„Bedingungslose Grundsicherung“, ja; „Bedingungsloses Grundeinkommen“, nein – Widersprüchliches von Anna Mayr

…findet sich in einem Interview, das Benjamin Fuchs für Perspective Daily mit ihr führte. Zum ersten Mal liegen meines Wissens etwas ausführlichere Aussagen Anna Mayrs zum BGE vor. Doch wie steht es mit ihrer Kritik am Bedingungslosen Grundeinkommen, worin besteht sie? Ich kommentiere sie hier, da Frau Mayr viele interessante Schilderungen über den Blick auf und den Umgang mit Menschen schildert (so auch zur abschätzigen Bemerkung von Richard David Precht), die in Armut leben, von dort aus läge es nahe, sich zu fragen, wie deren Lage verbessert werden könnte. So verstehen sich auch ihre Vorschläge am Ende des Interviews, wie eine „bedingungslose Grundsicherung“ aussehen könnte, die irgendwie ganz nah an einem BGE ist, das sie aber gerade nicht haben will. Wo ist der Haken?

„[Fuchs]Was mich überrascht hat: Du findest das bedingungslose Grundeinkommen überhaupt nicht gut. Es gibt nicht viele, die sich offen und klar gegen das BGE aussprechen. Warum findest du, dass es keine gute Lösung ist?“

Dass es nicht viele gebe, die sich offen gegen ein BGE aussprechen, ist ein Gerücht, der Interviewer scheint das Thema gerade für sich entdeckt zu haben. Aber, darum soll es hier ja nicht gehen.

„Anna Mayr: Weil ich Arbeitnehmerrechte liebe. Ich finde Arbeitnehmerrechte richtig geil. Mir geht das Herz auf, wenn ich über Arbeitnehmerrechte nachdenke. Und das bedingungslose Grundeinkommen ist genau das Gegenteil, das ist die absolute Individualisierung von allem. Hier sind deine 1.200 Euro und jetzt Ruhe. Es ist auch eine Individualisierung von Risiken. Also alles, was zum Beispiel mit Elternzeit oder Krankheit zusammenhängt: Es wird alles am Ende darauf zurückgeführt, dass es ja ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt. Die Probleme, die es schafft, sind noch gar nicht absehbar. Nebenbei führt es dazu, dass die Debatte um Gerechtigkeit komplett stillgelegt wird, weil die gesamte politische Linke sich so einen Stern am Horizont gesucht hat, auf den sie jetzt zustrebt. Aber wir haben die Raketen überhaupt nicht, die uns dahin bringen. Unter jedem Tweet über Gerechtigkeit finden sich immer 2, 3 Leute, die schreiben »BGE! BGE!« und ich denke dann: Das ist eure einzige politische Position? So funktioniert Politik halt nicht.“

Hier kommt die erste Überraschung – oder vielleicht doch nicht -, denn dieser Einwand ist unter dem Schlagwort der Stilllegungsprämie hinlänglich bekannt. Zuerst einmal stehen „Arbeitnehmerrechte“ und BGE überhaupt nicht gegeneinander, das ist ein Popanz. Allerdings schützen Arbeitnehmerrechte zuerst einmal Arbeitnehmer und nicht die Bürger als Bürger. Schon gar nicht ist ein BGE „das Gegenteil“ von Arbeitnehmerrechten. Frau Mayr kann, wie andere auch, die Sorge haben, dass sich die Bürger damit abspeisen lassen, doch läge das nicht am BGE, sondern an einem Untertanenverhältnis zur Demokratie, einem Selbstmissverständnis der Bürger, die ihre Interessen nicht wahrnähmen. Sonst präsentiert sie hier weitgehend Halbgares.

