Vorrang von Erwerbstätigkeit – Abwertung von Familie
In den letzten Wochen habe ich mehrere Beiträge dazu verfasst („Die Debatte um das Betreuungsgeld als Symptom“, „Eltern als Störung“, „Familienvergessen – auch in der Schweiz ein Phänomen“), welche Vorstellungen von Familie die öffentliche Debatte prägen und welche Konsequenzen damit für das Gemeinwesen verbunden sind. Grund dafür war unter anderem das Phänomen, dass wir es mit einer in sich gegenläufigen Entwicklung in der Diskussion über Familie zu tun haben. Auf der einen Seite wird Erwerbstätigkeit von Eltern mehr denn je gewünscht, durch das Elterngeld auch prämiert, während Eltern, die sich dafür entscheiden zuhause zu bleiben, nicht nur Nachteile in Kauf nehmen (z.B. für die Rente). Öffentlich gelten sie als hinterwäldlerisch, traditional, rückwärtsgewandt, emanzipationsvergessen usw. Es gilt als selbstverständlich, nicht länger als unbedingt nötig, auf die Rückkehr in den Beruf zu verzichten. Das ist auch an den gewünschten Betreuungszeiten in Kindertagesstätten und -gärten abzulesen. Auf der anderen Seite wird aber nach wie vor Familie hochgehalten, ihre Bedeutung betont und ihre Förderung als wichtige Aufgabe herausgestellt. Dieses Bekenntnis zu Familie bleibt aber leer, wenn zugleich die Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit verstärkt wird (da ist auch UNICEF keine Ausnahme). Denn was anderes als eine Verstärkung dieses Vorrangs ist es, wenn Eltern früher denn je zurück in Erwerbstätigkeit drängen?
Auffällig ist an der Diskussion über Kindertagesstätten, dass es in der Regel nur um die direkten Auswirkungen auf Kinder geht ( „Wie stressig sind Krippen für die Kinder?“, „Wo bleiben die guten Krippen?“). Von den Folgen, die die Ausweitung der Betreuung auf das Familienleben, die Vorstellungen von Familie und das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern hat, wird wenig bis gar nicht gesprochen.
Richtet man seinen Blick auf Famlie als Ganzes, fällt ein anderer Mangel besonders auf: der an frei verfügbarer, offen gestaltbarer Zeit, die in der Familie verbracht wird. Grund für diesen Mangel ist nicht selten die große Identifizierung mit beruflichem Erfolg und das Empfinden, nur durch Erwerbstätigkeit Anerkennung zu erfahren – das gilt heute für Väter wie Mütter. Dem entspricht die Politik der letzten Jahre, die dem Wandel Ausdruck verliehen hat, der schon länger vor sich geht und dessen Zeichen Familienvergessenheit ist. Was heißt das konkret? Schon das Hineinfinden in die Elternposition, in die Aufgabe der Elternschaft, vor wie nach der Geburt eines Kindes ist durch die Fixierung auf Erwerbstätigkeit erschwert. Denn, um sich auf die Eigendynamik von Familie einlassen zu können, brauch es auch Zeit, Offenheit für das Neue und Unbekannte. Eltern zu sein ist mit Umbrüchen und Verunsicherungen verbunden – der Volksmund weiß das. Für Kinder verantwortlich zu sein, so könnte man zuspitzen, ist keine Routine, sondern dauerhafte Krise. Sie zuzulassen und durchzustehen erfordert Aufmerksamkeit – und zwar eine, die möglichst wenig abgelenkt ist durch anderes. Je mehr Ablenkung durch berufliches Engagement, desto schwerer ist es, sich einzulassen. Die Familienpolitik und Sozialpolitik hat hier keine Verbesserungen, sie hat Verschärfungen herbeigeführt. Was allerorten beklagt wird, das Fehlen von Betreuungsplätzen für Kinder, ist keine Lösung für diese Herausforderung. Erfolgt dieser Ausbau ohne zugleich die Möglichkeiten dafür zu verbessern, für die Kinder zuhause zu bleiben, wird der Vorrang von Erwerbstätigkeit weiter verstärkt. In Abwandlung eines sozialwissenschaftlich gebräuchlichen Schlagworts könnte man von der Beschäftigungsfalle sprechen.
