„Offener Brief von Otto Lüdemann“ – Antwort von Sascha Liebermann

Otto Lüdemann, Mitglied im Hamburger Netzwerk Grundeinkommen und im „Bürgerausschuss“ der Europäischen Bürgerinitiative Grundeinkommen (EBI), hat sich mit einem offenen Brief an Sascha Liebermann gewandt. Veranlasst haben ihn dazu seine Ausführungen zum Abschluss der Europäischen Bürgerinitiative Grundeinkommen. Hier nun die Antwort von Sascha Liebermann:

Lieber Herr Lüdemann,

vielen Dank für Ihre – und die Ihrer Mitstreiter (am Ende ist von „wir“ die Rede) – offenen Worte, auf die ich gerne antworte. Offenbar bestehen Differenzen darin, wie Sie auf der einen und ich auf der anderen Seite das Vorhaben sowie den Ausgang der EBI beurteilen und welche Schlüsse wir daraus ziehen.

Sie schreiben an einer Stelle:

„Niemand kann doch leugnen, dass das Sammeln von 285 000 Unterschriften aus 28 EU-Ländern innerhalb eines Jahres wie auch das Entstehen von BGE-Initiativen in 24 dieser Länder die Grundeinkommensbewegung in Europa einen entscheidenden Schritt vorangebracht haben“.

Gegen diese Einschätzung habe ich gerade Bedenken vorgebracht. Sie richten sich auch gegen die Gewissheit, mit der über die Zukunft geurteilt wird. Es wäre zu wünschen, dass daraus, über die EBI hinaus, vielfältiges, anhaltendes Engagement hervorgeht, wissen können wir das aber nicht. Die Erfahrung aus zehn Jahren deutscher Diskussion und einer sehr erfolgreichen Petition von Susanne Wiest haben mich gelehrt: Online erbrachte Unterschriften führen nicht unmittelbar zu anhaltendem Engagement, genauso wenig wie Link-Tauschs, Facebook-Likes oder Avaaz-Petitionen. Lokal aktive Initiativen, die die Auseinandersetzung mit den Bürgern von Angesicht zu Angesicht suchen und um die Idee werben – auf sie kommt es vor allem an. Eine weitere Lehre aus diesen Jahren ist: Nicht jedes weitere Bündnis verheißt zugleich einen Fortschritt für die Debatte. Wichtig ist, das Pluralität erhalten bleibt und gefördert wird, dafür sind Bündnisse nicht ohne weiteres hilfreich. Ob die Diskussion also vorankommt, wird sich zeigen müssen, wünschenswert ist es allemal.

Gegen meine Überlegungen zum Online-Sammelsystem wenden Sie ein, „dass die Menschen in einem kleinen Land eben leichter zu mobilisieren sind als in einem großen (so wie sich ein kleines Boot im Wasser leichter bewegen lässt als ein Ozeanriese); auch fehlt es Deutschland an einer Volksabstimmungstradition, die in der Schweiz bereits mehr als eineinhalb Jahrhunderte währt.“

Trifft Ersteres zu? Die Volksinitiative in der Schweiz war kein Selbstläufer und hatte zu Beginn erhebliche Schwierigkeiten, Unterschriften zu erhalten – trotz langer Tradtion. Den Umschwung brachte erst ein anderes, gelasseneres, jüngeres Engagement in Gestalt der „Generation Grundeinkommen“. Darauf wollte ich aufmerksam machen, die Art und Weise, wie Unterschriften gesammelt wurden. Außerdem haben oder hatten wir in Deutschland relativ zur Schweiz viel mehr lokale Initiativen in den Jahren vor der Volksinitiative. Selbstredend fehlt es in Deutschland an einer solchen Tradition wie in der Schweiz. Die Petitionen von Frau Wiest (etwas 52 Tsd.) und Frau Hannemann (etwa 90 Tsd.) haben allerdings gezeigt, was möglich sein kann. Das wirft die Frage auf, weshalb nicht mindestens diese Unterschriftenzahl erreicht worden ist und sie verlangt Antworten.

