Begegnung der Bürger – ein Erfahrungsbericht vom Unterschriftensammeln in der Schweiz

In Deutschland wird die Frage nach einer Stärkung plebiszitärer Elemente, direktdemokratischer Verfahren, in jüngerer Zeit wieder mit mehr Interesse aufgenommen. Das begann schon im Sommer 2010, bevor die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Schweiz lanciert wurde. Doch von einem Durchbruch, einer Etablierung des Themas auch im Rahmen der Bundestagswahl kann keine Rede sein. Groß ist die Verwandtschaft zwischen Bedingungslosem Grundeinkommen und Direkter Demokratie (siehe unsere Kommentare hier und hier), wie groß möchte ich anhand meiner Erfahrungen veranschaulichen, die ich beim Sammeln von Stimmen in der Schweiz gemacht habe. Zwar konnte ich nur wenige Stunden teilnehmen, doch diese Erfahrung war eindrücklich, begeisternd und befremdend.

Das Befremdende sei zugleich erwähnt. Als Deutscher, der nicht in der Schweiz lebt, liegt es nahe sich zu fragen, ob man denn zum Sammeln legitimiert ist. Wer nicht stimmberechtigt ist, hat auch die Folgen der Abstimmung nicht zu tragen, er hat sie allenfalls zu erdulden. Das zeigt sich beim Sammeln sehr deutlich, denn es gilt, die Bürger für die Initiative zu gewinnen, dass also über die Einführung eines BGE abgestimmt werden kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob jemand stimmberechtigt ist oder nicht, ist die erste Frage, die von Bedeutung ist. Nicht unbedingt für den Unterzeichner, der weiß es, aber für den Sammler. Außerdem gilt es, das Bedingungslose Grundeinkommen knapp zu erläutern oder Einwänden zumindest in Ansätzen zu begegnen. Da spielt die Binnenperspektive eine große Rolle, ein wenig über die Sozialwerke Bescheid zu wissen und die Diskussionen, die es darum gibt. Alltagssorgen sind beim Sammeln präsent, wenn um Unterschriften geworben wird und diese Sorgen sind nicht unabhängig von den Lebensverhältnissen und Selbstverständnissen in einem Land. Ich wurde nie gefragt, ob ich stimmberechtigt bin, obwohl ich sprachlich auffiel. Dennoch, vielleicht gerade deswegen, blieb die Grenze deutlich.

Wer Stimmen sammelt, muss auf andere zugehen, er will etwas von ihnen, ihre Unterstützung. Manchmal kamen andere auf uns zu, weil sie von der Volksinitiative gehört haben, meist aber war es nicht so. Auf andere zuzugehen, ganz gleich, wer einem entgegenkommt, verlangt, sich zu öffnen, Vorurteile fahren zu lassen. Denn, erreicht werden sollen ja alle Bürger, jeder könnte dafür sein und auch, wer dagegen ist, könnte sich noch anders entscheiden. Und alle Bürger sind aufgefordert, sich ein Urteil zur Sache zu bilden, denn die Gemeinschaft der Bürger muss die Entscheidung tragen, ganz gleich, wie sie ausgeht. Das unterscheidet das Unterschriftensammeln von denen auch in Deutschland verbreiteten Formen, die für bestimmte Zwecke oder Ziele durchgeführt werden, ohne dass es um ein praktisch folgenreiches Votum geht. Nun geht es zwar bislang erst noch darum, die Stimmen dafür zusammenzubekommen, damit es eine Volksabstimmung geben kann. Das Ziel aber ist klar: eine Abstimmung zu erwirken. Damit ist sofort das Wir derer, die stimmberechtigt sind, die vollgültige Bürger sind, virulent. Was hier theoretisch klingen mag, ist ganz praktisch gemeint und tritt einem mit ganzer Kraft entgegen. In jeder Begegnung, jedes „Haben Sie schon für die Volksinitiative unterschrieben?“ oder „Möchten Sie für die Volksinitiative unterschreiben?“ ist das Wir angesprochen und aufgerufen. Das Wir, aus dem der Sammler spricht, und das Wir derjenigen, die für Unterschriften gewonnen werden sollen.