Mit Individualisierung ist wohl gerade gemeint, dass ein BGE den Einzelnen dann allein lasse und die Gemeinschaft keine weiteren Aufgaben übernehme. Das klingt ganz nach Christoph Butterwege, nicht aber nach BGE, denn es ist ja gerade eine Gemeinschaftsleistung, wie die Individualrechte in einer Demokratie nur deswegen existieren, weil das Gemeinwesen sich zu ihnen bekennt. Mayr wirft in einen Topf, was vielleicht manche mit einem BGE gerne erreichen würden – eine Art Abspeisung – und was es leisten kann, doch auch hier hat das BGE damit nichts zu tun. In der Tat verändert es die Elternzeit, denn als Einkommen pro Person in ausreichender Höhe hätten Eltern tatsächlich die Möglichkeiten, frei vom Erwerbsgebot sich der Aufgabe Elternschaft zu stellen. Das ist heute nicht möglich, weil das Elterngeld eine Erwerbstätigenprämie ist. Wenn es darum geht, Alternativen zu diskutieren, dann ist ein BGE diejenige, die am weitesten reicht – und dafür gibt es gute Argumente, die nicht, wie Mayrs Ausführungen in diesem Abschnitt, Behauptungen sind. Was dann im Willensbildungsprozess aus dem BGE wird, ist eine davon unabhängige Frage, da werden dann Kompromisse zählen. Zuerst einmal muss aber klar werden, von welchen Positionen aus, ein Kompromiss gesucht werden soll.

Der Interviewer fragt nach:

„Warum nicht?
Anna Mayr: Politik ist Kompromissbereitschaft. Politik ist es, sich über Sachen zu verständigen und zu verstehen, welche Interessen wo liegen. Und dann zu versuchen, möglichst wenig Leid in der Welt zu erzeugen und trotzdem alle Interessen irgendwie zu wahren. Das BGE ist genau das Gegenteil. Es ist die Idee davon, dass alle Probleme auf einmal gelöst werden, wenn wir nur diese eine Sache machen. Ich finde auch Kapitalismus nicht schön. Aber wir haben ihn jetzt und ich spüre einfach diesen massiven Leidensdruck von ganz vielen Menschen da draußen, die diese 1.200 Euro wirklich bräuchten. Ich brauche sie nicht. Die, die sie brauchen, werden jetzt aber still gehalten durch eine BGE-Debatte, die wir noch 20 Jahre führen können. Wir führen auch die Debatte über Kinderarmut seit 15 Jahren. Nichts ist passiert. Dann werden wir nicht übermorgen ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Ich glaube, dieser Realismus fehlt vielen, und das finde ich schade, denn wenn wir Realismus aufgeben und nur noch nach den Sternen greifen, dann führt das am Ende dazu, dass wir nichts verändern außer das eigene Gewissen. Schade.“

Wer behauptet, dass ein BGE alle Probleme auf einmal lösen würde? Wo erkundigt sich Frau Mayr, fragt man sich hier? Wie immer in solchen Diskussionen gibt es natürlich auch unerfüllbare Hoffnungen und Erwartungen, die manche mit einem BGE verbinden, das liegt doch nicht an ihm selbst. Die öffentliche Diskussion ist mittlerweile ziemlich differenziert und es ist um so erstaunlicher, wie holzschnittartig hier darauf eingegangen wird. Dass der Einwand vorgebracht wird, nicht alle bräuchten ein BGE, zeigt, wie wenig sich die Ablehnung auf eine gründliche Auseinandersetzung stützt, Stichwort Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, den „brauchen“ viele nicht, seine Gewährung orientiert sich aber gar nicht daran, ob er von der konkreten Person gebraucht wird, sondern an der Sicherung des Existenzminimums in dieser besonderen Form. Den Befürwortern vorzuwerfen, nach den Sternen zu greifen, damit die Einführung auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben, ist derselbe Einwand, demgemäß stets für „Realpolitik“ plädiert wird. Allerdings, historisch betrachtet, würde es weder die Demokratie noch den Sozialstaat geben, hätte man sich am Naheliegendsten orientiert. Dass viele nicht sehen wollen, wie sehr der bestehende Sozialstaat im Widerspruch zu unserer Demokratie steht, folgt daraus nun, den Widerspruch aufrechtzuerhalten oder ihn aufzuzeigen und Alternativen vorzuschlagen? Vielleicht hilft es an dieser Stelle an Max Weber zu erinnern, der schon wusste, wie langwierig Veränderungsprozesse politischer Art sind:

„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Es ist ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre“ (Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, S. 450).

