„Der Sieg des Kapitals“ – eine lesenswerte Rezension zum Buch von Ulrike Herrmann

Wolfgang Lieb, einer der Köpfe hinter den Nachdenkseiten, hat eine lesenswerte Rezension zum jüngsten Buch von Ulrike Herrmann, die auch für die taz schreibt, verfasst. Manche Überlegungen Herrmanns zum Begriff Kapital und Kapitalismus ist denjenigen nicht fremd, die sich mit Max Webers Schriften insbesondere der „Protestantischen Ethik“ (einige Texte sind online zugänglich) befasst haben. Webers Überlegungen zur Bedeutung des Protestantismus für die säkulare Lebensführung haben, wie es scheint, indes keinen Eingang in das Buch gefunden. Der kapitalistische Geist, für den Weber sich interessiert hat und der für die Entstehung von Neuem gerade aufschlussreich ist, wird bei Herrmann, durch eine eher mechanischistische Erklärung ersetzt. Weil sich Investitionen in Maschinen bei hohen Löhnen rentieren, werden sie getätigt. Das erklärt aber nicht, weshalb sich der Kapitalismus so unterschiedlich entwickelt. Gerade die wirtschaftshistorische Betrachtung, so Lieb, stellt gängige Vorurteile über Kapital, Geld, Zins, Markt, Wachstum usw. in Frage und ermöglicht andere Deutungen der Zusammenhänge. Das Buch ist so für eine breite Leserschaft verständlich. Wundern sollte man sich nicht darüber, dass offenbar keine Rede vom Bedingungslosen Grundeinkommen ist, denn das Verhältnis der Nachdenkseiten (siehe hier und hier und) ist dazu ebenso ablehnend wie Frau Herrmann skeptisch (hier) ist oder zumindest die Tragweite nicht erkennt bzw. anders einschätzt. Ein längeres Gespräch mit Ulrike Herrmann über ihr neues Buch finden Sie bei den Geldsystempiraten.

„Konstruktionsfehler des Grundeinkommens“ oder der Einwände dagegen?

Verschiedene Autoren der Nachdenkseiten haben sich zur Idee eines Bedingungsloses Grundeinkommen eine feste Meinung gebildet, aber immerhin halten sie es doch für sinnvoll, diese aus gegebenem Anlass wieder einmal darzulegen. Die jüngsten Bemühungen von Jens Berger zielen darauf, den oder die „Konstruktionsfehler“ des Grundeinkommens in Sachen Finanzierung offenzulegen. Eine solche Betrachtung erübrige es, „ethische“ Aspekte überhaupt erst in Betracht zu ziehen. Der Autor wie auch seine Mitstreiter leiteten ihre Kritik früher durchaus breiter her (siehe hier, hier und hier). Wie schon beim jüngst besprochenen Artikel von Heiner Flassbeck und Kollegen, der die Erscheinung des Buches Irrweg Grundeinkommen begleitete, handelt es sich bei genauer Betrachtung eben doch nicht bloß um Finanzierungseinwände.

Was schreibt Jens Berger?

…In der Diskussion über das BGE wird sich zwischen Befürwortern und Gegner lebhaft darüber gestritten, ob die Menschen nach der Einführung des BGE überhaupt noch die Motivation haben, arbeiten zu gehen und damit die Verteilungsmasse zu erwirtschaften, aus der das BGE finanziert wird. Doch bereits dieser Streit ist ein Beispiel dafür, dass die Diskussion einem entscheidenden Denkfehler aufsitzt…
Ein Denkfehler also auch des Autors selbst? Zumindest hielt er dies in seinem Beitrag zu diesem Thema vor zwei Jahren noch für eine wichtige Frage. Interessant ist hier, dass die Auseinandersetzung um die Frage nach der Leistungserbringung damit einfach umgangen wird und in der Folge wohl auf die reine Finanzierung qua Berechnung-Frage reduziert werden soll. Sie scheint, so klingt das hier, derart leicht zu packen und überzeugend, dass die andere gar nicht mehr betrachtet werden muss. Dass allerdings die Finanzierungsfrage elementar betrachtet immer die Frage nach der Leistungserbringung und ihrer Grundlagen ist, bleibt dabei nichtsdestotrotz unberührt: Berechnung setzt etwas voraus, auf dessen Grundlage dann erst berechnet werden kann. So liegen jeder Berechnung Daten zugrunde, die durch menschliches Handeln überhaupt erst hervorgebracht wurden, dieses Handeln und seine Voraussetzungen bleibt immer die Grundlage. So trivial das klingen mag, so trivial ist es auch.

…Ohne dies explizit zu sagen, setzt man bei der Diskussion immer den Nettolohn (bzw. die erhaltenen Netto-Transferleistungen) mit der Höhe des BGE gleich. Dieser Denkfehler verbaut jedoch eine tiefgreifendere Sicht auf die Konstruktionsfehler des BGE…
Warten wir, was kommt.

Eine der zentralen Fragen des BGE ist die Finanzierung der Transferleistungen. Bei einem BGE in Höhe von 1.000 Euro pro Kopf und Monat für 81 Millionen Menschen müssten immerhin rund 972 Mrd. Euro umverteilt werden…
So weit, so gut. Keine große Einsicht ist dies seit Jahren auch in Berechnungen zum BGE nachzulesen.

…Befürworter des BGE argumentieren an dieser Stelle gerne, dass der Staat ja heute bereits mehr als 750 Mrd. Euro für Sozialtransfers bezahlt, das Defizit also „lediglich“ bei rund 220 Mrd. Euro läge…
Es mag Befürworter geben, die diese Leistungen dem „Staat“ zuschreiben, es gibt ebenso andere, die darauf hinweisen, dass es um eine Summe aus Leistungen geht, zu denen auch die Sozialbeiträge gehören. Aber aufgepasst, hier wird ein Einwand durch Vereinseitigung vorbereitet.