Die Begegnung unter Gleichen in bestechender Einfachheit und Direktheit, das ist eine Erfahrung des Sammelns, die begeisternd war. Im Sammeln erweist sich, wie gelebte Demokratie aussehen kann, für jeden erfahrbar darin, angesprochen zu werden und Stellung beziehen zu müssen angesichts der Volksintiative. Es zeigte sich auch drastische Ablehnung. „Sicher nöd“ schallte es mir entgegen. Bestechend ist der klare Sinn für das Volk, die stimmberechtigten Bürger. Einer sagte mir, er sei skeptisch, sehe viele Nachteile, unterschrieb dann aber mit den Worten: Darüber solle das Volk entscheiden. Das ist gelebte Demokratie, dem Volk zuzutrauen, entscheiden zu können und ganz gleich bei welchem Ausgang, solange er nicht den Bestand der Demokratie selbst gefährdet, die Entscheidung zu tragen. Bei uns hingegen wird ja gerade dies manchmal gegen Volksabstimmungen vorgebracht, dass auch unangenehme Entscheidungen dabei herauskommen können. Gelebte Mündigkeit und gelebtes Vertrauen bei aller Vorherrschaft des Erwerbsideals auch in der Schweiz. Eine bestechende Erfahrung.

Sascha Liebermann

Freiheit – schwerelos oder eine Anstrengung? Zu einem Beitrag in der Zeitschrift „Schweizer Monat“

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen verheiße ein schwereloses Leben – meint Benno Luthiger in der Zeitschrift Schweizer Monat. Sicher, manche Grundeinkommensbefürworter argumentieren mit einer Freiheit vom Zwang zur Erwerbsarbeit. Auch sie – wie der Kritiker – mögen nicht sehen, dass Freiheit von zugleich Freiheit zu bedeutet, eine Freiheit, die keineswegs schwerelos ist. Denn jeder Mensch lebt in konkreten gemeinschaftlichen Zusammenhängen, in Demokratien als Bürger, und als solcher muss er Stellung beziehen und handeln. Freiheit ist so eine ständige Herausforderung, eine Anstrengung, ja, eine Zumutung.

Republikanische Demokratien setzen genau auf die Bereitschaft, diese Anstrengung auf sich zu nehmen, erkennbar an der Stellung der Bürger im Gemeinwesen: sie sind das Fundament und sie sind es bedingungslos. Folgerichtig heißt es z.B. in der Schweizer Bundesverfassung: „Das Schweizer Volk…“ und nicht „die Schweizer Erwerbstätigen…“. Gleiches liest man im Grundgesetz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Artikel 20 GG) – womit in beiden Fällen die Staatsbürger gemeint sind. Diesen Zusammenhang übergeht der Autor und beschwört sogleich das BGE als kommunistische Idee von „Marxisten“. Da dürfen sozialistische Experimente als mahnendes Beispiel nicht fehlen – eine Verwirrung? Im real existierenden Sozialismus galt die Arbeitsverpflichtung ohne Wenn und Aber, die Bürger galten als Bürger nichts, als Werktätige alles (siehe die Verfassung der DDR (Abschnitt I, Artikel 1)) – das BGE hingegen will das Gegenteil. Dabei hätte es nahegelegen von des Autors Charakterisierung des modernen Angestellten, den heute geforderten problemlösenden Fähigkeiten, die kein Roboter ersetzen kann, zur Bedeutung von Freiwilligkeit in Beruf, bürgerschaftlichem Engagement und Familie hinzuführen. Noch weiter hätte er dann gehen können und sehen, welche Leistungen nicht über Erwerbstätigkeit hinaus, sondern zuvorderst in Familie und Gemeinwesen erbracht werden. Gestärkt, nicht geschwächt, würde diese Freiwilligkeit gerade durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen, weil der Einzelne um seiner und des Gemeinwesens selbst willen etwas gälte. Doch die Entstehungszusammenhänge werden verdreht: „Wo die Angestellten sich in ihrer Arbeit und durch ihre Arbeit entfalten können“, seien sie intrinsisch motiviert. Intrinsische Motivierung ist indes nicht Resultat, sie ist Voraussetzung. Durch widrige Bedingungen kann sie gehemmt, durch gute gefördert, nicht aber geschaffen werden. Genau aus diesem Grund argumentieren einige Befürworter für ein BGE.