Alle Parteien unterstützen diese Entwicklung, manche stärker – wie die Grünen, die Linke und die SPD – auch die Befürworter des Betreuungsgeldes, bedenkt man den lächerlichen Betrag, um den es geht. Politiker halten es für progressiv nach kurzer Auszeit für den gerade geborenen Nachwuchs wieder in ihr Amt zurückzukehren (z.B. hier und hier), sie leben noch vor, wie wunderbar Familie und Beruf vereinbar sein sollen – und kehren nach einer Auszeit von wenigen Monaten in ihr Amt zurück. Dabei geht es in der Frage, wie wollen wir Familien unterstützen, um eine von großer Bedeutung mit langfristigen Folgen.
Nicht nur hat dies Auswirkungen in der Gegenwart, sie reichen weit in die Zukunft, sofern diese Entwicklung anhält. Anlässlich eines Vortrags zum Grundeinkommen kam ich kürzlich darauf zu sprechen, wie sich diese Entwicklung wohl auf die Vorstellungen von Familie bei Kindern auswirken wird, und zwar nicht nur bei denjenigen, die früh betreut werden (also unter 3 Jahren), sondern auf alle. Denn Ganztagsbetreuung im Kindergarten nimmt ebenfalls zu, Ganztagsschule wird als wichtiges Ziel gehandelt. Nicht nur verwaisen Nachbarschaften tagsüber, wenn Kinder fern ihres unmittelbaren Lebensumfeldes betreut werden. Die Betreuung erschwert es auch, dass Kinder sich ihren nachbarschaftlichen Lebensraum geduldig erschließen können. Solche Erfahrungen freien, unbeaufsichtigten Herumtollens und Erkundens der unmittelbaren Umgebung ermöglichen zugleich Erfahrungen von Selbständigkeit. Dafür bräuchte es keine Frühförderprogramme – aber den Freiraum und Eltern, die ihn wahrnehmen. Solche Erfahrungen finden nicht in einem institutionell abgesteckten Rahmen statt (wie bei Kindertagesstätten und Ganztagsschulen unter ständiger Beaufsichtigung). Noch weiter reichen allerdings die Folgen für die Vorstellung von Familie. Wenn Kinder, so meine These im Vortrag, mehr Zeit in Einrichtungen verbringen als zuhause, wenn sie also erheblich mehr Zeit mit Betreuungspersonen verbringen als mit den eigenen Eltern (was nach Lebensphasen sehr unterschiedliche Bedeutung hat), dann kommt das einer Entwertung von Familie gleich. Wir fördern also eine Vorstellung von Familie, in der für diese kein Platz mehr ist. Sie ist bloßes Anhängsel von Erwerbstätigkeit, gehört in die „Freizeit“. Wenn Kinder diese Entwertungserfahrungen machen, wie werden sie zu Familie stehen? Wenn sich die Eltern die Zeit nicht mehr nehmen, nehmen wollen oder nehmen können, die für ein lebendiges Familienleben notwendig ist, wie wird Familie der Zukunft dann aussehen?
Eine Zuhörerin meldete sich ob meiner These verärgert bzw. empört zu Wort. Sie sei genau so aufgewachsen, wie ich es beschrieben habe und wolle es mit ihren Kindern genauso machen. Dann müsste es weiterhin Krippen geben usw. Ob das nicht durch ein Grundeinkommen gefährdet sei? Zum einen habe das eine mit dem anderen nichts zu tun, es hänge schlicht vom politischen Willen ab – entgegnete ich. Zum anderen aber wäre es fahrlässig für ein Gemeinwesen, diese Entwertung von Familie zu betreiben. Es gehe nicht um Diffamierung und Anklage, sondern um die Vorstellung von Familie, die wir als Gemeinwesen haben und fördern wollen. Gibt man ihr keinen Raum und schützt sie in ihrer Eigendynamik nicht, dann kann Familie nicht das sein, was sie im innersten auszeichnet. Wir müssen uns offen fragen, was die Folgen dieses Vorrangs von Erwerbstätigkeit sind. Es hat etwas Heuchlerisches, sich auf der einen Seite über mangelnde Solidarität, fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt, den Zerfall des Gemeinwesens usw. zu beklagen, wenn auf der anderen Seite nichts dafür getan wird, die Orte zu stärken, an denen Gemeinschaftsleben bedingungslos praktiziert werden kann: Familie – und bürgerschaftliches Gemeinwesen als Zwecke um ihrer selbst willen.