Ein Missverständnis scheint mir dort vorzuliegen, wo Sie meine Anmerkungen zur Unverbindlichkeit der EBI auf den Begründungstext bzw. das Verfahren beziehen. Darauf zielte ich gar nicht. Mir ging es um die Unverbindlichkeit dessen, was damit erreicht werden kann. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem demokratischen Legitimationsdefizit der EU. Im Charakter der EBI als solcher kommt es ebenso zum Ausdruck. Sie ist laut Darstellung der EU lediglich eine „Aufforderung an die Europäische Kommission“, auf die hin im besten Falle „… die Kommission eine formelle Antwort [gibt, SL], in der sie erläutert, ob und welche Maßnahmen sie als Antwort auf die Bürgerinitiative vorschlägt, und die Gründe für ihre – möglicherweise auch negative – Entscheidung darlegt“. Sie initiiert also keinen Gesetzgebungsakt – wie z.B. in der Schweiz – , sie ist lediglich ein Gesuch. Wer angesichts der Lage diese oder irgendeine ECI unterzeichnet, bringt sein Einverständnis mit diesem unverbindlichen Charakter zum Ausdruck, er nimmt ihn hin. Wer sich damit nicht abspeisen lassen will, unterschreibt – ganz konsequent – nicht. Das Scheitern der ECI könnte von daher auch als Erfolg in Sachen Bürgersinn verstanden werden: die Bürger lassen sich nicht an der Nase herumführen.

„3. Über die Frage, ob das BGE nun ein allgemeines „Menschenrecht“ oder ein „Bürgerrecht“ sein soll, lässt sich trefflich streiten. Für beide Positionen gibt es starke Argumente. Die wurden zu Beginn der EBI-Kampagne ausgiebig ausgetauscht, dann aber um gemeinsamer konsensfähiger Ziele willen vorläufig zurückgestellt. In einer produktiven Debatte sollten solche kontroversen Argumente benannt und gegeneinander abgewogen werden, statt dazu nur einseitig polemisch zu argumentieren.“

Diese Gegenüberstellung habe ich allerdings nicht vorgenommen. Menschenrechte – wobei sie eigens eine Diskussion wert wären, zumindest in Gestalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – und Bürgerrechte lassen sich nicht gegeneinander stellen, sie hängen zusammen. Die Menschenrechte sind solange ein Abstraktum und bleiben folgenlos bis sie von einer Rechtsgemeinschaft, und das ist eine politische Gemeinschaft von Staatsbürgern, als schützenswert anerkannt werden. Sind sie dort anerkannt, gelten sie für alle Menschen, die sich im Herrschaftsbereich des Gemeinwesens aufhalten – Staatsbürger wie Nicht-Staatsbürger. Dieser Anerkennung geht allerdings schon voraus, dass sie zu mehr oder weniger selbstverständlichen Normen der Lebensführung geworden sind. Die Menschenrechte bringen bestenfalls etwas zum Ausdruck, das dem realen Leben abgeschaut wurde. Solange sie aber in diesem Leben als nicht verbindlich gelten, bleiben sie abstrakt. Das ist auch der Grund dafür, weshalb sie nicht überall in der Welt Anerkennung finden. Würde man die Menschenrechte von der Existenz eines politischen Gemeinwesens, das sich an sie bindet, lösen, stünde die internationale Staatengemeinschaft vor folgender Frage: Soll sie die Menschenrechte durch Interventionen in politische Gemeinschaften durchzusetzen versuchen, also von außen notfalls mit Gewalt? Damit geht ein Eingriff in die Souveränität einher. Wohin das führen kann, zeigen uns die Erfahrungen z. B. im Irak und in Afghanistan.

Wenn die Formulierung „gemeinsamer konsensfähiger Ziele“, wie Sie schreiben, dazu führt, die Stellung der Staatsbürger in der politischen Gemeinschaft zu vernachlässigen, dann ist das ein hoher Preis. Wer den Begründungstext der EBI gelesen hat, musste sich fragen, wie die Initiative zur Stellung der Staatsbürger steht, auf welche Ausgestaltung der EU sie zielt. Die „konsensfähigen Ziele“ könnten genau deswegen ein Grund gewesen sein, nicht zu unterzeichnen.