…Dies ist jedoch Augenwischerei, da lediglich 35% dieser Transfers aus dem Staatshaushalt gezahlt werden [PDF – 1.8 MB], während der Rest über die Sozialbeiträge (z.B. Renten- und Arbeitslosenversicherung) erhoben wird. Selbst bei großzügiger Berechnung würde der Staat demnach „nur“ 35% der gesamten Sozialtransfers und somit 260 Mrd. Euro einsparen, wenn sämtliche Sozialtransfers wegfielen...
Aha, da hat der Autor recht, wenn mit Staat steuerfinanzierte Leistungen gemeint sind. Weshalb aber sollte es nur um diesen Anteil gehen und nicht auch um die Leistungen aus Sozialbeiträgen? Der Autor will diese eben erhalten, das entspricht seinen Wertvorstellungen, was sein gutes Recht ist. Dann sollte es aber auch gesagt werden. Gerade am Beispiel Renten- und Arbeitslosenversicherung wird deutlich, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der BGE-Diskussion offenbar nicht gewollt ist. Dass ein ausreichend hohes BGE – die Betragshöhe, die Jens Berger nennt, geht ja in die Richtung (lässt man sie in heutiger Kaufkraft gelten) – sowohl die heutige Renten- wie auch Arbeitslosenversicherung in ihrer Bedeutung erheblich relativieren, wenn nicht gar ersetzen könnte, wird nicht einmal angedeutet. Grund dafür ist sicher, dass er sie keinesfalls aufgeben will. Auch das ist sein gutes Recht, sollte aber benannt werden. Stimmen die Berechnungen zur Durchschnittsrente, die das Handelsblatt veröffentlichte, würden durch ein BGE die meisten Rentner bessergestellt. Anwartschaften, die das BGE überschreiten, könnten weitergeführt, sie könnten aber auch, wenn es politisch gewollt wäre, umgewandelt werden (für Daten zum Sozialbudget siehe den Datenreport 2011 Kap. 9.4). Es könnten also, wenn es gewollt wäre, viel mehr Mittel, die heute im Sozialbudget stecken, für ein BGE frei werden.

…Bei einem BGE-Transfervolumen von 972 Mrd. Euro bestünde somit ein Finanzierungsdefizit von rund 712 Mrd. Euro. Im letzten Jahr lagen die gesamten Steuereinnahmen des Staates bei 573 Mrd. Euro. Woher soll der Staat die zusätzlichen Mittel nehmen?…
Folgerichtig, weil nur ein bestimmter Teil des Sozialbudgets angetastet werden soll, wird die Schlussfolgerung gezogen. Wie schon manche Berechnungseinwände, so zeigt auch dieser, dass der Autor sich mit der Grundeinkommensdiskussion allenfalls oberflächlich beschäftigt hat. Oder es ist schlicht sein Werturteil, das ihm den analytischen Blick verstellt: Sozialbeiträge bzw. -abgaben sind für ihn unantastbar, deswegen werden sie in die Finanzierung des BGE nicht eingezogen. 

…Vor allem bei BGE-Befürwortern aus dem linken Lager ist die Vorstellung weit verbreitet, dass das BGE von „denen da oben“ finanziert werden könnte. Doch so einfach ist das nicht. Laut Einkommensteuerstatistik gibt es in Deutschland 1,27 Mio. Haushalte mit Brutto-Einkünften von mehr als 100.000 Euro pro Jahr. Zusammengenommen erzielten diese Haushalte Einkünfte in Höhe von 270 Mrd. Euro. Selbst wenn man diesen Haushalten jeden Euro, der über ein Haushaltsnettoeinkommen von 70.000 Euro hinausgeht, mit 100% besteuern würde, käme man lediglich auf 181 Mrd. Euro Steuereinnahmen – 127 Mrd. Euro mehr als heute...
Das wirft einen interessanten Blick auf den Ansatz, das BGE über eine Besteuerung höherer Einkommen zu finanzieren, folgt aber ganz der obigen Blickbeschränkung, weil manche Dinge einfach nicht sein dürfen. Vollkommen unreflektiert bleibt der Zusammenhang, dass auch die Besteuerung höherer Einkommen nur ein Schein ist. Denn der abgeschöpfte Steuerbetrag gehört (zumindest bei Lohn- oder Gehaltseinkünften) zu den Bruttokosten des Arbeitgebers und muss letztlich über den Absatz finanziert werden. Was besteuert wird, wird der Arbeitnehmer oder auch Selbständige zuvor versuchen, an entsprechendem Lohn höher zu verhandeln. Somit trägt die Last dafür der Konsument.

…Wenn man nicht ganz so radikal vorgeht und durch Steuererhöhungen die Einkommensteuerbelastung dieser Besserverdiener verdoppeln würde, käme man auf Zusatzeinnahmen in Höhe von 54 Mrd. Euro. Rechnet man die BGE-Effekte bei der Einkommensbesteuerung hinzu[*], kommt man auf rund 63 Mrd. Euro. Eine stärkere Besteuerung von Vermögen würden zusätzlich je nach Schätzung zwischen 10 und 25 Mrd. Euro in die Kassen spülen
Und so weiter.

…Die Idee, man könnte ein BGE ausschließlich „von denen da oben“ finanzieren lassen, ist nicht haltbar. Durch die genannten Maßnahmen ließe sich noch nicht einmal ein Drittel des BGE finanzieren…
Deswegen hätten andere Finanzierungsüberlegungen einbezogen und der analytische Blick geweitet werden sollen. In der ganzen Finanzierungsdarlegung werden Effekte wie höhere Produktivität durch effizientere Aufgabenerledigung, stärker motivierte Mitarbeiter, die nicht arbeiten müssen, sondern können usw. in keiner Form einbezogen. Auch wenn sie nicht in ihrem tatsächlichen Ausmaß vorhergesagt werden können, müssen sie in die volkswirtschaftliche Bewertung einbezogen werden. Das geschieht indes nicht. Ein Phänomen, das bei bloßen Berechnungsbetrachtungen häufig anzutreffen ist. Normative, die Prämierung oder Anerkennung von Handeln betreffende Zusammenhänge werden übersehen oder unterschätzt. Vergleichbar ist diese mangelnde Unterscheidung der zwischen BGE und Negativer Einkommensteuer.

…Ohne eine starke Erhöhung der Verbrauchssteuern ist das BGE – gleich in welcher Höhe – nicht finanzierbar. In Summe nahm der Staat im letzten Jahr rund 240 Mrd. Euro durch die Besteuerung von Konsum und Verbrauch ein – darunter fallen beispielsweise die Umsatz/-Mehrwertsteuer, die Mineralölsteuer, die Stromsteuer und die Tabaksteuer…
Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn in den Steuern auf Nettopreise sind u.a. die anderen Steuern und Abgaben (Sozialbeiträge), die im Wertschöpfungsprozess anfallen, enthalten. Wie sonst sollte ein Unternehmen sie decken können? Dieser Umwälzungseffekt müsste also mitberechnet werden, das geschieht nicht.

…Um das Defizit von 600 Mrd. Euro zu decken, müsste man die Einnahmen aus diesen Steuern demnach um 250% erhöhen…
So kommt dann eine solche Rechnung zustande. Auch hier gilt, dass die schon erwähnten Effekte auf Produktivität nicht berücksichtigt werden, weil sie nicht wirklich voraussagbar sind. Sie zu übergehen, steht im Dienste der Absicht, das BGE als Unsinn hinzustellen.