Der Interviewer fragt weiter nach:

„Kann ein BGE, das allen zusteht, aber nicht vielleicht die Gesellschaft, die jetzt stark auf Konkurrenz basiert und die Armen gegeneinander ausspielt, kooperativer und freier machen? Jede:r wüsste dann: Wir nehmen uns nicht gegenseitig etwas weg.
Anna Mayr: Es kann ja auch jetzt schon jeder Grundsicherung, also Hartz IV haben. Ich glaube, dass alle diese positiven Effekte, die ideologisch aus einem bedingungslosen Grundeinkommen entstehen würden, genauso aus einer besseren Sozialhilfe, einem besseren Arbeitslosengeld, einer besseren Rentenversicherung entstehen würden. Also lasst uns einfach kurz dafür sorgen, dass keiner mehr in Armut lebt. Und dann habt ihr alle die Effekte des bedingungslosen Grundeinkommens. Ich glaube wirklich, dass gruppenbezogene und dann individuell angepasste Sozialleistungen viel, viel besser sind, als alle über einen Kamm zu scheren. Gerade dieser oft genannte Effekt des BGE, dass Menschen sich nicht mehr dafür schämen müssen, nicht zu arbeiten – der entsteht auch, wenn wir sagen, Hartz IV ist sanktionsfrei und Hartz IV sind 1.000 Euro im Monat. Wenn niemand wegen Hartz IV direkt aus seiner Wohnung ausziehen muss. Wenn niemand offenlegen muss, welche Ersparnisse er hat, sondern: Wenn du arbeitslos wirst, dann kriegst du das.“

Das angesprochene Konkurrenzphänomen gilt ja nicht auf der Ebene der politischen Grundordnung, hier greift die Frage zu kurz. Wie antwortet Frau Mayr? Lakonisch geht sie über die Eigenheiten von Hartz IV hinweg, nennt die Hürden der Beantragung nicht, das Phänomen verdeckter Armut und Stigmatisierung. Hatte sie nicht genau den Umgang mit armen Bürgern kritisiert? Sie glaubt daran, innerhalb des bestehenden Gefüges dasselbe wie mit einem BGE erreichen zu können, was nur denkbar ist, wenn die strukturelle Erwerbsverpflichtung übergangen oder ignoriert wird. Sie reproduziert denselben blinden Fleck, der bei Befürwortern einer repressionsfreien Grundsicherung zu finden ist, die nicht sehen wollen, dass selbst der Verzicht auf Sanktionen das Erwerbsgebot und seine Folgen nicht aufhebt, allenfalls mildert. Offenbar ist Frau Mayr nicht bekannt, dass sich BGE und bedarfsorientierte Leistungen nicht ausschließen, gerade ein BGE erst sie jedoch auf ein anderes Fundament als heute stellt. Auch scheint ihr das Problem der Zielungenauigkeit nicht bekannt zu sein. Interessant ist der Schlusssatz: Was erhält derjenige, der nicht erwerbstätig war und deswegen nicht arbeitslos werden kann? Plädiert sie für so etwas wie die Garantiesicherung, die bei den Grünen diskutiert wird?

