„Betreuungsbedarf“ oder Aufgehobensein? Erwerbsintegration oder Freiheit, sich zu entscheiden?

Auch wenn es in diesem Kommentar nur darum geht, dass Kitaplätze gemessen am Bedarf fehlen, sei doch auf etwas aufmerksam gemacht, wofür der Bedarf steht. Die prozentualen Angaben zur Altersgruppe stellen sich anders dar, wenn sie aufgeschlüsselt werden nach Alter. Dann gilt nur noch für Kinder unter einem Jahr einschränkungslos bzw. für Kinder im Alter bis zwei Jahren in Westdeutschland, nicht aber in Ostdeutschland, dass die Mehrheit tagsüber zuhause versorgt wird. Ab dem zweiten Jahr trifft es nicht einmal für Westdeutschland mehr zu (siehe Statistisches Bundesamthier mit Kartenmaterial), insgesamt werden da schon 64% der Kinder in Kitas versorgt. Die Betreuungsquoten haben sich rasant innerhalb von 15 Jahren verändert, ebenso der Betreuungsumfang, denn 54,3% der Kinder unter drei Jahren werden schon 35 Stunden und mehr pro Woche außerhäuslich versorgt (BMAS Kindertagesbetreuung kompakt, S. 34 f.). Dahinter zu erkennen ist eine Sozialpolitik, die die Erwerbsbeteiligung von Eltern für etwas sehr wichtiges hält, die Zeit für Familie hingegen für etwas erheblich weniger Bedeutsames, man schaue sich nur entsprechende Ausführungen im Neunten Familienbericht an, im Achten war es nicht anders. Die Diskussion über Vereinbarkeit von Familie und Beruf läuft in vielerlei Hinsicht auf den Beruf hinaus, zudem die Familie nur noch als Beiwerk erscheint. Die Frage wäre also, wie ist es möglich, Eltern mehr Zeit dafür zu verschaffen, sich entscheiden zu können, ohne dass ihnen eine Richtung hin zu Erwerbstätigkeit gewiesen wird? Wer das will, kommt an einem Bedingungslosen Grundeinkommen nicht vorbei.

Sascha Liebermann

Hoch, die Arbeit…

…, so könnte der Beitrag von Mirna Funk „Emanzipation gibt’s nicht in Teilzeit“ auf Spiegel Online übertitelt werden. Funk kritisiert einen „Privilegsfeminismus“, der die Vorstellung einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf für unrealistisch halte (das liest man aber selten, meiner Erfahrung nach), und feiert demgegenüber die Erwerbsteilnahme als wirklichen Freiheitsgewinn, als Emanzipation schlechthin. Sie spießt manche Einseitigkeit in der Debatte um „Care-Arbeit“ (ein wenig hilfreicher Begriff) auf, um selbst allerdings einseitig zu werden, indem sie behauptet, es gehe sehr wohl, das mit der Vereinbarkeit, die Frau müsse nur als „autonomes Subjekt“ ernstgenommen werden, sich unsolidarischen Partner verweigern und das gehe am besten, wenn sie unabhängig sei, also Einkommen unabhängig von ihrem Partner habe. Abgesehen von der Feier der Erwerbstätigkeit, die sie vollzieht, statt ihren Vorrang zu hinterfragen und weitgehend polemisch die Degradierung von Zeit für Familie abzufertigen, übergeht sie mit dem Verweis auf ihre DDR-Biographie nonchalant die Erfahrungen, die dort mit dem „flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung“ gemacht und in der Forschung entsprechend aufgegriffen wurden, so die differenzierten Betrachtungen z. B. von Lieselotte Ahnert und Agathe Israel (siehe auch hier). Es darf der Hinweis auf die Vorbilder „Frankreich, Skandinavien und Israel“ nicht fehlen, die angeblich zeigten, dass es ja gehe mit der Vereinbarkeit – nun, sie machen es einfach und nehmen die Folgen in Kauf.