…Geht man dabei nach der Rasenmähermethode vor, steigt der Mehrwertsteuersatz auf 66,5%, eine Schachtel Zigaretten würde mehr als 14 Euro kosten und der Liter Super-Benzin würde die 4-Euro-Marke streifen. Dafür hätte jeder Bürger dann ja schließlich auch 1.000 Euro mehr in der Tasche, so die Befürworter des BGE. Dass diese 1.000 Euro von der steuerbedingten Preissteigerungen voll aufgezehrt würden, darüber spricht man seitens der Befürworter eher ungerne…
So werden Mythen gebildet, damit der, der sie verkündet, als Aufklärer gelten kann. Es mag Befürworter geben, die ungerne über Preisveränderungen sprechen, Meinungsmache sollte deswegen nicht in einer Analyse betrieben werden. Befürworter sprechen durchaus darüber, dass es zu Preisveränderungen kommen kann, teils der unrealistisch niedrigen Preise wegen, die wir heute vorfinden. Die Zusammenhänge sind in der Tat komplex, Berechnungen sind mit vielen Unbekannten versehen. Das gilt für heute gleichermaßen, wenn der Blick einmal darauf gerichtet wird, wie viel Wertschöpfung, wie viel Initiative wir durch die heutigen Lebensbedingungen kollektiv hemmen. Doch davon kein Wort.

…Grundlage der meisten BGE-Modelle ist, dass das BGE nahezu alle staatlichen Transferleistungen ersetzt und das BGE somit auch die vorhandenen Sozialsysteme ablöst. Dabei wird von den Befürwortern gerne vergessen, dass auch die gesetzliche Krankenversicherung eines dieser Sozialsysteme ist, das bei der Einführung eines BGE fortan von den Menschen selbst finanziert werden müsste…
Hier sollte der Autor die Konzepte, Modelle oder Personen beim Namen nennen, statt zu bluffen. Einer der vieldiskutierten Vorschläge – ein Modell im engeren Sinn wurde nie vorgelegt – ist derjenige von Götz W. Werner. Er sieht eine nahezu vollständige Ersetzung nicht vor, wir auch nicht, der Vorschlag der BAG Grundeinkommen bei Die Linke auch nicht und andere ebensowenig. Von wem ist hier also die Rede? Manche Vorschläge äußern sich zur Finanzierung der Krankenversicherung unterschiedlich, sehen aber vor, dass dieser Betrag zum BGE hinzukommen sollte (die oben genannten z.B.). Erstaunlich, wie pauschal angesichts dieser differenzierten Lage der Autor vorgeht. Es scheint ihm geradezu gegen den Strich zu gehen, sich mit dem BGE überhaupt beschäftigen zu müssen.

Nimmt man einen monatlichen Beitrag von 300 Euro als solide Basis, würde sich das nominelle BGE von 1.000 Euro bereits auf nominal 700 Euro reduzieren. Rechnet man den oben genannten steuerbedingten Inflationseffekt hinzu, bleibt dem BGE-Empfänger real nur eine Kaufkraft von 490 Euro pro Monat. Davon kann man jedoch noch nicht einmal die existenzsichernden Kosten (Miete, Mietnebenkosten, Lebensmittel etc. pp.) zahlen.
So ist es dann mit Schlussfolgerungen auf der Basis von zuvor getroffenen Annahmen. Deutlich wird auch hier wieder, dass in keiner Form Effekte eines BGE auf die Lebensqualität einbezogen werden. Welche Krankheitsbilder, die mit den heutigen Lebensbedingungen zu tun haben, würden verschwinden? Welche Kosten verschwänden mit ihnen, die wir heute tragen müssen?

Die Frage, ob die Menschen sich bei staatlich garantierten und bedingungslosen Einkünften i.H.v. real 490 Euro pro Monat noch nebenbei arbeiten müssten, stellt sich überhaupt nicht. Selbstverständlich müssen sie nicht nur nebenbei, sondern meist in Vollzeit, arbeiten, um ihre Lebenshaltungskosten finanzieren zu können.
Lassen wir diesen niedrigen Betrag einmal gelten, selbst dann ist eine solche Behauptung, wie sie hier getroffen wird, mindestens ungenau. Eine Familie mit zwei Kindern, die über vier BGE verfügte, hätte beinahe 2000 Euro zur Verfügung, ohne eine Bedürftigkeitsprüfung durchlaufen zu müssen. Selbst das wäre eine enorme Veränderung.

Die Hartz-IV- bzw. Sozialhilfeproblematik wäre mit dem BGE gleichfalls nicht gelöst, da Bedürftige weiterhin zusätzlich Geld vom Staat bekommen müssten, um Gesamteinkünfte zu haben, die dem menschenwürdigen Existenzminimum (bei realen Preisen) entsprechen.
Geradezu konsequent hält der Autor seine Position. Der ökonomische Formalismus, der normative Zusammenhänge unterschätzt, übersieht oder nicht zu interpretieren weiß, zeigt sich hier in aller Klarheit. Gehen wir einmal von diesem niedrigen Betrag aus, der nicht auskömmlich wäre. Gehen wir weiter davon aus, dass es darüber hinaus bedarfsgeprüfte Leistungen gäbe. Es würde sich selbst bei einem niedrigen Betrag etwas ändern: zum einen wäre dieser Betrag immer(!) verfügbar, zum anderen änderte sich der Charakter bedarfsgeprüfter Leistungen, weil sich die normative Basis dafür durch das BGE verändert. Die bedarfsgeprüften Leistungen würden nicht mehr unter den normativen Bedingungen gewährt, Ausgleichsleistungen für Einkommensausfall aus Erwerbstätigkeit zu sein – das ist im wesentlichen ihr heutiger Charakter, auch bei Erwerbsunfähigkeit. Der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit wäre aufgehoben. Erwerbseinkommen wäre gar nicht mehr der Maßstab, an dem die Bereitstellung bedarfsgeprüfter Leistungen gemessen würde und vor dem sie sich zu rechtfertigen hätten. Auch in der Grundeinkommensdiskussion wird dieser Zusammenhang unterschätzt.

Etwas anders sieht das Bild für Menschen aus, die auch heute schon in Vollzeit arbeiten. Wer beispielsweise heute 2.600 Euro brutto im Monat verdient, hätte mit einem BGE i.H.V. 1.000 Euro netto künftig 2.900 Euro netto in der Tasche. Neben dem BGE würde der normale Arbeitnehmer auch noch die Kosten für die Arbeitslosenversicherung und die Rentenversicherung sparen, da diese System durch das BGE obsolet wären.
Hier nun werden auf einmal doch die Sozialbeiträge berücksichtigt. – Doch die Berechnung ist nur eine Spielerei. Wie sich Löhne entwickeln würden, lässt sich schwer vorhersagen. Es kann auch sein, dass diejenigen, die hier genannt werden, gar keine Einkommenssteigerung erreichten, weil sie bislang überbezahlt waren oder das Unternehmen auch anderweitige Möglichkeiten hätte, die Arbeitsgänge zu erledigen. Allerdings, da das Haushaltsprinzip nicht mehr gälte, würde ein Vollverdiener, der bislang das Familieneinkommen nach Hause bringt, nun anders dastehen. Sowohl die Kinder erhielten das BGE als auch der Lebenspartner. Das Familieneinkommen steigt, ohne dass sein Lohn steigen muss. Das BGE, gerade um Inflationseffekte zu mindern, sollte ja in die bestehenden Verhältnisse hineinwachsen und nicht einfach „oben drauf“ kommen.