„Die Menschen finden enorme Befriedigung, wenn sie ihr Potential umsetzen“ heißt es an anderer Stelle –  was stünde einem BGE dann im Wege? Die Antwort ist letztlich einfach und klar: Zwang wird als Garant nicht nur für Wertschöpfung, sondern auch für die Solidarität der Bürger gehalten. Wer das so sieht, muss die Konsequenzen ziehen, die der Autor zieht – er sitzt damit jedoch nicht in einem anderen, er sitzt im selben Boot wie einige Linke oder gar die sozialistischen Experimente, die er als mahnendes Beispiel anführt. Der Beitrag bezeugt ein ambivalentes Verhältnisses zur Freiheit und ist deswegen interessant. Wie auf der einen Seite der innere Antrieb für Engagement hervorgehoben wird, wird auf der anderen Seite die Notwendigkeit von Zwang betont. Beides zugleich ist jedoch nicht möglich.

Sascha Liebermann

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien hier.

Grundeinkommen in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“

In der 22. Sitzung der Enquete-Kommission (Video und weiteres Material), am 15. Oktober 2012, kam das Bedingungslose Grundeinkommen zur Sprache. Susanne Wiest kommentiert die Sitzung in ihrem Blog und macht dort zudem das Sitzungsprotokoll verfügbar. Auffällig ist an der gesamten Sitzung, welch geringen bis keinen Stellenwert eine bürgerschaftliche Deutung von Gemeinwesen hat, also eine, die das Bedingungslose Grundeinkommen aus diesem Zusammenhang begreift. Siehe auch Sascha Liebermann, „Das Menschenbild des Grundeinkommens – Wunschvorstellung oder Wirklichkeit?“

Wie zum Bedingungslosen Grundeinkommen? Was sind Zwischenschritte und was sind Sackgassen?

Diese Frage ist nicht erst seit dem letzten Kongress des Basic Income Earth Network eine der gewichtigen in der Grundeinkommensdiskussion. Sie stellte sich schon vor vielen Jahren (siehe z.B. die „Zwischenbilanz“ von Götz Werner aus dem Jahr 2008), auch die Diskussion um das Solidarische Bürgergeld von Dieter Althaus machte sich unter anderem daran fest. Kaufkraft und Ausgestaltung eines BGE sind wichtig dafür, ob auch die Effekte eintreten können, die Grundeinkommensbefürworter damit verbinden. Letztlich entscheidet sich jedoch alles daran, was die Menschen aus den Freiräumen, die ein BGE schafft, machen. Diese Offenheit ist nicht zu tilgen, sie bleibt bestehen.

Erhoffbar ist vieles, doch definitiv beantworten lässt sich erst, was geschieht, wenn das BGE einmal eingeführt worden ist. Diese Offenheit bereitet offenbar Unbehagen, nur ungern will man sich ihr überlassen. Aus diesem Grund wird nach Sicherheiten gesucht, Mikrosimulationen sollen sie verschaffen – ein durchaus verständlicher Wunsch, denn wer will sich schon unbedacht ins Ungewisse stürzen. Doch der Schein an Sicherheit, den solche Simulationen versprechen, trügt. Die Offenheit bleibt bestehen, sie lässt sich nicht aufheben. Daraus folgern manche, es sei unverantwortlich, einen Schritt zu wagen, dessen Folgen nicht bekannt sind. Ganz so ist es aber nicht, die Folgen sind ja bekannt: Anerkennung der Bürger um ihrer selbst und des Gemeinwesens willen; Schaffung von Freiräumen und damit mehr Möglichkeiten, das Leben nach eigenem Dafürhalten zu gestalten; Gleichstellung der bislang durch den Vorrang von Erwerbstätigkeit degradierten Tätigkeitsfelder (Familie, bürgeschaftliches Engagement) u.a. Das sind zwar nicht die Folgen, die mit Berechnungsmodellen zu bestimmen versucht werden, es sind aber die Folgen, die ein BGE herbeiführt und auf die es ankommt. Denn alles hängt davon ab, dass die Bürger sich auch zukünftig einbringen – aber das ist banal, galt in der Vergangenheit, in der Gegenwart und wird auch in Zukunft gelten.