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„Gratismentalität“ – ohne „Gratis“ gäbe es keine gelingende Sozialisation, keine Familien, keine politischen Gemeinwesen…

…in unserem heutigen Verständnis in einer Demokratie, denn für alles drei gilt: das Gedeihen hängt von der vorbehaltlosen Anerkennung ab, was nicht mit Verantwortungslosigkeit zu verwechseln ist. Wo Anerkennung des Gegenübers an Gegenleistungen gebunden, wo Zuwendung davon abhängig gemacht wird, wird die sie tragende Beziehung zerstört (auch wenn das manche durchaus anders zu sehen scheinen, wie z. B. Dominik Enste hier und hier).

Außer Frage steht, dass ein solches Gefüge in der Tat erodieren kann, wenn diese Anerkennung nicht erfolgt, wenn die Verantwortung dafür nicht übernommen wird, doch das wäre Folge eines Versagens, nicht der Ausgangspunkt.

Sascha Liebermann

Steigerung der Erwerbsquoten statt Frage danach, ob der Stellenwert von Erwerbstätigkeit angemessen ist…

…das findet sich im Beitrag von Sabine Rennefanz auf Spiegel Online, die zwar zurecht auf eine einseitig geführte Debatte über die Erhöhung der Erwerbsarbeitszeit hinweist, die aber den Blick auf die Mütter dabei vermisst. Dabei gelte es, so ihre Einschätzung, die Frauenerwerbsquote und -erwerbsarbeitszeit zu erhöhen. Die Folgen erhöhter Erwerbstätigkeit sieht sie glasklar:

„Denn wenn alle mehr arbeiten, wer kümmert sich dann um die Kinder und die Alten? Über 70 Prozent der unter Dreijährigen in Westdeutschland werden zu Hause überwiegend von ihren Müttern betreut, um vier von fünf Pflegebedürftigen kümmern sich Angehörige, auch meistens Frauen. Wer soll das machen, wenn alle arbeiten? Und was macht das mit der mentalen und physischen Gesundheit?“

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„Auch wenn Väter nur zwei Monate Babypause machen, fließt schon das volle Elterngeld“…

…das hält Charlotte Parnack auf Zeit Online (Bezahlschranke) für nicht mehr zeitgemäß und schlägt vor, die Auszahlung des vollen Betrages an eine gleichmäßige Aufteilung zwischen Mutter und Vater zu binden. Das wäre ein Fortschritt in Sachen Gleichstellung, so Parnack, denn Mütter, so wird mit dem Verweis auf die Gehaltsentwicklung von Frauen und Männern ab 30 festgestellt, gerieten sonst ins Hintertreffen. Ihre Argumentation für eine andere Regelung bezieht sich nur auf die vermeintlichen Folgen der Elterngeldkonstruktion für die Gehaltsentwicklung. Um mehr Zeit für Familie für beide Elternteile über das Elterngeld hinaus geht es nicht. Es geht also auch gar nicht um das, was eine Familienförderung bzw. -unterstützung eigentlich leisten sollte, den Eltern Zeit zu verschaffen, statt sie für Erwerbsteilnahme zu belohnen. Parnack schreibt damit die Eigenheit des Elterngeldes fort, eine Prämie für Besserverdiener zu sein, was sich daran zeigt, dass die meisten Bezieher unter 1000 Euro liegen (siehe auch monatliche Elterngeldzahlbeträge). Das allerdings ist ihr keine weitere Ausführung wert, obwohl darin die entscheidende Veränderung gegenüber dem Erziehungsgeld besteht. Abschließend schreibt sie in ihrem Beitrag:

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Etwa ganz paternalismusfrei? Da scheint mir die Diskussion um ein BGE anderes zu zeigen (ganz im Sinne der Tweet-Antwort)…

…abgesehen davon ist die Frage, welche Rechte hier gemeint sind und wie sie im Verhältnis zum Erwerbsgebot stehen. Zwar werden solche Rechte nicht unmittelbar vom Erwerbsgebot angetastet, doch solange Erwerbsteilnahme über allem steht, verbleibt nur ein enger Korridor des Möglichen, der zugleich alles, was nicht Erwerbstätigkeit ist, normativ degradiert. Bekräftigt wird das noch durch die sanktionsbewehrten Einkommensersatzleistungen. An dieser normativen Vorrangstellung ändert sich nichts, wenn neue Arbeitszeitmodelle entwickelt werden, die eine andere „Vollzeit“, mit weniger Stunden, vorsehen, denn das Erwerbsgebot wird dadurch nicht angetastet.