Da aber kein Mensch mit einem Realeinkommen i.H.v. 490 Euro pro Monat leben kann, wäre dies ein Hauptgewinn für private Zusatzversicherungen für die Altersvorsorge. Was der Arbeitnehmer auf dem Lohnzettel spart, würde er privat weiterhin zahlen müssen. Lediglich der Arbeitgeber kommt auf diese Art und Weise um seinen Anteil an den vielzitierten Lohnnebenkosten herum. Da wundert es nicht, dass das BGE-Modell auch in FDP- und CDU-Kreisen sehr beliebt ist. (z.B. Althaus, Angela Merkel hat sogar eine „Bürgergeld-Kommission“ eingesetzt.)
Trefflich werden die Folgen eines so niedrigen BGE im ersten Teil beschrieben, falls es dabei bliebe. Dass der Arbeitgeber um die Lohnnebenkosten herumkäme, ist eben ein Mythos, denn auch heute führt er sie nur ab, getragen werden sie aber durch den Konsumenten. Der letzte Teil der Passage zeugt wiederum von mangelnder Sachkundigkeit, denn seit der letzten Überarbeitung des Althaus-Vorschlags in 2010 wird er vom Namensgeber selbst nur noch als partielles Grundeinkommen bezeichnet. Damit hat er auf eine häufig geäußerte Kritik am Solidarischen Bürgergeld offenbar reagiert.

Aber selbst wenn man im oben genannten Fall ein Nettoverdienst von 2.900 Euro pro Monat annehmen würde, entspräche dieses Summe durch den genannten Inflationseffekt lediglich einem realen Einkommen i.H.v. 2.030 Euro pro Monat. Zieht man davon noch die obligatorische Krankenversicherung (300 Euro pro Monat) ab, verbleiben dem Arbeitnehmer real 1.730 Euro pro Monat und somit gerade einmal 60 Euro mehr als heute.
So setzt sich das mit statischen Berechnungsmodellen fort. Das soll kein Einwand dagegen sein, dass Effekte eines BGE natürlich bedacht werden müssen, ja, bedacht müssen sie aber werden. Dazu reicht eine solche Betrachtung nicht aus, denn sie bezieht nur die Effekte ein, die ihr recht sind.

…Wo zu also das BGE? Durch die Finanzierungs- und Steuereffekte sind die Menschen weiterhin gezwungen, arbeiten zu gehen, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken, womit die Kernbedingung eines BGE nicht erfüllt ist. Dabei sind viele Gegenargumente und negativen Nebeneffekte hier noch gar nicht genannt. Wie soll man beispielsweise das mit den Steuereffekten verbundene Problem der Schwarzarbeit lösen? Wie will man verhindern, dass Bundesbürger sich ihre Güter steuergünstig im Ausland besorgen?…
Den ersten Teil dieser Passage lasse ich unkommentiert, weil er nur wiederholt, worauf ich schon eingegangen bin. Im zweiten jedoch wird es sonderbar. Handelt es sich um „viele Gegeneinwände“ der Art, wie sie die Nachdenkseiten oder die Autoren des Buches Irrweg Grundeinkommen vorgebracht haben? Na, dann sehe ich keinen Anlass zu verzagen. Können Fragen nun schon als Einwände verstanden werden? Weshalb sollte es für diese Fragen keine Lösungen geben? Gegen „Schwarzarbeit“ als Instrument der Steuervermeidung wird ein Gemeinwesen natürlich vorgehen müssen – muss es das heute etwa nicht? Das kann aber nicht der Hauptweg sein. Zuerst müsste die Frage geklärt werden, was der Grund für Schwarzarbeit ist und ob ein BGE mit einer vernünftigen Ausgestaltung gerade dazu führen könnte, dass Schwarzarbeit zurückgeht? Steuervermeidung hat stets auch etwas mit mangelnder Loyalität zu tun, diese kann viele Gründe haben, auch ein undurchsichtiges, nicht mehr nachvollziehbares Steuersystem kann einer sein. Wie heute, so kann man auch in Zukunft nicht verlässlich verhindern, dass Bürger Güter im Ausland erwerben, die Frage ist, welches Ausmaß dies annimmt und ob es – Jens Berger behauptet das nur – überhaupt zu einem Problem werden würde.

Das BGE ist zweifelsohne eine nette Idee, die jedoch nicht umsetzbar ist. Umsetzbar sind jedoch zahlreiche Alternativen zum BGE, die schlussendlich den Effekt haben, den seine Befürworter dem BGE zuschreiben. Wenn man z.B. den Hartz-IV-Regelleistungssatz und die Grundsicherung maßvoll erhöhen und die Sanktionen streichen würde, könnten auch Hilfsbedürftige menschenwürdig leben. Dies wäre ein Grundeinkommen, aber eben kein bedingungsloses
Hat der Autor schon einmal vom Stigmatisierungseffekt der Bedürftigkeitsprüfung unter Bedingungen einer normativen Überhöhung von Erwerbsarbeit gehört? Oder von verdeckter Armut und wie sie zu erklären ist? Verwunderlich ist die Hartnäckigkeit, mit der der Autor sich vielen Überlegungen zum BGE, die gerade diese normativen Zusammenhänge betreffen, verschließt und sich auf vermeintlich harte volkswirtschaftliche oder hier sogar bloß rechentechnische Überlegungen zurückzieht. Jens Berger ist der Auffassung, damit alles gesagt zu haben. Seine Ausführungen, wenn man die flapsigen Behauptungen so nennen will, können auch getrost als Kapitulationserklärung gelesen werden. Zwar ist eine Auseinandersetzung mit Einwänden notwendig, um die Argumente für ein BGE stets von neuem zu prüfen und zu präzisieren. Dazu bedarf es eben aber Argumente.

Wie ich gerade erst gesehen habe, hat sich Herbert Wilkens vom Netzwerk Grundeinkommen ebenfalls mit dem Beitrag von Jens Berger befasst. Aus einer Email-Korrespondenz mit ihm sind Ausschnitte veröffentlicht, die zeigen, wie gering die Bereitschaft ist, sich auf das Bedingungslose Grundeinkommen einzulassen, wie vorurteilsbeladen es abgewehrt wird. Das ist kein Grund, die Auseinandersetzung nicht zu führen, es ist vielmehr ein Beleg dafür, wie weit sie schon vorangekommen ist, wenn solche Einwände in all ihrer Undifferenziertheit direkt zu erkennen sind.