Ist diese Offenheit nicht doch eine Überforderung? Wie, wenn es also doch um ein Wagnis geht, ist es möglich, zum BGE zu gelangen angesichts der doch immer noch erheblichen Vorbehalte? Wie können sie überwunden werden, wenn überhaupt? Welche Schritte, auch Zwischenschritte, könnten weiterführend sein, welche nicht? Ingmar Kumpmann hat in seinem Beitrag „Zwischenschritte zum Grundeinkommen…“ schon vor beinahe einem Jahr treffend dargelegt, dass überall dort, wo sich Ansatzpunkte zu bieten scheinen, zu allererst die Frage beantwortet werden muss, ob diese Ansatzpunkte die Erwerbszentrierung aufheben oder nicht. Er nennt einige Beispiele, die genau diesen Schritt nicht erlauben. Ich habe ebenfalls Beispiele dafür genannt, wie vermeintliche Anknüpfungspunkte in eine Sackgasse führen können (siehe meine Kommentare zum Kindergrundeinkommen und zum Mindestlohn). An ihnen anzusetzen, würde also nicht einen Zwischenschritt zum Grundeinkommen, sondern einen in eine Sackgasse bedeuten.

Weil die größte Barriere für die Einführung des BGE die heutige Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit vor allem anderen ist, dann ist nur von solchen Zwischenschritten etwas zu erwarten, die diese Vorrangstellung aufheben oder ihrer Aufhebung zuarbeiten. In der Diskussion um das Solidarische Bürgergeld, das nicht selten als Mogelpackung gescholten wurde (z.B. hier), war ein solcher Ansatz enthalten, wenn auch die Höhe des zu erreichenden Betrags (nach heutiger Kaufkraft) zu niedrig angesetzt war (siehe einen meiner Kommentare hier). Aber eines wäre in der damaligen Form denkbar gewesen. Selbst ein niedriges Grundeinkommen in der Höhe von 600 Euro hätte den Bruch mit der Überbewertung von Erwerbstätigkeit ebnen können – zu einer solchen Einschätzung ist auch Philippe van Parijs anlässlich des BIEN-Kongresses gelangt. Für eine alleinstehende Person hätte es, obwohl niedriger als verfügbare ALG II-Leistungen, eine bestimmte Absicherung nach unten bedeutet, ohne die ALG II-Bedingungen mitzuschleppen. Ein Haushalt, bei entsprechender Ausgestaltung, hätte Einkommen kumulieren können. Der damalige Vorschlag hatte also das Zeug, eine Tür aufzustoßen.