Wer zum Instrument der EBI greift, muss sich darüber im Klaren sein, was er dadurch befördert. Darauf wollte ich unter anderem aufmerksam machen. Sicher, die EBI lässt sich auch strategisch einsetzen, in der Hoffnung darauf, Aufmerksamkeit für lautere Ziele zu erhalten. Doch das geht nur um den Preis, ihre Unverbindlichlichkeit ganz im Geist des Demokratiedefizits in Kauf zu nehmen und damit die Herabsetzung der Bürger hinzunehmen.

Mir scheint dies Anlass, darüber nachzudenken, wie die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen vorangebracht werden könnte, wenn man diesen genannten Preis nicht zahlen will. Eine Diskussion in den Mitgliedstaaten, ohne gleich auf eine europäische Lösung zu zielen, zumindest solange sich die Lage nicht ändert, sowie ein Austausch zwischen Befürwortern, wie er so oder so ohnehin schon gepflegt wurde, kann die Diskussion mindestens genauso gut voranbringen.

Sascha Liebermann

Beitrag von Sascha Liebermann in der ungarischen Online-Zeitung VS

„A polgàri tàrsadalom feltétel nélküli alapja“ („Demokratie stärken, Freiheit ermöglichen, Leistung fördern – Aussichten eines Bedingungslosen Grundeinkommens“), so lautet der in der ungarischen Online-Zeitung VS erschienene Beitrag von Sascha Liebermann. In derselben Rubrik finden sich auch Beiträge von Enno Schmidt, Philippe van Parijs, Werner Eichhorst u.a.

„Das große Rentengeschenk: Kassieren die Alten die Jungen ab?“ – Ablenkungsmanöver von grundsätzlichen Fragen

Zum selben Thema hier ein interessanter Beitrag auf den Nachdenkseiten von Wolfgang Lieb, der etwas Licht in die verworrene Diskussionslage bringt. Das Umlagesystem bietet viele Vorteile gegenüber der Kapitaldeckung, doch die Bindung der Rentenzahlung an Erwerbstätigkeit ist der große Haken (auch bei Maybrit Illner). Der gegenwärtige Vorschlag der Großen Koalition bevorteilt wieder einmal den Ideal-Erwerbstätigen mit gewissem Arbeitslosengeld I-Bezug. Nicht aber diejenigen, die Arbeitslosengeld II beziehen. In der Sendung wurde allzu deutlich, wie die bestehende Rentenversicherung an den Lebensrealitäten vorbeigeht. Auch wenn z.B. die „Mütterrente“ mehr Anerkennung als bisher für Frauen bedeutet, die für ihre Kinder zuhause geblieben sind und bislang die Nachteile in der Rente zu tragen hatten, bleibt doch eines klar: Engagement in der Familie wird relativ zu Erwerbstätigkeit degradiert. Das war seit Einführung der Rentenversicherung in den 1950er Jahren ein Missstand, worauf der Sozialrichter Jürgen Borchert wiederholt hingewiesen hat.

Alles beim Alten also – obwohl genau das der Einsatzpunkt für eine Diskussion über das Bedingungslose Grundeinkommen hätte sein können.

„Job guarantee“ oder Bedingungsloses Grundeinkommen?

Diese Frage wirft ein differenzierter Beitrag über Mindestlohn von Günther Grunert, der auf den Nachdenkseiten veröffentlicht wurde, auf. Der Autor beantwortet sie eindeutig. Eine Diskussion über die „job guarantee“, halte er für fruchtbarer als eine über das BGE. Grunert stellt in seinem Beitrag differenziert Ergebnisse von Studien zum Mindestlohn und möglichen Wirkungen dar und weist auf offene bzw. nicht beantwortbare Fragen hin. Weshalb er eine „job guarantee“ für sinnvoller hält, sagt er gegen Ende des Beitrages:

„Es stellt sich abschließend die Frage, ob die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns ausreicht, um die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung in Deutschland und insbesondere die wachsende Armut am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala wirkungsvoll zu bekämpfen. Dies ist zweifellos nicht der Fall. Der bedeutende US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky stellte mit Recht fest, dass ein gesetzlicher Mindestlohn nur in Verbindung mit einem „Arbeitgeber letzter Instanz“ („employer of last resort“, ELR) voll wirksam sein könne, denn ansonsten sei der wahre Mindestlohn für all diejenigen, die keinen Arbeitsplatz finden könnten, gleich Null: „Die wichtigste Tatsache, die den Diskurs über den Mindestlohn beherrschen sollte, ist die, dass er für die Arbeitslosen $ 0,00 pro Stunde beträgt […]“ (Übersetzung G.G.). Mindestlöhne und gleichzeitig weiter bestehende Arbeitslosigkeit seien unvereinbar: „Eine Welt mit gemessener Arbeitslosigkeit und Mindestlöhnen ist in sich inkonsistent; ein effektives Mindestlohnprogramm muss sicherstellen, dass Jobs für alle zum Mindestlohn verfügbar sind“ (Minsky 1986, S. 310; Übersetzung G.G.)…“

Diese Seite des Mindestlohns, nur dort direkt wirksam werden zu können, wo auch ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht, spielt in der BGE-Diskussion ebenfalls eine Rolle. BGE-Befürworter – ich auch – haben darauf hingewiesen, dass der Mindestlohn für all diejenigen nichts bewirke, die nicht erwerbstätig sind. Da ist allerdings keine große Einsicht, auch wenn sie oft übersehen wird.

Weiter heißt es bei Grunert:

„…Minsky sprach sich deshalb bereits in den 1960er Jahren für ein ELR-Programm aus, bei dem der Staat allen Arbeitsuchenden, die bereit seien, zum Mindestlohn zu arbeiten, Jobs entsprechend ihren Fertigkeiten und Kenntnissen zur Verfügung stellen sollte (Minsky 1965, 1968, 1973, 1975, 1986). Nur der Staat sei in der Lage, ein „unendlich elastisches“ Angebot an Arbeitsplätzen zum Mindestlohn zu schaffen. Der Staat als „Arbeitgeber letzter Instanz“ zieht damit nicht nur eine Untergrenze für die Löhne, sondern auch für den privaten Konsum (und die aggregierte Nachfrage), und erhöht so die Wirksamkeit antizyklischer Fiskalpolitik (die Staatsausgaben steigen in der Rezession und fallen in der Aufschwungphase, in der die Arbeitnehmer in wachsendem Umfang vom Privatsektor „abgeworben“ werden). Das ELR-Programm würde die Mindestlohngesetzgebung überflüssig machen: „Arbeit sollte für alle verfügbar gemacht werden, die zum nationalen Mindestlohn arbeiten möchten. […] Dies würde das Mindestlohngesetz ersetzen, denn wenn Arbeit für alle zum Mindestlohn vorhanden ist, steht den privaten Arbeitgebern keine Arbeit mehr zu einem Lohn unterhalb dieses Minimums zur Verfügung“ (Minsky 1965, S. 196; Übersetzung G.G.)…“

Sehen wir einmal davon ab, ob das tatsächlich von staatlicher Seite leistbar ist und sehen wir auch davon ab, ob solche Arbeitsplätze dem entsprechen, wo sich Menschen gerne engagieren wollen und Fähigkeiten dazu haben – was geschieht denn mit den anderen, die nicht „bereit“ sind? Was erhalten die? Bleiben dafür die bislang bekannten bedarfgegrüften Leistungen samt aller Stigmatisierungsfolgen (zur Struktur von Stigmatisierung, siehe hier und hier)? So würde es wohl sein, der Vorrang von Erwerbsarbeit bliebe erhalten, alles anderes wären schöne Freizeitbeschäftigungen. Die Entscheidungmöglichkeiten für den Einzelnen würden dadurch nicht erweitert. Grunert interessiert dieser Zusammenhang offenbar nicht.