Sascha Liebermann

„Die Legende vom heiß begehrten Ingenieur“ – Reportage und Diskussion bei „report München“

Über Fachkräftemangel wird schon länger debattiert, gibt es ihn oder gibt es ihn nicht. report München berichtete im vergangenen Juli darüber, im blog der Sendung entspann sich eine Diskussion um die Frage, was dran ist am Fachkräftemangel. Hier ein Beitrag zur Sache auf den Nachdenkseiten, die immer wieder über die zweifelhafte Datengrundlage der Diskussion berichtet haben.

Wachstum, Wachstumskritik, Kritik der Wachstumskritik – Beiträge zu einer Debatte

Kürzlich haben wir auf ein Interview mit Tomás Sedláczek hingewiesen, in dem es um „Ökonomie als kulturelles Phänomen“ geht. Darin äußerte sich Sedlaczek auch zum Wachstum und Wachstumsbegriff. Der österreichischen Tageszeitung der standard gab er kürzlich ein Interview zum gleichen Thema, auf das nun ein Kritiker der Wachstumskritik antwortet (siehe auch die vielen Kommentare). Albrecht Müller von den Nachdenkseiten hat sich wiederholt kritisch zur Debatte geäußert, siehe hier und hier. Wir weisen auf diese Beiträge hin, weil sie zu einer Klärung dessen auffordern, was unter Wachstum zu verstehen sei könnte und wie ungenau in der Debatte argumentiert wird. Insofern sind die hier genannten Texte auch eine Aufforderung, sich genau mit den Argumenten auseinanderzusetzen.

„Kritik an der Zinskritik“ – der Verfasser antwortet Kritikern

Vor wenigen Wochen wiesen wir auf einen Beitrag auf den Nachdenkseiten hin, der sich mit der Zinskritik befasst (siehe „Kritik an der Zinskritik“). Nun hat der Verfasser, Jens Berger, auf die zahlreichen Zuschriften geantwortet, die er auf diesen Artikel erhalten hat. Wir weisen wiederum darauf hin, weil auch in der Grundeinkommensdiskussion immer wieder auf die Zinskritik Bezug genommen wird. Hier geht es zu seinem Beitrag.

„Kritik an der Zinskritik“ – ein Beitrag auf den Nachdenkseiten

Die Nachdenkseiten haben einen Beitrag veröffentlicht, der „Kritik an der Zinskritik“ übt. Lesenswert ist er, weil er Thesen aufgreift und diskutiert, die auch in der Grundeinkommensdiskussion regelmäßig vorgebracht werden.

Ausführungen der Nachdenkseiten zum bedingungslosen Grundeinkommen haben wir mehrfach kommentiert, siehe z.B. „Nachdenkseiten. – Werthaltung die zweite“.

„Deutsche Wirtschaft ist so stark wie vor der Krise“ – genauer betrachtet

Die Nachdenkseiten haben einen Beitrag zu dieser Meldung veröffentlicht, die seit heute die Runde macht und in vielen Tageszeitungen aufgegriffen wurde. Im Beitrag kommentiert Albrecht Müller Passagen dieser Meldung, wie sie bei Spiegel Online veröffentlicht wurde. Die Kommentare führen vor Augen, wie sorgfältig solche Meldungen zu lesen sind. Dass Statistiken nicht als solche aufschlussreiche Ergebnisse liefern, sondern diese Ergebnisse im Lichte von Datengewinnung und Datenqualität erst gedeutet werden müssen, sei erwähnt. Siehe auch das Buch „Lügen mit Zahlen“ von Gerd Bosbach und Jürgen Korff, hier ein Interview zur Veröffentlichung. Siehe auch „Demographische Entwicklung – kein Anlass zur Panik“

Würde haben oder erhalten?

In einem Interview mit der taz äußert sich die Spitzenkandidatin der Linkspartei in Bremen, Kristina Vogt, zum bedingungslosen Grundeinkommen. Diese Ausführungen sind nicht weiter erwähnenswert, fallen sie doch weit hinter den Stand der Diskussion zurück (siehe z.B. unseren Beitrag zum Mindestlohn). Tief blicken lässt hingegen eine beinahe nebensächliche Bemerkung, an der aufscheint, weshalb es der Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens so schwer hat. Lesen Sie selbst:

„Ich finde, dass man den Menschen ihre Würde geben muss, Hartz IV ist entwürdigend, das geht gar nicht“.

Das klingt auf den ersten Blick vielleicht fürsorglich, gemeinwohlorientiert, mit Sinn für die Schwachen und Armen. Schauen wir genauer hin, zeigt sich hingegen etwas anderes. Die Äußerung weist auf eine grundsätzliche Frage politischer Ordnung, auf die Frage danach, wie das Verhältnis von Individuum und Gemeinwesen gedeutet wird. Weshalb?

Entweder hat der Mensch per se eine Würde. Dann kann ein Gemeinwesen nur eines tun: eine Ordnung gestalten, die diese vorstaatlich begründete Würde achtet und zur Geltung kommen lässt. Die Würde erhält der Mensch nicht durch das Gemeinwesen, sie geht ihm voran. Wird sie verletzt, muss das Gemeinwesen gegen die Verletzung vorgehen. Dass die Frage, was die Würde auszeichnet, nicht ein für allemal beantwortet werden kann, ist klar. Mit dem Wandel des Verständnisses davon, was die Würde auszeichnet, ist auch eine Umgestaltung der politischen Ordnung notwendig. In einer Demokratie kann darüber nur die öffentliche Auseinandersetzung im Meinungsstreit nach geltenden Verfahren befinden.

Oder die Würde erhält der Mensch vom Gemeinwesen, so stellt sich das Frau Vogt offenbar vor. Dann ist er ohne das Gemeinwesen würdelos, er ist ein Nichts. Es ist nicht übertrieben, diese Vorstellung als totalitär zu bezeichnen, denn das Individuum hier nichts Eigenständiges.

An dieser Unterscheidung bilden sich zwei radikal entgegengesetzte Vorstellungen von politischer Ordnung. In ersterer muss das Verhältnis von Individuum und Gemeinwesen stets so austariert werden, dass es beiden gerecht wird. In zweiterer ist das Individuum vollkomman abhängig vom Gemeinwesen, es ist nichts Eigenständiges, hat keine Geltung über das Gemeinwesen hinaus.

Wer sich ein wenig mit der Grundeinkommensdiskussion befasst hat, wird schnell bemerkt haben, dass diese bevormundende, den Einzelnen entmündigende Haltung weiter verbreitet ist, als uns lieb sein kann. Sie findet sich in allen politischen Lagern gleichermaßen, es ist ein strukturelles Phänomen, auch wenn die Inhalte, mit denen es auftritt sehr verschieden sind. Die einen artikulieren diese Entmündigung offen, die anderen im Mantel der Fürsorglichkeit, dem Misstrauen in das bürgerliche Subjekt usw. – siehe z.B. Christoph Butterwegge und Klaus Dörre,
Gerhard Bosch, Nachdenkseiten und Frigga Haug.