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Fürsorge gesellschaftlich anerkennen und zugleich auslagern – das vollziehen…

Sarah Menne und Antje Funcke im Policy Brief der Bertelsmannstiftung (siehe auch hier) über „Aufstocker-Familien in Deutschland: Wenn das Geld trotz Job nicht ausreicht“ und schlagen vor, wie dem begegnet werden könnte. Am Ende des Beitrages werden verschiedene „Reformbausteine“ benannt, dazu gehört u. a. eine Kindergrundsicherung. Die Vorschläge beruhen allergings auf einer offenbar unverrückbaren Prämisse, was in Widersprüche führt: Es heißt z. B.:

„Ohne Care-Arbeit wäre unsere Gesellschaft aber nicht überlebensfähig. Zeit, Zuwendung und Fürsorge sind wichtige Bedarfe im Leben eines Kindes oder einer/ eines Jugendlichen – genauso wie von Erwachsenen. Wir müssen daher über andere Ansätze nachdenken, wie Fürsorge gesellschaftlich anerkannt und die Arbeitswelt so ausgestaltet werden kann, dass Frauen und Männer Care-Arbeit und Erwerbstätigkeit gut miteinander vereinbaren können. Gerade Alleinerziehende brauchen dabei besondere Unterstützung, um einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können – nicht nur prekären und/oder geringfügigen Jobs – und gleichzeitig ihrer besonderen Fürsorge- verantwortung für die Kinder nachkommen zu können. Und damit sind wir beim nächsten Reformbaustein.“

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„Beratung auf Augenhöhe“, „Coachingangebote“, „gesellschaftliche Teilhabe“ – ja, mit einem Bürgergeld ohne Bürger

Vor wenigen Wochen habe ich die Ausführungen zum „Bürgergeld“ im Sondierungspapier kommentiert. Nun ist der Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen vorgelegt worden, welche Richtung nimmt das Bürgergeld dort, ist es mehr als eine Aufhübschung des Bestehenden?

Die Ausführungen, beginnend ab Zeile 2471, machen schnell deutlich, worum es geht. Das Bürgergeld stellt „die Potentiale der Menschen und Hilfen zur Integration in den Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe“ (Z. 2485). Während man bei „Potentiale der Menschen“ noch denken könnte, es gehe um die Menschen selbst, obgleich die Rede von Potentialen stets auf die Hebung bzw. Entwicklung derselben aus ist, weist die „Integration in den Arbeitsmarkt“ klar die Richtung. Die Potentiale verbinden sich schnell mit dem Arbeitsmarkt in Potentiale bezüglich des Arbeitsmarkts. Damit ist die Ausrichtung deutlich, es ist kein Bürgergeld um der Bürger willen, es ist eines um der Erwerbstätigkeit willen.

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Kindergrundsicherung: ja – Grundeinkommen: nein? Eltern, wozu?

Folgt man Twitternachrichten, dann scheint es eine große Unterstützung für eine Kindergrundsicherung zu geben. Die Forderung steht schon länger im Raum, erlebte in den vergangenen Jahren immer wieder Aufwind (siehe unsere Kommentare dazu hier). Irritierend ist dabei, für wie selbstverständlich es gehalten wird, dass Kinder gut abgesichert sein müssen, Eltern hingegen jedoch nicht. Es kann also eine Kindergrundsicherung gefordert werden, ohne dass zugleich die Eltern als Eltern eine solche Absicherung erhalten. Kindergrundsicherung also ohne Eltern könnte man sagen. Doch Familien sind ein unteilbares Sozialgebilde, Eltern und Kinder gehören zusammen, Familien erbringen die entscheidenden sozialisatorischen Leistungen, damit aus Kindern einmal verantwortungsbewusste Bürger werden. Dazu braucht es aber auch die Möglichkeit viel Zeit miteinander verbringen zu können.