Das Bedingungslose Grundeinkommen würde zwar Eltern nicht mehr in eine bestimmte Richtung dirigieren, trotzdem enthöbe uns das nicht der Frage, welches Handeln wir ausdrücklich fördern wollen. Immerhin böte ein ausreichend hohes BGE auch die Möglichkeit, Betreuungsplätze privat zu organisieren, sofern es keine öffentlichen Betreuungsplätze gäbe. Diese Diskussion zeigte sehr deutlich, dass mit einem BGE keineswegs alle Fragen – was auch kaum ein seriöser Befürworter behauptet – beantwortet wären. Es wirft andere Fragen auf und stellt unsere heutigen Antworten in Frage z.B. die nach dem Ausbau von Ganztagsbetreuung. Das scheint mir eine mächtige Seite des BGE zu sein, Selbstverständliches auf einfache Weise zu hinterfragen und dadurch andere, gangbare Wege aufscheinen zu lassen, die wir heute für verschlossen halten. Dadurch verunsichert der Vorschlag eines BGE erheblich, bringt Vertrautes ins Wanken – und lässt dadurch Neues oder noch nicht Wahrgenommenes aufscheinen.
Sascha Liebermann
Nachtrag 4. Juni: Wenig überraschend hat die gestrige Sendung bei Günther Jauch zu diesem Thema (auch auf Youtube verfügbar) die Fragen nicht aufgegriffen, die aufgegriffen werden müssten. Auch Kommentare zur Sendung erweisen sich da als wenig besser, z.B. in der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Kultur ist die Basis der Wirtschaft – ein Gespräch aus dem Unterengadin (Schweiz)
Paternalistische Verniedlichung und expertenhafter Hochmut
In einem Interview mit Junge Welt (24.5.) äußert sich Albrecht Müller (Nachdenkseiten) wieder einmal zum Bedingungslosen Grundeinkommen, allerdings nur nebenbei. Aufschlussreich ist die Äußerung wegen der darin zum Ausdruck kommenden Haltung (siehe auch „Bürgervergessen“ 2005, „Gedankenlose Nachdenkseiten“ 2010, „Werthaltung, die zweite“ 2010). Es ist diese Haltung, die unter anderem zu verstehen erlaubt, weshalb die Grundeinkommensdiskussion so langsam vorankommt. Auch bei denen, die sich als Vorkämpfer zur Veränderung des Bestehenden begreifen und die die anderen für voreingenommen oder borniert halten, herrscht eine gewaltige Voreingenommenheit.
Gegen Ende des Interviews heißt es in einer Nebenbemerkung:
„…Frau Kipping vertritt das bedingungslose Grundeinkommen, was zwar lieb gemeint, aber volkswirtschaftlich nun wirklich nicht zu erklären ist…“
Argumentativ abwägend ist das nicht. Im ersten Teil wird paternalistisch verniedlichend Frau Kipping als naives Mädchen hingestellt – das ist Paternalismus alter Manier (siehe „Paternalismus in zwei Kleidern“ 2007). Dass sie für ihre Vorstellung vom BGE jedoch mit Argumenten geworben und sie nicht einfach naiv als eine schönere Welt hingestellt hat, wird übergangen. Im zweiten Teil des Satzes herrscht expertenhafter Hochmut, der wuchtig daher kommt. Denn der Verweis auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge gilt öffentlich als Trumpf. Mit seiner Hilfe lassen sich unliebsame Alternativen erledigen, bevor sie genau ergründet werden. Dass es Studien zur Finanzierbarkeit und den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen des BGE gibt – von Thomas Straubhaar, Wolfgang Strengmann-Kuhn, Michael Opielka, Helmut Pelzer und Ute Fischer u.a. – weiß Müller sich auch. Weshalb werden sie dann übergangen?