Diese Tendenz, das Gegenüber zu entmündigen, ist das größte Hemmnis auf dem Weg zum Grundeinkommen. Um so mehr kann einen das erstaunen, als diese Denkhaltung unserer politischen Ordnung weit hinterherhinkt. Sie ist viel freiheitlicher und setzt selbstverständlich auf mündige Bürger – das scheinen wir aber nicht wahrhaben zu wollen.

Sascha Liebermann

Nachdenkseiten. – Werthaltung die zweite

Macht es Sinn, eine Idee zum Dauerthema zu machen, wenn sie nie realisiert werden wird?“ – fragt Albrecht Müller in der Überschrift seiner Antwort auf Kritik an seinen Auslassungen zum Grundeinkommen, die wir und andere kürzlich vorgebracht haben. Die Kritik ist also gehört worden, die Antwort bietet die Chance einer Klärung.

Zuerst sei ein Blick auf die Überschrift der Antwort geworfen. Woher weiß Albrecht Müller, dass das Grundeinkommen nie realisiert werden wird? Er spricht nicht davon, dass er geringe Chancen sehe oder dass es unwahrscheinlich sei, nein, es wird nicht realisiert, das steht für ihn fest. Diese Gewissheit kann niemand haben, denn wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Hat die Gewissheit allerdings ihren Grund in einer inneren Realität, in einem Nicht-haben-wollen, dann leuchtet die Haltung ein. Albrecht Müller will das bGE nicht, warum spricht er es dann nicht gleich aus. Hier sehen wir schon eine erste Bestätigung für die Vermutung, dass nicht Argumente entscheidend sind, sondern eine Werthaltung, die sich Gründe sucht. Unsere politische Ordnung hingegen bietet keinen Anlass, das bGE für eine weltfremde oder unrealistische Idee zu halten. Wir leben heute schon auf den Voraussetzungen, die das Grundeinkommen benötigt. Es will sie nicht beseitigen, sondern stärken – es sind die Voraussetzungen der Demokratie. Deswegen ist es nicht an den Haaren herbeigezogen zu sagen, das Menschenbild des Grundeinkommens ist dasjenige unserer Demokratie. Dass über die Ausgestaltung unserer Demokratie immer wieder nachgedacht und gestritten werden muss, gehört dazu, der Grund dafür ist die stetig neue Suche nach Kompromissen, die alle zu tragen bereit sind.

Weiter heißt es:

„…Ich habe auch bisher schon mehrmals erklärt, dass ich es durchaus verstehe, wenn sich Menschen, denen es wirtschaftlich schlecht geht und die in totaler Unsicherheit leben, an eine solche Idee wie das bedingungslose Grundeinkommen klammern.“

Albrecht Müller ist mit der Diskussion keineswegs vertraut. Es sind eben nicht überwiegend Menschen, denen es wirtschaftlich schlecht geht, die sich für das bGE einsetzen, wie ein näherer Blick auf die intensive Diskussion schnell gezeigt hätte. Interessanter noch aber ist eine zweite Aussage, die er hier trifft. Müller spricht den Befürwortern ab, gute und tragfähige Argumente für das Grundeinkommen zu haben und kanzelt sie als Verzweifelte ab, die in der Not nach dem nächsten rettenden Strohhalm greifen. Sie sind, das soll wohl auch die Botschaft sein, leicht verführbar. Elitär und hochnäsig kann man diese Haltung getrost nennen.

Wie geht es weiter:

„Aber diejenigen, die als Politiker/innen oder Wohlsituierte diese Idee seit Jahren propagieren, müssten wissen, dass sie damit bodenlose Hoffnungen machen. Denn die Idee hat so viele Schwächen, dass sie nie realisiert werden wird. (Über die Schwächen haben wir übrigens schon ausführlich berichtet – siehe hier). Es erhebt sich deshalb hier wie bei anderen Themen auch die Frage, ob es Sinn macht, Ideen zu einem politischen und gesellschaftlichen Dauerthema zu machen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nie umgesetzt werden.“

Ein Blick in die Beiträge, die die vermeintlichen Schwächen aufzeigen, reicht aus, um zu erkennen, wie wählerisch Gründe gegen das bGE gesucht werden. Da wird Christoph Butterwegge zitiert, auf dessen erstaunlich undemokratische Haltung in seiner Argumentation wir kürzlich wieder hingewiesen haben. Im Mantel der Fürsorge plädiert er für im wesentlichen für eine Erneuerung des alten bevormundenden Sozialstaats. Die größter Gefahr sieht er darin, dass Bürger durch den bGE-Vorschlag zu etwas verführt werden könnten, das sie gar nicht haben wollten. Des weiteren wird vor allem das Althaus-Modell angegriffen, auf dessen Schwächen die bGE-Befürworter selbst schon wiederholt hingewiesen haben (siehe auch unseren Brief an die Nachdenkseiten). Die üblichen Einwände gegen den Konsumsteuervorschlag werden vorgebracht und an der Illusion einer angeblich paritätisch finanzierten Sozialversicherung festgehalten, als seien Bruttokosten eines Unternehmens, also auch alle Aufwendungen für einen Arbeitnehmer nicht auf bloß einem einzigen Weg zu decken: über den Absatz. Folglich tragen eben die Verbraucher auch die paritätische Sozialversicherung. Das alles könnte auch Albrecht Müller sehen, wenn er sich denn mit den Argumenten für ein bGE und der Kritik am Bestehenden, die Befürworter vorbringen, auseinandergesetzt hätte.

Die Befürworter, so Albrecht Müller, müssten einige Fragen (nachfolgend fett gesetzt) beantworten können, wenn das bGE ernst genommen werden soll. Welche sind das?

„Ist die Idee irgendwann realisierbar? Wann?“
Wenn es dafür eine Mehrheit gibt, das gilt für alle politischen Vorhaben, dann ist sie auch realisierbar.
An Argumenten dafür, welche Veränderungen ein bGE mit sich brächte und wie es sich auf bestehende Leistungen des Sozialstaats auswirken könnte, mangelt es nicht. Hier sei auf wenige Beispiele aus unserem Blog verwiesen: Kunst und Wissenschaft, Familie, Leiharbeit, Mindestlohn (hier und hier), Bevormundung durch Fürsorge, Bildung, Demokratie, strukturschwache Regionen.