Weiter heißt es:

„…Man mag dies für eine völlig unrealistische Utopie halten. Jedoch gibt es im angloamerikanischen Raum inzwischen eine Reihe von Ökonomen, die Minsky’s ELR-Idee aufgegriffen und – teilweise unter anderem Namen wie etwa „job guarantee“ (JG) – weiterentwickelt haben (z. B. Wray 1998 und 2012; Mosler 1997-98; Mitchell 1998; Burgess/Mitchell 1998; Mitchell/Muysken 2008; Forstater 2003; Fullwiler 2005). Auch positive praktische Erfahrungen mit (begrenzten) ELR/JG-Programmen in neuerer Zeit liegen bereits vor, etwa in Argentinien oder Indien.[16] In jedem Fall erscheint mir eine Diskussion über ELR/JG-Programme weit fruchtbarer zu sein als etwa die Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen, die hierzulande eine relativ große Resonanz in den Medien findet, obgleich die Idee vom Grundeinkommen wohl kaum weniger „utopisch“ ist als das ELR/JG-Konzept.“

Warum aber erscheint ihm die Debatte über eine „job guarantee“ fruchtbarer? Welche Möglichkeiten verschafft sie dem Einzelnen, sich den Ort des Wirkens zu suchen oder zu verschaffen, der ihm gemäß wäre und wo er seinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten könnte? Keine. Es bliebe die Hierarchie von Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten erhalten, sie würde sogar verfestigt. Nicht einmal erwägt der Autor die Auswirkungen eines ausreichend hohen BGE auf den Arbeitsmarkt, auf Leistungsmotivation und Arbeitsprozesse und stellt sie dem gegenüber, was ein Mindestlohn leisten könnte. Dass die Bedeutungen von Solidarität in einem Gemeinwesen und ihre Folgen auch für Wertschöpfungsprozesse gemeinhin übersehen werden, überrascht nicht. Es gibt wenige, die diesen Zusammenhang ernst nehmen, also die kulturellen und politische Voraussetzungen von Wirtschaftsprozessen beachten. Dabei würde gerade ein BGE durch den Modus der Bereitstellung, von einzelner Leistung nicht abhängig zu sein, Solidarität stärken und zugleich dazu aufrufen, sich zu fragen, wie der Einzelne beitragen kann. Es würde dabei jedoch freilassen, in welcher Form diese geschähe. So würden Möglichkeiten geschaffen, die heute nicht bestehen.

Sascha Liebermann

Wie etwas loswerden, das man nicht haben will? Jürgen Borchert über das Bedingungslose Grundeinkommen

Im vergangenen Jahr ist Jürgen Borcherts Buch „Sozialstaatsdämmerung“ erschienen. Der Verfasser ist Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht und hat sich wiederholt kritisch zur Verfasstheit des deutschen Sozialstaats geäußert. In Kapitel 9 (S.213-226) seines Buches widmet er sich dem Bedingungslosen Grundeinkommen. Seine Ausführungen stellen, das kann ohne Übertreibung gesagt werden, eine Abrechnung dar, eine, die viele Klischees bedient, sich nicht auf die differenzierte Diskussion einlässt – all das aber mit großem Selbstbewusstsein. Im gesamten Kapitel wird nicht eine Veröffentlichung aus der jüngeren oder auch älteren deutschen Grundeinkommensdiskussion zitiert. Pauschal wird über Modelle und Konzepte gesprochen. Verwiesen wird an den Stellen, die dem Verfasser gerade recht sind ,auf Autoren wie Karl Polanyi und Erich Fromm. In Rezensionen zum, Buch, die ich auf die Schnelle finden konnte, wird auf das BGE-Kapitel gar nicht eingegangen, z.B. bei Spiegelfechter und auch bei der taz. Spiegelfechter hat zum BGE allerdings ohnehin eine festgefügte Meinung.

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„Europäische Bürgerinitiative Grundeinkommen“ abgeschlossen. Scheitern oder Erfolg?

Das Sammeln von Unterschriften für die EBI Grundeinkommen ist nun abgeschlossen. Mit rund 285 Tsd. Unterschriften in den EU Mitgliedstaaten wurde das Ziel von einer Million nicht erreicht. Eine Einschätzung des Netzwerk Grundeinkommen, weshalb nur etwa ein Drittel der notwendigen Stimmen – in Deutschland mit etwa 40 Tsd. weniger als bei den Petitionen von Susanne Wiest (etwa 53 Tsd.) und Inge Hannemann (etwa 90 Tsd.) – erreicht wurde, nennt mögliche Gründe für das Scheitern. Es ist immer schwer zu sagen, woran ein solcher Verlauf gelegen hat. Drei Gründe, die sicher von Bedeutung sind, werden dabei allerdings ausgespart.