Gilt das auch für den Vorschlag eines Sockeleinkommens, wie ihn die Sozialpiraten vorgestellt haben? Der Gedanke ist nachvollziehbar. Durch die universelle Ausschüttung einer Steuerrückvergütung pro Person von 50 Euro wäre ein Grundeinkommen im allgemeinen Sinn des Wortes geschaffen – das unterscheidet diese Steuerrückvergütung von allen Leistungen, die wir geute haben. Es wäre an keine Leistungsbedingung mehr geknüpft, alle bezugsberechtigten Personen würden es erhalten. Statt einer „ex post“-Ausschüttung, wie sie für die Negative Einkommensteuer kennzeichnend ist, wäre es eine „ex ante“-Ausschüttung. Hätte sie das Zeug, den Weg zum BGE zu ebnen? Im Unterschied zum damaligen Vorschlag von Dieter Althaus ist der Betrag so niedrig, dass er nicht einmal kumulativ – für eine Familie – von Bedeutung wäre. Zwar würde die Kaufkraft erhöht (sofern die gesamte Ausgestaltung entsprechend wäre), doch die niedrigen Beträge schüfen keine Freiräume von Gewicht, hätten eher symbolischen Charakter. Ist es dennoch denkbar, dass ein Sockeleinkommen langsam zur Erosion der Erwerbszentrierung beitrüge? Ich halte es aufgrund der niedrigen Höhe für fragwürdig. Stärker gewichten würde ich noch einen anderen Aspekt. Weshalb nicht die öffentliche Debatte und Verbreitung der Idee fördern, um damit einer größeren Akzeptanz eines ausreichend hohen BGE zuzuarbeiten statt mit einem solchen Konzept anzusetzen? Beides zugleich kann man nicht glaubwürdig tun, weil das eine dem anderen entgegenläuft. Angesichts dessen, dass auch für diesen Vorschlag ein Umstellung samt Gesetzesänderungen notwendig ist, weshalb dann so zögerlich vorgehen, statt gleich anders anfangen, z.B. mit der Neufassung des Grundfreibetrags in der Einkommensteuer hin zu einer Ausschüttung an alle?

Eine weitere Frage ergibt sich daraus, wie schnell ein BGE denn eingeführt werden solle, von heute auf morgen könne es ja nicht geschehen, sagen wohlwollende, indes ein wenig skeptische Befürworter. Das ist wohl wahr, aber auch trivial und angesichts der laufenden Debatte seit gut acht Jahren, die noch weiter sich ausbreiten muss, damit es zu einer Einführung kommen kann, ohnehin keine Option. Alleine die Diskussion hat schon manches in Bewegung gesetzt und wird es auch weiterhin tun. Bis der Tag gekommen sein wird, da das BGE eingeführt werden soll, haben sich die Bürger, deren Mehrheit notwendig ist, schon darauf eingestimmt, sonst würde es zur Mehrheit gar nicht kommen. Damit wäre dann ohnehin der Weg beschritten, der in einer Demokratie beschritten werden sollte: Willensbildung durch Debatte. Stimmen, die einer langsamen Einführung das Wort reden, da die Menschen auf diese Weise ebenso langsam an die neue Situation sich gewöhnen könnten, laufen den Grundfesten der Demokratie entgegen – sie fördern eine Pädagogisierung der Bürger. Was der Souverän will, wozu er sich bereiterklärt, das kann und muss er in aller Konsequenz selbst artikulieren und auch aushalten. Durch nichts anderes zeichnet sich die Mündigkeit aus, auf die wir schon heute setzen und die zukünftig ebenso unerlässlich sein wird (siehe dazu meinen Beitrag in diesem Band).

Sascha Liebermann

Muss eine Partei Modelle liefern, um Bürger für eine Umgestaltung des Gemeinwesens zu gewinnen?

Seit dem Beschluss der Piratenpartei, sich für ein Bedingungsloses Grundeinkommen einzusetzen, der auf dem Bundeskongress in Offenbach im vergangenen Dezember gefasst wurde, wird diese Frage intern debattiert. Selbstverständlich erwarten auch die Medien solche „Lieferungen“ und noch mehr richtet sich die Kritik etablierter Parteien (siehe auch hier) auf die Piraten, weil sie sich entweder noch nicht konkret geäußert hätten oder Vorschläge, die zum Beispiel auf der Plattform „Sozialpiraten“diskutiert werden, für eine Verschlimmbesserung gehalten werden. Muss sich aber eine Partei auf ein Modell festlegen, bevor es eine breite öffentliche Diskussion gibt? Ist das eine legitime Erwartung oder ist diese Erwartung Ausdruck des bisherigen Denkens über die Stellung der Parteien im Prozess der politischen Willensbildung? Gerade sie könnte sich auch durch ein BGE ja ändern. Mit diesen Fragen und anderen befasst sich Susanne Wiest, selbst aktiv bei den Piraten, auf ihrer Website.