„Wie steht es um die Finanzierbarkeit wirklich? Auch unter Beachtung der Reaktionen im Verhalten der Menschen? Welche Folgen für das Verhalten der Menschen haben die verschiedenen Finanzierungsvorschläge?“
Hierzu gibt es verschieden Studien, unter anderem von Helmut Pelzer und Ute Fischer, aber auch zum Vorschlag von Dieter Althaus und weiteren. Die Frage bleibt eine politische, welches Grundeinkommen man will, ein wirklich freiheitsförderndes oder ein Sparmodell, davon hängt ab, welche Aufwendungen zu bestreiten sind. Grundlegender jedoch als die Frage der Finanzierungsrechnung (Anmerkungen zur Problematik des Berechnens) ist, wie Albrecht Müller zurecht hervorhebt, die danach, weshalb Menschen wie handeln, was letztlich darauf hinausläuft zu verstehen, warum die Bürger sich überhaupt einbringen wollen. Auch dazu gibt es genügend Darlegungen, siehe z.B. hier.
Auch könnte auf wissenschaftliche Untersuchungen zurückgegriffen werden, um Möglichkeiten und Folgen eines bGEs auszuloten, aber wie es sich für die Wissenchaft gehört, wird dort über Ergebnisse und Erklärungen gestritten. Vorliegende Erkenntnisse beantworten auch die normative Frage nicht, was wir denn wollen. Von daher ist eine verbindliche Antwort zum bGE nicht aus der Wissenschaft zu beziehen, es handelt sich vielmehr um eine genuin politische Entscheidung, es geht darum, ob wir es wollen. Manche mutmaßen deswegen, dieses Plädoyer laufe auf ein riskantes Unterfangen hinaus, auf ein Abenteuer, dessen Ausgang wir nicht kennen und deswegen sei es abzulehnen. Nun, zum einen gilt für jede Entscheidung, dass wir um ihren Ausgang nicht wissen. Wir hoffen das Beste, sind vom Gelingen eines Vorhabens überzeugt usw. – wie es ausgehen wird, wissen wir aber niemals (siehe auch „Die Ungewissheit der Zukunft“). Was bleibt? Ein Blich auf die Grundlagen unseres gegenwärtigen Zusammenlebens, also auf die Grundlagen der Demokratie.

Einfacher zu beantworten ist diese Frage, wenn wir uns die Grundlagen der Demokratie vor vor Augen führen, dann wissen wir, was zählt. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus und sind darauf angewiesen, dass die Bürger sich einbringen. Eines der frappierendesten Phänomene der öffentlichen Diskussion ist, wie sehr auf der einen Seite diese Bereitschaft stets gefordert wird, auf der anderen aber, wie wenig ernst das tatsächliche Engagement genommen wird, ganz gleich von welcher Seite. Wir haben dies einmal zum Anlass genommen, Neoliberale und Verteidiger des alten Sozialstaats als Brüder im Geiste zu bezeichnen.

„Lässt sich die Idee in einem System realisieren, das von Wettbewerb und marktwirtschaftlichen Elementen geprägt ist?“
Mühe hat man hier, die Frage zu verstehen. Es muss ja unser System gemeint sein, zweifelt die Frage etwa am Vorrang des Politischen, sofern er gewollt ist? Haben wir nicht – bei aller Kritik am Bestehenden – auch heute Leistungen, die überhaupt nicht nach dem Marktprinzip erfolgen (z.B. öffentlicher Dienst, Sozialleistungen)? Und ist, zuletzt noch, die Demokratie nicht als solche etwas vollkommen Marktfernes in ihren Geltungsprinzipien? Es geht also nicht um eine Systemfrage, die sich mit dem Grundeinkommen stellt, sondern darum wie ernst wir es mit der Demokratie und der Stärkung der Bürger meinen. Es handelt sich um eine systemimmanente Frage.
Ähnlich wie Albrecht Müller argumentiert auch Spiegelfechter, in einer Replik auf den Beitrag „Schafft die Arbeitslosenversicherung ab!“ von Frank Thomas .

Wird die Idee zur politischen Profilierung genutzt? Beim früheren Ministerpräsidenten von Thüringen, Althaus, war dies deutlich erkennbar. Die Idee diente dem Aufbau eines sozialen Images unabhängig von der realen Politik dieses Politikers.
Also, was hat das mit dem bGE zu tun? Solange die Profilierung damit einhergeht, dass Umgestaltungen auf den Weg gebracht werden, die zu einem radikalen bGE führen, spielt das keine Rolle. Wo das nicht geschieht, ist für jeden sichtbar, ob jemand nur sein Image pflegen oder tatsächlich verändern will. Die Glaubwürdigkeit steht dann auf dem Spiel – so wie für die Nachdenkseiten, wenn sie Werthaltungen hinter Argumenten verstecken, statt sie offen zu benennen.

Was könnten die Motive des Chefs der Drogeriekette DM, Götz Werner, sein? Meines Erachtens sind es in diesem Fall lautere Motive und dennoch muss er sich die Frage gefallen lassen, ob sein Dauerthema nicht inzwischen die Funktion von Spielmaterial hat.
Auch diese Frage ist nicht so einfach zu verstehen. Soll damit gesagt sein, dass das bGE missbraucht werden kann für andere, unlautere Absichten? Wenn das gemeint ist, ist die Frage banal, denn Missbrauch ist mit jeder Idee möglich, wo er beabsichtigt ist. Weil also Ideen missbraucht werden können, sollte man sie erst gar nicht verfolgen? Das endete in Selbstblockade, man bliebe in der Gegenwart stecken. Soll das ein ernst gemeinter Einwand sein? Streiten die Nachdenkseiten nicht gerade gegen dieselben „Missbräuche“ und halten ihr Vorhaben keinesfalls für abwegig?

