Systemfrage gestellt, umschifft und was folgt daraus?

Stefan Sell hat sich in zwei Beiträgen zum einen mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, zum anderen mit der medialen Kommentierung befasst. Zum ersten Beitrag lautet sein Fazit:

„Fazit: Das höchste Gericht hat ein Urteil gefällt, dass die Systemfrage einerseits erkennbar umschifft, also die Letztfrage der Bedingungslosigkeit eines existenziellen Minimums. Auf der anderen Seite hat es die Systemfrage eindeutig geklärt, denn im bestehenden System der bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfe darf der Staat ein Sub-Existenzminimum installieren. Für viele Menschen wird es pragmatisch nun darum gehen müssen, dass das, was in den Jobcentern passiert, rechtlich möglichst klar normiert und zugleich eine zivilgesellschaftliche Anwaltsfunktion installiert wird, die Hilfestellung leisten kann, wenn man im letzten Außenposten unseres Sozialstaates unter die Räder kommt.“

Das Urteil besagt aber lediglich, dass der Gesetzgeber Sanktionen einsetzen darf, sie folgen aber keineswegs aus dem Grundgesetz. Es bleibt darüber hinaus der Widerspruch zwischen der Würde nach Artikel 1 GG, die unverfügbar ist – wie es das Existenzminimum sein sollte – und doch zugleich verfügbar ist. Erst wenn das Existenzminimum bedingungslos gilt, gilt die Würde bedingungslos. Was es dazu braucht? Nur eines: ein entsprechendes Grundeinkommen.

Sascha Liebermann

Das Grundgesetz und Sanktionen – Peter Tauber deutet nur in eine Richtung, die andere wäre naheliegender: gar keine Sanktionen

Peter Tauber weist auf einen wichtigen Punkt hin, der allerdings zugleich die Widersprüchlichkeit des Urteils des Bundesverfassgungsgerichts deutlich macht. Die Menschenwürde ist eben doch verfügbar unter bestimmten Voraussetzungen. Tauber unterschlägt allerdings, dass das Grundgesetz laut Urteil keineswegs Sanktionen fordert oder nahelegt, lediglich verbietet es sie nicht. Der Gesetzgeber kann solche Instrumente also vorsehen, er muss aber nicht. Insofern ist Taubers Position zum Urteil nur eine Auslegung, die andere wäre, Sanktionen vollständig aufzugeben, das wäre in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz. Dann müsste allerdings das Erwerbsgebot aufgegeben werden, solange das nicht geschieht, ist die Forderung nach einer Abschaffung von Sanktionen illusionär. Ein „Garantiesicherung“, wie Robert Habeck sie vorgeschlagen hat, könnte eine Vorstufe zum Bedingungslosen Grundeinkommen sein. Es wäre allerdings einfacher, sich den Zwischenschritt zu sparen.

Siehe auch den Kommentar von Stefan Sell zur medialen Berichterstattung.

Sascha Liebermann

„Was wie ein Erfolg aussieht, ist am Ende eine Niederlage“…

…schreibt Halina Wawzyniak, ehemalige MdB für Die Linke, in ihrem Blog anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen im Arbeitslosengeld II. Man könnte, was sie als Niederlage sieht, auch schlicht eine Bestätigung der verbreiteten Haltung nennen, dass das Existenzminimum eben nicht vorbehaltlos bereitgestellt werden muss, sofern jemand erwerbsfähig ist. Auch wenn das Grundgesetz keine Erwerbsobliegenheit kennt, so kann der Gesetzgeber dennoch eine solche vorsehen, muss aber bestimmte Bedingungen dafür einhalten. Damit wird deutlich, das ist auch in Wawzyniaks Beitrag in aller Klarheit ausgesprochen, wie wichtig es ist, auf den Zusammenhang zwischen Sanktionen und Erwerbsgebot hinzuweisen, sie gehören zusammen. Wer Sanktionen aufheben, das Erwerbsgebot aber nicht antasten will – siehe hier – wirft Nebelkerzen. Es kann keine Aufhebung der Sanktionen ohne Aufhebung des Erwerbsgebots geben. Robert Habeck hat diesen Zusammenhang in seinem Vorschlag einer Garantiesicherung gesehen.

Sascha Liebermann

„Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften…“

„Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig“…

…laut Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Hier ein Auszug:

„Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.“