Grund dafür sind wahrscheinlich die normativen Prämissen, auf deren Basis Müller zu seiner Einschätzung gelangt (siehe auch „Die Schattenseiten des Grundeinkommens“ 2012). Es geht in seinen Ausführungen stets auch darum, wie der Mensch und die Welt sein soll. Das gilt zwar für jeden, der öffentlich für Alternativen streitet. Aus diesem Grund sollten Analyse und Plädoyer deutlich auseinandergehalten werden. Das tut er nicht und suggeriert, die Analyse sei es, die zeige, dass ein BGE „volkswirtschaftlich nun wirklich nicht zu erklären ist“.
Es ist gerade seine Überbewertung von Erwerbstätigkeit, an der sich die Voreingenommenheit sehr klar zeigt. Leistung wird mit erwerbsförmig erbrachter Leistung gleichgesetzt; folglich wird nur dort wertvolle Arbeit geleistet, wo sie in Preisen Ausdruck findet. Bürgerschaftliches Engagement und familiale Sorge sind zwar schön und gut, aber doch nicht so bedeutsam wie Erwerbstätigkeit. Was ist von einer solchen Haltung für die Zukunft zu erwarten? Das Festhalten an der Politik des Arbeitshauses.
Sascha Liebermann
Götz W. Werner über Grundeinkommen in Forum Manager, einer Interviewsendung von Phoenix und Süddeutsche Zeitung
Über Grundeinkommen direkt wird ab Minute 34’55 gesprochen.
Wer hat was vom Grundeinkommen?
In der jüngsten Sendung von Markus Lanz (ZDF, 17.5.) war der politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, zu Gast. Lanz setzte damit fort, was im letzten Jahr nach den ersten Erfolgen der Piratenpartei zu beobachten war – Vertreter der Piratenpartei waren immer wieder zu Gast. Dieses Mal allerdings wurde dem Bedingungslosen Grundeinkommen mehr Raum gegeben als zuvor. So konnten die Chancen, die ein BGE bietet, besser aufgezeigt werden, auch wenn es im Fernsehen aufgrund der knappen Zeit schwierig bleibt, die Idee darzulegen, denn nicht nur der Moderator fragt und fällt ins Wort, die anderen Gäste schalten sich ebenfalls ein. Johannes Ponader hat es dennoch gut hinbekommen, einen Einblick zu geben. Er eröffnete seine Darlegung mit einer grundsätzlichen Frage, auf die das BGE antwortet: „Was habe ich für ein Bild von der Gesellschaft“ – oder anders formuliert: Wie wollen wir zusammen leben? Er stellte dann heraus, wie wichtig es sei, Entscheidungsfreiräume des Einzelnen zu stärken; auch anders Aspekte wurden angesprochen z.B. die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
An einer Stelle konnte man stutzen, sie findet sich ziemlich zu Beginn der Erörterungen (ca. ab Minute 21 oder bei Youtube). Ponader erläuterte, wie sich das BGE für Geringverdiener auswirkt und sagte dann: „Die, die wirklich mehr haben [durch ein BGE, SL] als heute, das sind die, die heute durch ihre Arbeit auch nicht mehr verdienen als jemand der Sozialleistungen bekommt“. Konsens bestand darin, dass der, der arbeitet, mehr haben soll als der, der nicht arbeitet (dazu weiter unten). Aber stimmt das denn, haben nur sogenannte Geringverdiener wirklich mehr durch ein Grundeinkommen und die anderen, gut Verdienenden, nicht?