Woran liegt es, dass sich bisher keine der Parteien das Thema zum Bestandteil ihres Programms erkoren hat? Liegt das nur an unseren Parteien und ihrer angeblichen Ideenlosigkeit? Das glaube ich nicht. Es hat viel mit der Unausgegorenheit der Idee zu tun.
Die maßgebliche Antwort hierfür findet sich in der Idolatrie der Erwerbsarbeit, die nun gerade in den letzten zehn Jahren die politische Debatte besonders deutlich geprägt hat. Gepaart mit dem gewaltigen Misstrauen (wider alle Lebenswirklichkeiten) in die Bereitschaft des Einzelnen, sich einzubringen, bilden sie – Idolatrie und Misstrauen – die wahren Hindernisse für eine andere Politik. Schon die früheren Einwände von Albrecht Müller (Replik darauf von Sascha Liebermann) und Heiner Flassbeck gegen das Grundeinkommen bestätigen, welche geringe Bedeutung es für sie hat, die Freiräume der Bürger zu erweitern. Auch sie predigen das Erwerbs- bzw. Beschäftigungsmantra. Von einer Ideenlosigkeit der Politiker im Sinne einer Orientierungslosigkeit kann man sehr wohl sprechen. Das Festhalten an einst bewährten Wegen hat zu dem geführt, wo wir heute stehen. Unsere heutige Lage rührt nicht vor allem vom Verlassen bewährter Wege, sondern vom Festhalten an Zielen, die mit diesen Wegen verbunden, die aber nicht mehr unseren Lebensmöglichkeiten gemäß sind. Statt Erwerbsarbeit vom Sockel zu holen ist sie in den letzten Jahren um so mehr zum höchsten Ziel erklärt worden. Obwohl unser Wohlstand volkswirtschaftlich gewaltig ist, soll die Erwerbsquote erhöht werden. Wo also mehr Freiräume möglich wären, wird um so strikter an Erwerbsarbeit festgehalten. Die Orientierungslosigkeit ist eine Verunsicherung, die der Lösung harrt. Solange es also ein jenseits der Erwerbsidolatrie normativ nicht geben darf, kommt ein Grundeinkommen als Alternative auch nicht in Frage. So einfach ist die Antwort, mit der Unausgegorenheit der Idee hat sie gar nichts zu tun, sondern mit den Werthaltungen, die vorherrschen. Sie sind auch viel bedeutsamer als irgendwelche Ideologien, seien sie neoliberal oder sonst etwas.

„Transportiert die Debatte wenigstens Ideen und Ziele, die helfen könnten, anderes Wichtiges zu erreichen? Hier bin ich sehr skeptisch. Denn die Agitation für das Grundeinkommen lenkt ab von der notwendigen politischen Arbeit für eine Beschäftigungspolitik, die der Mehrheit der Menschen Arbeitsplätze und Alternativen schafft…“
Zu betonen ist hier wohl „Arbeitsplätze“, nicht aber „Alternativen“. Konsequent wird von „Beschäftigungspolitik“ (Erwerbsarbeit) gesprochen, wo das bGE diese Frage ganz anders stellt: es fragt nach Möglichkeiten und Freiräumen dafür, dem nachzugehen, was man für wichtig und richtig erachtet, ganz gleich, ob es sich um Erwerbsarbeit handelt oder nicht. Diese Perspektive scheint den Nachdenkseiten vollkommen fremd, da nimmt es auch nicht Wunder, dass das bGE in seiner Tragweite nicht interessiert.

Folgerichtig geht der vorangehende Absatz weiter:

„Deutlich erkennt man das beim Öffnen einer Seite, die mir zu lesen gestern als Reaktion auf meinen Beitrag empfohlen worden ist. Dort wird “Freiheit statt Vollbeschäftigung” propagiert. An diesem Titel wird schon sichtbar, dass hier eine Alternative zur Beschäftigungspolitik gesehen wird. Diese sehe ich nicht. Im Gegenteil: Menschen Beschäftigung zu schaffen und alternative Arbeitsplätze zu schaffen ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sie zu Zumutungen der Leiharbeit, der Niedriglöhne und der Minijobs Nein sagen können…“
Sehen wir einmal ab, wie das gelingen soll, was hier vorgeschlagen wird. Sicher, „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ streitet für eine Alternative zur Beschäftigungspolitik, die stets nur Erwerbsarbeit vor Augen hat. Wir streiten für eine weitreichende Alternative zur Erwerbsidolatrie, ohne aber den Leistungsgedanken aufzugeben, auch wenn wir ihn umdeuten. Den Nachdenkseiten hingegen geht es nur um Variationen der Erwerbszentrierung.
Wundern kann einen, dass nicht gesehen wird, welch ein Segen gerade ein bGE für die Arbeitswelt wäre. Es erlaubte Arbeitsbedingungen mit zu definieren, ohne auf sie angewiesen zu sein und sie im Zweifelsfall abzulehnen bei gleichzeitiger Absicherung. „Niedriglöhne“ (siehe eine Anmerkung zu Mindestlöhnen) hätten eine andere Bedeutung als heute, wenn die Freiheit bestünde, „Nein“ sagen zu können. Hinzukommt, was heute als Niedriglohn ein Problem darstellt, auf der Basis der Grundeinkommens keines mehr sein müsste, wegen des Grundeinkommens. Auch hier gilt: es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Weiter heißt es:
„…Die Debatte um das Grundeinkommen könnte eine gute Vorbereitung auf eine Gesellschaft ohne Erwerbsarbeit sein. Wenn man dies für möglich hält, wenn man das Ende der Arbeit für möglich hält und propagiert, dann ist auch die Debatte um das Grundeinkommen sinnvoll. Aber an diese Perspektive glaube ich nicht.“
Auf unserer Website hat Herr Müller das sicher nicht gelesen, auch beim von ihm erwähnten Götz W. Werner nicht, denn von einer Gesellschaft ohne Erwerbsarbeit ist nirgendwo die Rede – von einem anderen Arbeitsbegriff sehr wohl. Zwar hantieren auch bGE-Befürworter mit der These vom Ende der Vollbeschäftigung oder dem Ende der Arbeit, doch lässt sich dies auch anders deuten: als Einsicht in ein stetig sinkendes Arbeitsvolumen bei steigender volkswirtschaftlicher Leistung. Erwerbsarbeit abschaffen, wollen die bGE-Befürworter unseres Wissens nicht, ihr den angemessen Platz zuweisen schon. Albrecht Müller baut sich hier einen Pappkameraden auf und argumentiert ganz wie es üblich ist, um das bGE loszuwerden.

Schlussendlich bleibt ein Fazit: Der Gedanke, dass ein bGE eine Anerkennung der Person in Absehung von ihrer Leistung ausspricht, damit also urdemokratisch ist, denn es richtet sich an den Souverän als Souverän; dass es Freiräume gerade für dasjenige Engagement schafft, das wir heute sträflich missachten, das Ehrenamt; dass es eine wirklich brauchbare Förderung von Familie ermöglicht, ohne dirigistisch zu sein wie das Elterngeld und endlich mit der Ideologie der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ bricht, die treffender heißen sollte „Vom doppelten Verzicht“; dass Eltern für ihre Kinder zuhause bleiben könnten, solange sie es wollten – all das wird keines Blickes gewürdigt und bestätigt nur, was in meinem ersten Beitrag die Feder führte: Herauszustellen, wie sehr Werthaltungen Denkmöglichkeiten bestimmen und wie wenig ein bGE als Möglichkeit in Betracht gezogen werden kann, wenn es überkommene Werthaltungen – wie die Vorrangstellung der Erwerbsarbeit – in Frage stellt. Genau deswegen ist auch im neuen Jahr die Diskussion darum so wichtig, wie wir leben wollen und welche Chancen ein bGE bietet. Beharrlich für es zu werben und geduldig sich mit den Einwänden auseinanderzusetzen sind das A und O. Es bedarf keiner Jünger und Jasager, sondern mündige Bürger.

Sascha Liebermann