen kann, aber auch das erfolgte auf einer anderen normativen Basis. Für Mehrpersonenhaushalte stellt sich die Lage gänzlich anders dar, da für Kinder ein BGE genauso vorgesehen ist wie für Erwachsene. Damit ist auch Alleinerziehenden geholfen, sofern Kinder den vollen Betrag erhielten.
Wenn Diekmann dann schreibt:
„Das relativiert den Anspruch eines bedingungslosen Grundeinkommens, gleichzeitig wirklich vom Arbeitszwang zu befreien und dennoch voll teilhaben zu können. Wer darunter in etwa den Lebensstandard der unteren Mittelschicht inklusive einer bescheidenen jährlichen Urlaubsreise versteht, dürfte in vielen Fällen enttäuscht werden.“
Die Frage ist, was ein BGE leisten können muss, damit am öffentlichen Leben teilgenommen werden kann. Auch hier aber ist das Beispiel wieder schief, denn geht es hier um alleinstehende Personen oder Mehrpersonenhaushalte?
„Aus dem gleichen Grund würde sich auch an der großen Einkommensungleichheit in Deutschland wenig ändern – und erst recht nicht bei der noch weitaus größeren Vermögensungleichheit.“
Für diesen Punkt gilt, was ich direkt zuvor geschrieben habe. Ein BGE wäre nicht nur ein Geldbetrag, es ginge Verhandlungsmacht einher, die heute in der Weise nicht besteht, gerade für Familien nicht. Insofern wäre die Folge als zweistufig: Umverteilung durch BGE sowie Umverteilung durch Verhandlungsmacht. Diekmann redet etwaige Auswirkungen klein, wobei natürlich gilt: niemand muss verhandeln.
Mit dem abschließenden Passus betreten wir wieder Boden, der für ein BGE spricht:
„Viel spricht also dafür, dass die Gesellschaft auch mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht vollkommen anders funktionieren würde. Das ist weder ein Argument für dessen Einführung noch ein Argument dagegen. Allein die Debatte darüber ist gewinnbringend, weil sie Schwachstellen und Widersprüche des bestehenden Sozialstaats offenlegt. Wer sich von einem bedingungslosen Grundeinkommen jedoch eine ebenso einfache wie gerechte Lösung für die großen Probleme der Gegenwart und der Zukunft erwartet, dürfte enttäuscht werden.“
Ja, vollkommen anders würde sie tatsächlich nicht funktionieren, die „Gesellschaft“. Sie würde allerdings einen großen Schritt tun, indem sie ins Zentrum der Sicherungssysteme nicht mehr die Erwerbstätigen stellte, sondern die Bürger. Diese Transformation ist angesichts des Selbstmissverständnisses, sich für eine Arbeitsgesellschaft zu halten, nicht zu unterschätzen, denn mit ihr würde ausdrücklich, was heute verdeckt bleibt: dass das Gemeinwesen als Gemeinschaft von Bürgern um seiner und um ihrer selbst willen existiert und nicht der Erwerbsleistung wegen.
Sascha Liebermann