Da ist zum einen die Konzentration der Kampagne darauf, Stimmen vor allem online zu sammeln, zumindest liegt der geringe Anteil auf Papier von etwa 2700 Unterschriften das nahe. Gemessen an der Zahl, die online zustande kam, hätten es durch ausgiebige und wiederholte Straßenaktivitäten womöglich viel mehr sein können. Für ein solches Vorhaben ist eine persönliche Begegnung mit den Bürgern im öffentlichen Raum wichtig. Es geht ja immerhin um eine res publica, eine Sache von öffentlichem Interesse. Etwas ändern zu wollen ist immer eine Frage danach, ob es die, die es als Initiative anstreben, ernst meinen, ob sie glaubwürdig sind. Das lässt sich besser einschätzen, wenn einem die Personen vor Augen treten. Das Sammeln im öffentlichen Raum eröffnet zugleich immer Gespräche und schafft eine konkrete Erfahrung – für beide Seiten. Wie so etwas vor sich gehen kann, hat die Volksinitiative in der Schweiz gezeigt, die nach anfänglichen Schwierigkeiten, die notwendigen Unterschriften nicht nur erreicht, sondern sogar weit übertroffen hat. Wer Unterschriften möchte, muss auf andere zugehen, und zwar konkret (siehe „Begegnung der Bürger – ein Erfahrungsbericht vom Unterschriftensammeln in der Schweiz“). Online zu sammeln ist ungleich abstrakter und unverbindlicher, das zumindest legen auch die Erfahrungen mit der Petition von Susanne Wiest nahe. Denn aus den mehr als 52 Tsd. Unterschriften sind nicht tausende aktiver BGE-Befürworter geworden. Die letzte Demonstration im September 2013 – nach Angaben des Netzwerk Grundeinkommen mit etwa 2500 Teilnehmern – war in dieser Hinsicht niederschmetternd oder positiv ausgedrückt: desillusionierend.

Vollständig verwundern muss, dass in den Ausführungen des Netzwerks kein Wort zum unverbindlichen Charakter der EBI gesagt wird. Auch die Piratenpartei scheint dies nicht zu sehen, wie aus ihrer Stellungnahme hervorgeht. Wenn Bürger kein verbindliches, rechtsgültiges Votum abgeben, sondern nur eine Bittschrift, ein Gesuch einreichen können, mehr ist eine Petition nicht, dann ziehen sie die richtigen Schlüsse daraus, wenn sie sich nicht beteiligen. Der unverbindliche Charakter wirkt in doppelter Hinsicht. Er hält diejenigen zurecht davon ab, sich zu beteiligen, die die Unverbindlichkeit erkannt haben und er frustriert diejenigen, die sich in der Hoffnung beteiligt haben, doch etwas zu erreichen, dann aber erfahren, das aus der Petition nichts Verbindliches folgt (siehe unseren früheren Kommentar und die Einschätzung von Gerald Häfner).
Das gilt auch für die sogenannten Bürgerbeteiligungen, die sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit erfreuen.

[Update: 23.1.: Meine Bezugnahme auf die Piratenpartei war nicht ganz zutreffend. Den Schlusspassus ihrer Pressemitteilung hatte ich übersehen, der so lautet: „Um zu einem effektiven Mitbestimmungswerkzeug zu werden, muss die Europäische Bürgerinitiative ausgebaut werden. Bei komplexen Themen wird es schwierig, in nur einem Jahr eine Million Unterschriften zu sammeln. Das ist praktisch nur von großen Organisationen mit viel Geld zu meistern. Außerdem müssen erfolgreiche Initiativen auch tatsächlich einen Gesetzgebungsprozess in Gang setzen, anstatt der Kommission lediglich zur Beratung vorgelegt zu werden. Nur durch diese Reformen kann der Name “Europäische Bürgerinitiative” halten, was er verspricht«, fügt Reda an.“ Diese Forderung müsste allerdings beinhalten, dem Europäischen Parlament volle Kontroll- und Initiativrechte zu geben und dadurch die Stellung der Europäischen Kommission zu relativieren, sonst hätte eine Bürgerinitiative größere Bedeutung als das Parlament.]