Betrachtet man die Auswirkungen eines BGE rein rechnerisch, also nur von der Seite her, welches Einkommen einer Person nach Einführung des BGE und nach Abzug etwaiger Steuern zum Verbrauch zur Verfügung steht, dann mag sich für diejenigen, die gut verdienen, nichts ändern. Systematisch betrachtet hingegen (siehe auch „Rechnerisch oder systematisch?“) ändert sich alles. Selbst wenn das zum Verbrauch verfügbare Einkommen in derselben Höhe wie vor Einführung des BGE bestehen bleibt, so setzt es sich doch anders zusammen. Das Fundament, den Boden, auf dem der Einzelne fest steht, bildet das BGE – als Leistung der Bürgergemeinschaft an sich selbst. Es ist Ausdruck einer Solidarität, in deren Zentrum nicht Bedürftigkeit und Hilfe stehen, wie heute, sondern die Anerkennung des Einzelnen und des Gemeinwesens um seiner selbst willen. Das BGE ist ein Bürgereinkommen, kein Gehalt, kein Lohn und keine kompensatorische Leistung. Es ist nicht mit Anspruchserwerb und Beitragsfinanzierung verknüpft, es stellt eine aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierte Leistung dar. Es ermöglicht, verlangt aber nicht. In der Diskussion, auch von Befürwortern, wird diese systematische Veränderung häufig unterschätzt, eine Veränderung, die Folgen für alle hat, nicht nur für die Geringverdiener. Allzuschnell wird davon gesprochen, Wohlhabende bräuchten es doch nicht, für sie sei ein BGE „Peanuts“. Schon ist die Bedürftigkeit als Kriterium wieder da, die man doch hinter sich lassen will. Auch wird ihnen flugs unterstellt, dem Gemeinwesen ja gar nicht, den Privatinteressen ausschließlich, zumindest aber vorrangig dienen zu wollen. Das wirken Feindbilder fort. Mancher Befürworter ist womöglich selbst noch einer Vorstellung verhaftet, die Solidarität, Wohlstand und Lebensqualität in verfügbarem Einkommen bemisst und sonst in nichts.
Es ist genau dieser Unterschied, der Anerkennung des Einzelnen und des Gemeinwesens um seiner selbst willen, der den Unterschied ums Ganze macht, der auch BGE und Negative Einkommensteuer voneinander trennt, nicht graduell, sondern systematisch. Nur ein BGE stellt heraus, dass die Existenz des Gemeinwesens und seiner Bürger Selbstzweck ist, dass alle im selben Boot sitzen, jeder von jedem abhängig ist, insofern alle auf die Bereitschaft aller vertrauen müssen, zum Wohle des Ganzen wirken zu wollen. Daran führt kein Weg vorbei.
Sascha Liebermann
Schweizer Gewerkschaft Syna für Bedingungsloses Grundeinkommen
Volksinitiative Grundeinkommen Schweiz – schon 10000 Unterschriften
…melden die Initianten aus der Schweiz. Einen Eindruck davon, wie gut organisiert die Stimmen gesammelt werden, wieviele Veranstaltungen es gibt, um für die Initiative zu werben, und welch andere gute Ideen die Initianten und ihre Unterstützer haben, lesen Sie hier.
Die Würde des Menschen – als solche oder durch Arbeit?
Dieser Ausschnitt (ab Minute 3’10) aus der Sendung „Wahlarena“ des WDR (hier ab Minute 49’30), einer Diskussionsrunde zur Landtagswahl in Nordrhein Westfalen, zeigt sehr klar, weshalb das Vorankommen des Bedingungslosen Grundeinkommen so zäh ist. Joachim Paul, Spitzenkandidat der Piratenpartei argumentiert für das BGE als langfristige Lösung, indem er auf die gestiegene Produktivität bei sinkendem Arbeitsvolumen verweist und leitet daraus ab, dass bei sinkendem Arbeitsvolumen dem Einzelnen nicht die Kaufkraft zur Verfügung stehe, um sein Recht auf Existenz zu sichern: „…es kann nicht sein, dass wir diese Leute draußen vorlassen…“ („Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe“, Grundsatzprogramm Piratenpartei 2009, Punkt 11). Dem Faulheitseinwand greift er dann – ohne Not – vor und bezieht sich hier auf das Interview mit Sascha Liebermann und Theo Wehner in Die Zeit. Da schauen die anderen so, als hätten sie mit diesem Einwand nichts am Hut.