Wie ein Grundeinkommen wider Willen verhindern? – Zu einer Aktion von „attac Bonn“


Schon vor einiger Zeit (2009) stellte Attac Bonn einen symbolischen 1000 Euro-Schein her, um für den Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens zu werben.

Auf der Rückseite des Scheins findet sich folgender Text:

„Das bedingungslose Grundeinkommen ist Teil einer Strategie umfassender öffentlicher Daseinsvorsorge. Es umfasst drei Elemente:
1. eine Geldzahlung, die individuell, ohne Arbeitszwang oder sonstige Bedingungen in existenzsichernder Höhe an alle gezahlt werden soll, die hier leben,
2. den Erhalt und Ausbau der bestehenden sozialen Sicherungssysteme hin zu einer solidarischen Bürgerversicherung unter Heranziehung aller Einkommen und einer hälftigen Beteiligung der Arbeitgeber, die perspektivisch auch das Grundeinkommen auszahlen soll,
3. für die Benutzerinnen und Benutzer kostenlose öffentliche Infrastruktur, die nicht nur Bildung, öffentliche Betreuungs- und Hilfsangebote, Nahverkehr betrifft, sondern tendenziell auch Mobilität allgemein und Wohnen.
Es ist ein globales Projekt der Umverteilung, mit seiner Einführung muss im Süden begonnen werden. Es zeigt seine emanzipatorische Wirkung darin, dass es Armut beseitigt, das materielle Überleben der Menschen vom Zwang zur Lohnarbeit entkoppelt und die Abhängigkeit von Frauen vom „Familienernährer“ aufhebt, so dass alle, Frauen und Männer, die Freiheit haben „nein“ zu jeder Zumutung zu sagen, der sie sich nicht freiwillig stellen wollen.“

Manches könnte zu den einzelnen Punkten gesagt werden, an denen auch Differenzen in der Grundeinkommensdiskussion sichtbar werden. Viel weitreichender ist aber das Demokratieverständis, das in den Ausführungen im letzten Absatz hervortritt. Selbstbestimmung wird über die Köpfe derer hinweg verstanden, deren Selbstbestimmung gerade Zweck eines BGE sein sollte. „Ein globales Projekt der Umverteilung“ ins Auge zu fassen setzt auch eine globale Legitimierung dieses Projekts voraus. Wessen Projekt aber ist es, um das es hier gehen soll?

Wo es keine globale Rechtsgemeinschaft und keinen globalen, demokratisch legitimierten Souverän gibt, kann es auch kein demokratisch legitimiertes globales Projekt geben. Niemand kann also niemandem ein Mandat dafür erteilen, ein solches Projekt durchzuführen. Mit gutem Grund sind selbst die Mandate der UN begrenzt. Alle existierenden supra- wie transnationalen Institutionen (UNO, IWF usw.) sind in ihrer Legitimierung von den Nationalstaaten als souveränen politischen Gemeinschaften abhängig – wie gerade die Erfahrungen der jüngsten Gegenwart vor Augen geführt haben (Libyen, Syrien usw.). Manche mögen das beklagen, weil sie sich eine Weltgemeinschaft herbeiwünschen. Daran ist nichts zu kritisieren, herbeiwünschen kann man sie, es mag sie auch eines Tages geben, wenngleich ich das für unwahrscheinlich halte. Solange es sie aber nicht gibt, unterläuft eine solche Strategie der globalen Einführung die bestehenden demokratisch legitimierten Gemeinwesen. Sie vollzieht, worüber wir uns zurecht beklagen, wenn es um die Europäische Union geht: über die Bürger allzuleicht hinwegzusehen. Wer darüber hinweggeht, dass es nach wie vor keine legitime Instanz der Interessenvertretung jenseits von Nationalstaaten gibt, stärkt nicht den Souverän, er schwächt ihn. Was progressiv klingt, weil global gedacht, unterminiert die Souveränität politischer Gemeinschaften.

