„Schaffen Sie den Bürgergeldantrag auf Anhieb?“

Die Zeit bietet die Gelegenheit an, sich selbst zu prüfen, wie weit man mit der Ausfüllung des Antrags kommt, siehe hier. Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, wie kompliziert die Beantragung ist, hier nun können sich auch diejenigen einen Eindruck verschaffen, die damit sonst nicht zu tun hätten oder die noch nicht von sanktionsfrei gehört haben, deren Berichte aus der Welt des Bürgergeldes eindrucksvoll sind.

Die Hürden durch das Antragswesen sind hoch, ganz besonders für diejenigen, denen es ohnehin nicht leichtfällt, ihre Interessen wahrzunehmen. Andere aber schrecken vor der Stigmatisierung zurück, verzichten lieber, als ihr Recht wahrzunehmen – eine Stigmatisierung, die mit dem normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit zu tun hat und der damit verknüpften ideologisierten Vorstellung von „Selbstversorgung“ oder „Eigenständigkeit“. Ein Sozialstaat, der aufgrund dieser strukturellen Eigenheiten, „verdeckte Armut“ in Kauf nimmt, dem fehlt es daran die Existenzsicherung verlässlich bereitzustellen, er ist nicht „zielgenau„, seine Legitimität wird dadurch fraglich.

Sascha Liebermann

„Wir wir fleißig wurden“ – doch wie gelangt der Autor zu seiner Deutung und was übersieht er?

Werner Plumpe, Prof. em., Historiker, hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag mit dem Titel „Wie wir fleißig wurden“ veröffentlicht, der sich mit dem Wandel der „Einstellung zur Arbeit“ befasst und in einem historischen Überblick von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart verfolgt. Darin geht es um das Verständnis von Leistung, das vorherrschte und noch die Nachkriegszeit prägte, welche Bedeutung die Erfahrung von Knappheit und Mangel für den materiellen Wohlstandszuwachs hatte. Am Ende geht es darum, ob der Sozialstaat der Gegenwart diesbezüglich wohlstandsförderlich sei oder nicht. Im ersten Teil des Beitrags schreibt Plumpe:

„So uneinheitlich das Bild im Einzelnen ist, der Stellenwert von Arbeit scheint dennoch zurückgegangen zu sein. Um zu begreifen, welcher Wandel sich gegenwärtig vollzieht, welche Bedeutung Meinungsumfragen haben, nach denen die Bevölkerung in der Pflichterfüllung nicht mehr ihre eigentliche Herausforderung sieht, hilft es, nach den historischen Wurzeln des lange Zeit gültigen Pflichtdenkens zu fragen.“

Dass der Stellenwert von Erwerbsarbeit, nur von der ist in Plumpes Beitrag die Rede, sich verändert hat, vor allem bezüglich seines Inhaltes, ist unstrittig, seine normative Bedeutung ist hingegen stärker als früher, man muss sich nur die Erwerbsquote anschauen und die Betreuungsquote in Kitas. Erwerbstätigkeit ist nicht mehr, wie Plumpe für frühere Zeiten behauptet, der Knappheit und dem Mangel geschuldet. Meinungsumfragen sind für eine solche Einschätzung eine schlechte Quelle, weil sie oberflächliche Selbsteinschätzungen wiedergeben. Plumpe neigt teils zu einer etwas mechanischen Deutung des Wandels im Arbeitsverhalten, obwohl er zugleich auf andere Aspekte diesbezüglich hinweist, so z. B. die anfangs religiös aufgeladene Bedeutung von Arbeit, deren normative Geltung sich heute von diesen Wurzeln schon lange gelöst hat:

„Doch Forschungen zur Sozialgeschichte des Arbeitsverhaltens haben ganz eindeutig gezeigt, dass es vor allem die mit der modernen Erwerbsarbeit verbundene Zunahme von Konsumchancen etwa bei Textilien oder bei Genussmitteln wie Tee und Zucker war, die das Arbeitsverhalten vieler Menschen zunehmend änderte. “

„Wir wir fleißig wurden“ – doch wie gelangt der Autor zu seiner Deutung und was übersieht er? weiterlesen

Annahmen ziehen Schlussfolgerungen nach sich, doch sind die Annahmen treffend?

Im Handelsblatt hat Bert Rürup, Wirtschaftswissenschaftler, einst „Wirtschaftsweiser“ und vielfältig Politikberater, einen Beitrag mit dem Titel „Von Hartz IV zum Bürgergeld und zurück“ (wir hatten denselben Titel für einen Kommentar genutzt, siehe hier) veröffentlicht. Wie dem Titel zu entnehmen ist, greift er die Diskussionen um das Bürgergeld auf und ordnet sie ein. Endlich habe auch die SPD ein Einsehen, dass die Einführung des Bürgergeldes ein Fehler war, so liest sich sein Beitrag, als seien damals grundsätzliche Änderungen eingeführt worden. Eher könnte man davon sprechen, dass die Bezugsregelungen etwas weniger strikt ausfielen, aber angesichts einer nach wie vor geltenden Bedürftigkeitsprüfung in Verbindung mit einem sanktionsbewehrten Leistungsbezug konnte nicht ernsthaft von einer wesentlichen Erleichterung für die Bezieher gesprochen werden. Deswegen war schon damals Kritik an der Bezeichnung „Bürgergeld“ laut geworden, da sie etwas suggeriere, das nicht der Fall war, und zwar dass eine Leistung für alle Bürger als Bürger war, ohne sonstige Bezugsbedingungen. Insofern ist die nun vorgesehene Veränderung eben nur eine Rückkehr zu dem, was es zuvor schon gab.