Was ist an der Argumentation von Paul unglücklich, wenn nicht gar problematisch? Das BGE wird zu einer Ausgleichs-, einer Kompensationsleistung gemacht. Es ist eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, ausreichend Einkommen über Erwerbstätigkeit zu erzielen, wenn das Arbeitsvolumen sinkt. Würden aber aufgrund der demographischen Veränderungen auf lange Sicht, diese Schwierigkeiten verschwinden, so muss gefolgert werden, wäre ein BGE nicht mehr notwendig. Das sagt zwar Herr Paul nicht, es wäre jedoch die Konsequenz. Dieser Einwand kehrt stetig wieder. Bei Paul bleibt das BGE zunächst eine Reparaturleistung. Zugleich aber soll es allen bereitgestellt werden in Absehung davon, ob sie es „brauchen“. So konzipiert wäre es keine Reparaturleistung mehr. Offenbar gibt es in der Argumentation noch Unklarheiten, beide Gedankenstränge sind nämlich gegenläufig: Im einen Fall ist es eine Entschädigung oder Reparatur, die dann nicht mehr notwendig wäre, wenn der Schaden nicht mehr vorläge; im anderen Fall würde die Leistungsvergabe nicht mehr nach dem Bedürftigkeitskriterium erfolgen, die Gewährung des BGE wäre davon unabhängig. Wie aber wäre es dann begründet? Das wird nicht ausgesprochen. Es bleibt, wenn es keine Leistung aus Bedürftigkeit sein soll, nur noch das Statuskriterium, also die Stellung des Menschen als Bürger im Gemeinwesen. Genau dieser Punkt wird leider nicht benannt, er hätte die Position von Herrn Paul gestärkt.
Wie reagieren nun die anderen? Während Paul ausführt, sind die Gesichtsbewegungen der Diskutanden zu sehen, hier ein süffisantes Lächeln (Kraft, Röttgen, Lindner), dort ein strenger, genervter Blick (Löhrmann). Paul hingegen bleibt sachlich. Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin in NRW, schon unruhig geworden durch die Ausführungen zum BGE, erwidert, indem sie auf persönliche Erfahrungen und Begegnungen mit Menschen verweist, u.a. dies:
Kraft: „…wie wichtig es für die Würde des Menschen ist, dass er Arbeit hat, dass er einen geregelten Tagesablauf hat, dass er dort auch soziale Kontakte hat…“.
Diese Argumentation ist altbekannt, ein Syndrom geradezu, denn die Würde des Menschen wird so nicht mehr aus sich heraus, weil er Mensch ist, begriffen, sondern als eine, die durch anderes erst entsteht: durch Erwerbsarbeit (Siehe auch „Würde haben oder erhalten?“ und „Geld oder Würde?“). Damit unterläuft Frau Kraft sogar die Grundlagen unserer politischen Ordnung, in der die Bürger als solche eine Würde haben und den Souverän bilden (Auch wenn der Artikel 1 des Grundgesetzes hierin gerade missverständlich ist). Wenn nun diese Würde heute gefährdet ist, liegt es nicht daran, dass sie sich durch Erwerbsarbeit erst herstellt, was Frau Kraft annimmt. Die Würde ist gefährdet, weil wir sie nicht als eigenständig begreifen und sie von Erwerbstätigkeit abhängig machen. Die Würde ist nicht bedingungslos gewahrt als Mensch und Bürger, sondern bedingt: als Erwerbstätiger. Genau diese Verkehrung spiegelt sich in den Erfahrungsberichten von Frau Kraft.
Obwohl sie einige Folgen des BGE verstanden hat, reden sie und Paul aneinandervorbei. Während es ihm um Selbstbestimmung und frei gewähltes Engagement geht (also: Bürgerstatus), spricht sie nur von Erwerbsarbeit (siehe auch „Eltern als Störung“). Ehrenamtliches Engagement, „das sei etwas anderes“, kontert sie. Ja, aber inwiefern? Wohl etwas anderes, da es für Frau Kraft nicht den Nimbus von Erwerbsarbeit hat.