Sie führt weiter aus:

„Und für alle diese Leute, die jetzt schon in Hartz IV leben, für all die Aufstocker, könnten wir uns das längst leisten. Das könnten wir einfach machen. Aber weil wir es jetzt für alle haben wollen – keine Ahnung, warum wir das wollen, ehrlich gesagt –, deswegen kommt es nicht voran.“

Hier kann man nur staunen, der Blick auf die Verhältnisse scheint doch unbedarft. Sie sieht gar nicht, dass die unerbittliche Vorstellung, es gebe „kein Geld für Nichtstun“, wie es oft heißt, die eigentliche Barriere ist, an ihr rüttelt das BGE. Mayr bemerkt nicht, dass sie im Grunde für ein BGE plädiert, weil sie den Grundfreibetrag in seiner Bedeutung nicht wahrnimmt, zumindest hier, an späterer Stelle taucht er dann auf. Ist der Haken vielleicht nur, dass sie an der Erwerbsverpflichtung festhalten will und nur dann eine Absicherung vorsieht, wenn jemand erwerbsbereit ist, jedoch nichts finden kann?

„Das heißt, das, was dir eigentlich vorschwebt, ist so eine Art bedingungslose Grundsicherung.
Anna Mayr: Ja.“

Das ist konsequent, nur ist sie eben nicht bedingungslos, wenn Erwerbslosigkeit die Bezugsbedingung ist.

Abschließend kommt sie auf ihren Vorschlag zu sprechen:

„Du schlägst in deinem Buch 764 Euro Grundsicherung vor. Zum Vergleich: Der Hartz-IV-Satz liegt ab 2021 bei 432 Euro. Wie kommst du auf die 764 Euro?
Anna Mayr: Eigentlich hab ich versucht, mich realpolitisch an dem entlangzuhangeln, was schon da war. Es gab schon einmal den Vorschlag einer Kommission, die Arbeitslosengeldsätze an den Steuerfreibeträgen zu orientieren. Ich finde den Gedanken eigentlich sinnvoll, weil die Steuerfreibeträge das sind, was Menschen mindestens zum Leben brauchen, weshalb man es ihnen nicht wegnimmt. Dass Menschen von weniger leben, ist eigentlich verrückt…“

Also greift sie genau das auf, woran auch BGE-Befürworter häufig erinnern, dass nämlich Grundfreibeträge das Existenzminimum absichern sollen. Wo liegt nun die Schwelle zum BGE? Das wird nicht recht klar in dem Gespräch, denn ihre Einwände treffen ein BGE gar nicht und dort, wo sie es treffen könnten, gelten sie für ihren eigenen Vorschlag auch.

Schließlich:

„…Den Steuerfreibetrag habe ich einfach durch 12 geteilt. Ich fordere das allerdings für eine Welt, in der es auch einen Mietpreisdeckel und einen Mindestlohn von 12 Euro gibt. Es war mir lieber, etwas zu fordern, was nicht nach Reichtum klingt. Also nicht zu sagen, jeder Mensch sollte 1.000 Euro bekommen. Sondern eine Summe, die niedrig ist. 764 Euro sind wenig Geld, liegen aber immer noch so sehr über dem Hartz-IV-Satz, dass es Menschen trotzdem schockiert. Und das ist das Verrückte. Beim Steuerfreibetrag wird gesagt: Das ist viel zu wenig. Und bei Hartz IV heißt es: Das ist aber viel zu viel, wie willst du das denn machen?

„Wäre dein Betrag an Bedingungen geknüpft oder bekommt man ihn einfach?
Anna Mayr: Man bekommt ihn.“

Sie will also einen Vorschlag machen, der Akzeptanz finden kann, macht aber dieselbe Erfahrung, die in der BGE-Diskussion immer gemacht wird. Die Frage wäre, ob die eigentliche Hürde gar nicht in der Höhe, sondern am Prinzip liegt. Hier unterscheidet sich ihr Vorschlag nicht vom BGE, denn am Ende sagt sie, er soll an keine Bedingungen geknüpft sein, zuvor aber hat sie eine Bedingung genannt: Erwerbslosigkeit, der Erwerbstätigkeit vorausgegangen sein muss – oder etwa doch nicht?

Sascha Liebermann