Annahmen ziehen Schlussfolgerungen nach sich, doch sind die Annahmen treffend? weiterlesen

„Ich bin nicht euer Hund“…

…so ist ein Beitrag von Nicolas Kurzawa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke) übertitelt, der über die Erfahrungen von Arbeitsvermittlern im Jobcenter berichtet, Grundlage war ein Besuch im Jobcenter.

Von drei Gesprächen wird berichtet, alle drei sind unterschiedlich – dennoch geben sie Einblick in die alltägliche Arbeit. Solche Berichte kann man nur jedem empfehlen, der sich selbst nicht vorstellen kann, warum jemand Bürgergeld bezieht und er sei denjenigen empfohlen, die mit Haudrauf-Methoden die Debatte um das Bürgergeld angezettelt haben, die behaupten, es gebe ein ungeheures Potential an möglichen Erwerbstätigen, die im Bürgergeldbezug sich ausruhen, ganz zu schweigen von der großen Zahl an „Totalverweigerern“, die dort abhängen und sich ein schönes Leben machen.

Sascha Liebermann

Vollständige Streichung von Sanktionen möglich? Ein Kommentar von Stefan Sell…

…aus dem Jahr 2023 ist zur Klärung hilfreich (siehe den Kommentar hier). Hilfreich ist er, weil zuletzt geradezu empört auf die Vorschläge der Bundesregierung zur „Reform“ des Bürgergeldes reagiert wurde, dabei zeigt ein anderer Kommentar von Stefan Sell aus dem Januar 2024, wer eine solche Verschärfung samt erhoffter Einsparungen schon vorgesehen hatte: die damalige Bundesregierung durch einen Vorschlag des Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

Sell schrieb im Dezember damals:

„Dass das BVerfG unter bestimmten Umständen auch den vollständigen Leistungsentzug als nicht grundsätzlich verfassungswidrig eingestuft haben, ist begründungsbedürftig. Hierzu die Argumentation des Gerichts, die gleichsam von oben nach unten gelesen werden muss: Zwei Begriffe sind hier von zentraler Bedeutung: Der Nachranggrundsatz und eine daraus abgeleitete Mitwirkungspflicht: Dazu das BVerfG, hier zitiert nach dem Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 (Hervorhebungen nicht im Original):

‚Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.'“

Entscheidend ist nach Sell dieser Absatz:

„‚Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.‘ (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, Randziffer 209).“

Vollständige Streichung von Sanktionen möglich? Ein Kommentar von Stefan Sell… weiterlesen

„Über 500 verschiedene Sozialleistungen in Deutschland“…

…hat das ifo-Institut ausfindig gemacht und eine Inventarliste erstellt. Hier ein Auszug aus der Pressemitteilung:

„Als Sozialleistungen gelten Dienstleistungen, Geldleistungen, Sachleistungen oder andere Hilfen, die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit erbracht werden im Sinne der Paragraphen 1 und 11 des Sozialgesetzbuchs I (SGB I). Die Autoren garantieren keine Vollständigkeit der Liste. Experten und Interessierte sind dazu eingeladen, potenzielle Ergänzungen oder Korrekturen mitzuteilen, um die Qualität und Vollständigkeit der Informationen zu verbessern. Die Datenbank ist aufrufbar unter: https://github.com/ifo-institute/sozialleistungen

Hier geht es zur Pressemitteilung

Für die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen ist diese Auflistung interessant, weil damit deutlich gemacht werden kann, welche Möglichkeiten ein BGE stattdessen bietet. Von Beginn der Debatte an waren Fragen nach einer Vereinfachung des Leistungszugangs und der -bereitstellung zentral, damit Anspruchsberechtigte möglichst leicht ihre Ansprüche geltend machen könnten angesichts der hohen Rate geschätzter Nicht-Inanspruchnahme („verdeckte Armut„). Die Frage nach dem Zugang ist eine der Gerechtigkeit, hinzu kommt die Frage nach der Zielgenauigkeit, auch wirklich diejenigen zu erreichen, die sie am meisten benötigen. Der Bereitstellungsmodus entscheidet darüber, ob die Leistungsbereitstellung stigmatisierend ist oder nicht und im Falle eines BGE würde der Modus auf ein anderes Fundament gestellt, weil nun nicht mehr die Rückführung in den Arbeitsmarkt das vorrangige Ziel der Leistungen wäre, sondern die Stärkung der Selbstbestimmung der Bürger als Bürger.

Wenn es um die „Reform“ des Bürgergeldes geht, dann muss sie sich daran messen lassen, welche Antworten sie auf die oben genannten Fragen gibt. Die Messlatte wird durch ein BGE hoch gelegt, weil sich mit ihm viele Leistungen bündeln ließen, ohne andere, die darüber hinaus nötig blieben, in Frage zu stellen.

Sascha Liebermann