Die Spitzenkandidatin der Grünen, die zuvor noch die intensive Befassung mit dem BGE in ihrer Partei hervorhob, fragte: „…Warum soll jemand, der gut verdient, zusätzlich vom Staat ein Leistung bekommen, Geld, das er gar nicht braucht…“. Wie unverständig sie über unsere politische Ordnung spricht, ist erschreckend. Der Grundfreibetrag steht heute ebenfalls jedem zu, er leitet sich aus der Sicherung des Existenzminimums her. Weiß Frau Löhrmann das nicht? Weiß sie nicht von den vielen Abschreibungsmöglichkeiten, die gerade Gutverdiener auch nicht „brauchen“, wir sie dennoch geschaffen haben. Eine bloß ideologische, vermeintlich nah bei den Menschen seiende Haltung, tritt da zutage (siehe Mindestlohn, Reichensteuer, Macht durch Geld – Grundeinkommen?).
Das Denken in Bedürftigkeiten ist gerade das Elend des heutigen Sozialstaats, weil es den Vorrang von Erwerbstätigkeit zementiert. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl und weiterer Landtagswahlen im nächsten Jahr, wäre es wichtig herauszustellen, dass gerade das BGE die Würde des Menschen anerkennt, ohne Wenn und Aber. Gerade deswegen ist es unserer politischen Ordnung gemäß.
Sascha Liebermann
Nachtrag 15 Mai: Kommentare zu diesem Beitrag haben darauf hingewiesen, dass Frau Kraft doch nur sage, Arbeit sei wichtig, nicht aber eine Voraussetzung für Würde. Beschränkt man sich auf die wörtliche Äußerung in dem zitierten Ausschnitt, könnte man zu diesem Schluß gelangen. Zum einen jedoch ist schon dies eine Entwertung von Würde, wenn sie nicht aus sich heraus besteht. Wird Erwerbsarbeit – nur von der spricht sie – als wichtig erachtet, damit die Würde uneingeschränkt gilt, relativiert dies ihre Eigenständigkeit. Darauf hatte ich oben hingewiesen. Zum anderen wird im Zusammenhang deutlich, dass es ihr nicht um ein selbstbestimmtes Engagement oder Tätigwerden geht, sondern um Erwerbstätigkeit. Selbstbestimmung, Freiheit, sich entscheiden zu können, in welche Richtung man wirken will, ist für Frau Kraft nicht maßgeblich. Siehe auch „Eltern als Störung“.
Wieder einmal: Erwerbstätige versus Arbeitsvolumen
Die Ausstellung „Was tun? Über den Sinn menschlicher Arbeit“ im Senckenberg Museum Frankfurt wird von der Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einem Projekt begleitet. Auf FAZ.NET, ihrem Onlineportal, werden „Fakten“ präsentiert, die dem Projekt zugrunde liegen.
Beachten Sie die Registerkarte „Erwerbstätige“ und wechseln Sie dann zu „Im Vergleich“. Während unter „Erwerbstätige“ die Frage „Geht uns die Arbeit aus?“ mit dem Verweis auf die gestiegene Zahl an Erwerbstätigen beantwortet wird, zeigt „Im Vergleich“ eine gegenläufige Tendenz: Das Arbeitsvolumen ist gesunken. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ist seit 1991 (in der Tendenz, das schließt einen zwischenzeitlichen Anstieg nicht aus) gesunken, die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hingegen gestiegen (siehe Statistisches Bundesamt). Auf diesen Zusammenhang haben wir (wie auch andere) immer wieder hingewiesen (hier, hier und hier). Zwar geht uns nicht „die Arbeit“ aus, das war in dieser überspitzten Form schon immer unhaltbar, denn, wo Menschen sind, gibt es etwas zu tun.
Statt in einer solchen Entwicklung einen Erfolg zu sehen, der Freiräume schaffen ließe – wir benötigen weniger Arbeitsstunden um diesselbe Wertschöpfung oder sogar mehr hervorzubringen – schreibt die FAZ mit Verweis auf die Weltbank: In Deutschland und Europa werde weniger gearbeitet. Das suggeriert, das wir zu wenig arbeiten und deswegen unser Wohlstand gefährdet sei. So wird aus einer Erfolgsmeldung eine Klage.
Sascha Liebrermann