Drittens, und das ist symptomatisch, wird die Bedeutung konkreter politischer Vergemeinschaftung mit vollen Rechten unterschätzt. Es sind notwendigerweise die Staatsbürger bzw. die Unionsbürger (eine Art Bürger ohne volle Kontrollrechte), die über Wohl und Wehe eines Gemeinwesens bestimmen und nicht diejenigen, die sich in einem Land aufhalten („Bevölkerung“), aber einem anderen Land gegenüber als Bürger verbunden sind. Demokratie kann es nicht ohne Staatsbürger geben. Das Netzwerk stellt diesen Zusammenhang nicht her, sondern hebt durch die Rede von der „Bevölkerung“ sogar den Unterschied zwischen Wohnbevölkerung und Staatsbürgern auf, als seien beide dasselbe (siehe auch die Stellungnahme von Werner Rätz, attac AG Genug für alle). Das ist zwar in gewisser Hinsicht gute deutsche Tradition, wie im Reichstagsgebäude an der Installation von Hans Haacke zu sehen ist, aber nur die Fortsetzung des Obrigkeitsstaates.

Zu überlegen wäre auch, ob nicht ein gewisser Aktionismus dafür verantwortlich ist, dass die Diskussion in Deutschland etwas nachgelassen hat. Die Neigung dazu, Großveranstaltungen auf die Beine zu stellen, kann auch ermüden. Nun wurde flugs das nächste Netzwerk gegründet „Unconditional Basic Income Europe“. Wer sitzt da wohl drin? Dass bestimmte Zirkel in den verschiedensten Zusammenhängen auftauchen und Bündnisse in eine Richtung eingegangen werden, die die Diskussion gerade nicht offenhalten (siehe oben die Stellungnahme von Werner Rätz) mag auch dazu beitragen. Statt dieser Vergruppung und Engführung benötigt die Diskussion um ein BGE vor allem Beharrlichkeit und Geduld, Offenheit gegenüber Kritik und ernsthafte Auseinandersetzung mit Einwänden. Die gelebte Vielfalt in der Grundeinkommensdiskussion war sehr wahrscheinlich der Grund für die große Resonanz schon in den ersten Jahren.

Beschwörungen werden vorgenommen: „Dennoch war die EBI Grundeinkommen ein politischer Erfolg. Sie brachte die größte Kampagne zur Idee des Grundeinkommens, die die Welt bisher gesehen hat. Mehr Menschen als je zuvor in Europa haben nun von dieser Idee erfahren und werden sie verbreiten.“

Wer sagt denn, dass die Menschen die Idee verbreiten werden? Wer kann das wissen? Typischer Polit-Sprech dringt durch, der Niederlagen zu Erfolgen verklärt. Dass gerade Länder, aus denen man bislang wenig bis gar nichts zum BGE gehört hatte, mit dem Sammeln der Unterschriften relativ besser abschnitten als Deutschland, ist überraschend. Doch, wie ist das zu verstehen, was steckt dahinter? Wird in diesen Ländern nun eine Diskussion angestoßen?

Weiter heißt es: „In Mitgliedsländern der EU, aus denen bisher nichts Nennenswertes zum Grundeinkommen zu hören war – zum Beispiel Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Estland und Ungarn – , wurde das Grundeinkommen durch die EBI zum Thema und es entstanden erste Initiativgruppen. In Ländern wie Frankreich, in denen noch keine umfassenden Grundeinkommensnetzwerke existierten, wurden sie gegründet. Der Aufbau nationaler Initiativen und Netzwerke ist also gelungen. Die Anstrengungen für die EBI dürften maßgeblich dazu beigetragen haben.“

Ist das gewiss oder ein Wunsch? Oder nur das Klopfen auf die eigenen Schultern?

Für die deutsche Diskussion wäre es hilfreich, die Erwartungen nicht zu hoch zu hängen und keine Illusionen zu schaffen. Das steht dem Engagement für ein BGE in keiner Weise entgegen, es entspräche vielmehr dem Realitätsprinzip.

Sascha Liebermann