Dennoch gehen die Einschätzungen weit auseinander, die einen müssen unbedingt abgesichert werden, die anderen müssen erwerbsbereit sein – eine Folge des Erwerbsgebot. Erwerbstätige werden – durch das Elterngeld – sofern sie Eltern werden, genau deswegen bessergestellt als nicht-Erwerbstätige. Diese Widersprüche scheinen wenig zu stören, was womöglich daher rührt, Familie als Ansammlung von Einzelpersonen zu betrachten, deren Leistungen ja genauso gut durch Dienstleister erbracht werden können – siehe Kita und Kindergarten. Eine Kindergrundsicherung zu fordern, ohne zugleich eine Forderung nach einer Absicherung der Eltern bzw. ganz allgemein nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen zu erheben, ist ein zweischneidiges Schwert.

Sascha Liebermann

„Abschaffung des Ehegattensplitting könnte […] Menschen in Arbeit bringen“ – eindimensionale Debatte, weil eindimensionale Ziele

Über etwaige Folgen des in Deutschland existierenden Ehegattensplittings kann unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert werden, die sich in der Debatte durchaus wiederfinden, z. B. der Verhältnismäßigkeit, der Bevorteilung von Besserverdienern, der Benachteiligung Geringverdienern, die Überbewertung der Ehe usw. Es gibt jedoch Aspekte, die kaum zur Sprache kommen bzw. die die Diskussion dominieren, so z. B. hier „Abschaffung des Ehegattensplittings könnte 500000 Menschen in Arbeit bringen“, also der Zugewinn an Arbeitsplätzen durch Umgestaltung in Individualbesteuerung. Kaum zur Sprache kommt, welche Folgen die weitere Steigerung der Erwerbsquote für das Leben jenseits davon hat. Mehr Erwerbsteilnahme bedeutet weniger Zeit für Familie, Angehörige, Freunde, Ehrenamt. Deutlich wird das in diesem Beitrag:
„Wie hat sich diese Reform [des Ehegattensplittings, SL] vor 50 Jahren in Schweden ausgewirkt? Schweden ist mittlerweile eines der Länder mit der höchsten Erwerbsbeteiligung von Frauen: Fast 85 Prozent aller 25- bis 54-jährigen Frauen gehen einer Beschäftigung nach, und es gibt keine großen Unterschiede mehr im Erwerbsverhalten von Männern und Frauen oder von verheirateten und unverheirateten Frauen. Das war nicht immer so. In den 1960er-Jahren, also vor der Reform, lag die Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen auch in Schweden nur bei rund 50 Prozent.“(Nicola Fuchs-Schündeln, Michèle Tertilt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Anfang Juni)

Die Besteuerung wird hier in Zusammenhang mit dem Erwerbsverhalten gebracht, auch wenn die Autorinnen vorsichtig sind, Veränderungen aus der Steuerreform in Schweden direkt abzuleiten. Denn gesamtgesellschaftliche Veränderungen in der Deutung von Geschlechterpositionen, also Veränderungen in normativer Hinsicht, spielen dafür, dass solche Reformen möglich sind, eine nicht unerhebliche Rolle. Ganz frei von der Tendenz, direkte Folgen aus der Steuerreform zu ziehen, sind die Autorinnen dennoch nicht, obwohl ihnen sicher bekannt ist, dass Korrelation nicht dasselbe wie Kausalitäten sind. Gleichwohl ist das Ziel deutlich: es geht um die Erhöhung der Erwerbsquote. Sie erwähnen nur indirekt im weiteren Text, dass es hierzu eines weiteren Ausbaus von Kinderbetreuungseinrichtungen bedarf, was genau aber heißt, weniger gemeinsame Zeit zu haben, weniger Erfahrungen miteinander zu machen. An der Quote der Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen lässt sich diese Entwicklung gut ablesen, ebenso an der Absenkung des Zugangsalters und der Ausdehnung der Betreuungszeiten. Der Ausbau von Ganztagsschulen sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich bezeugt das ebenfalls. Das Ehegattensplitting ist eine Form, in der die Entscheidung, weniger bzw. gar nicht erwerbstätig zu sein steuerlich unterstützt wird, sofern man es sich leisten kann. Für Geringverdiener gilt das z. B. kaum (Wirkungen des Ehegattensplittings auf Geringverdiener hat einst Axel Troost ermittelt). In der Debatte, das ist auffällig, gilt ein Ziel als gesetzt: die Erhöhung der Erwerbsteilnahme. Andere werden kaum diskutiert, z. B. mehr Freiraum für Nicht-Erwerbstätigkeit zu schaffen.

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