Attac unterstellt ein Wir, das als verfasstes Gemeinwesen nicht existiert, und weil es nicht existiert, wirft das ein bezeichnendes Licht: Attac spricht offenbar für die anderen, vereinahmt diese und erlegt ihnen ein politisches Ziel auf. Von Souveränität kann keine Rede sein, demokratisch geht es hier schon gar nicht zu, und die Interessen von Bürgern anderer Länder werden schlicht ignoriert. Ob ein BGE gewollt ist, können wir nicht wissen, solange die Bürger sich nicht dafür ausgesprochen haben. Schon gar nicht ist es unsere Angelegenheit, in einem anderen Land etwas durchzusetzen. Was hier als progressiv und emanzpatorisch daherkommt, ist – gemessen an den Prinzipien der Demokratie – undemokratisch und bevormundend.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass in dem Text weder von Bürgern als Staatsbürgern noch von einem Gemeinwesen die Rede ist. Demokratische Legitimierung und Volkssouveränität scheinen den Verfassern nichts zu bedeuten, das ist erschreckend. Wäre es anders, hätte ein derart bevormundender Text nicht geschrieben werden können. Ähnlich wie Forderungen danach, vor der Einführung eines BGE müsse zuerst das „System“ geändert oder etwa Menschen zum Umgang mit Freiheit befähigt werden, ist die Forderung, zuerst im Süden zu beginnen, eine gute Strategie, das BGE zu verhindern, zumindest aber den Weg dorthin zu erschweren. Man tut gut daran, sich genau anzuschauen, was Befürworter eines BGE wollen. Selbst aus einem auf die Stärkung der Bürger und der Demokratie zielenden Vorschlag (wie wir ihn vertreten), kann so ein Instrument der Entmündigung werden.

Sascha Liebermann

Siehe auch „Grundeinkommen – national, global, egal?“ (Gespräche über morgen) und „Vielfältige Möglichkeiten, eigenartige Hindernisse“

Expertenstudien: einfache Feststellungen oder komplexe Herleitungen?

Expertisen sind in unserer Zeit von enormer Bedeutung, ihre Ergebnisse allerdings alles andere als einfach zu verstehend, sie sind Fakten, Gemachtes, nicht einfach Vorfindbares – auch nicht in der Statistik (siehe „Lügen mit Zahlen – Statistik und Demoskopie“ und „Die Soziologin spricht über das Leben – und verwechselt es mit Statistik„). In jeder Diskussionsrunde in Fernsehen und Radio, bei öffentlichen Veranstaltungen wie bei Fachveranstaltungen werden Studien herangezogen, um zur Diskussion stehenden Fragen zu beantworten (siehe „So viele Erwerbstätige wie nie zuvor…“). Sehen wir einmal von solchen Studien ab, die bestimmte Interessenlagen bedienen sollen und nehmen nur Bezug auf solche, bei denen das Streben nach werturteilsfreier unabhängiger Begutachtung angestrebt wird. Die größte Schwierigkeit und Herausforderung besteht immer darin zu erkennen, was sich mit Hilfe einer Studie denn überhaupt aussagen lässt. Welche Schlussfolgerungen auf der Basis welcher Daten sind angemessen und tragfähig?

Studienergebnisse in ihrer Bedeutung einzuschätzen ist ein komplexes Unterfangen, das ohne Fachschulung oder ausgeprägte Beschäftigung damit, nicht möglich ist. Es reicht, um eine solche Bewertung anzustellen, nicht aus, Ergebnisse der einen mit Ergebnissen einer anderen Studie zur gleichen Frage zu vergleichen. Notwendig ist auch zu wissen, welche Daten wie erhoben und ausgewertet wurden. Nur wenn man um die Erhebung weiß, kann man die Qualität der Daten einschätzen. Nur wenn man die Auswertung zu Gesicht bekommt, kann man ermessen, wie ausgewertet worden ist und welche Schlussfolgerungen wie gezogen wurden.

Ein Beispiel für die hier behandelte Problematik bietet die vor wenigen Monaten vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) veröffentlichte Studie, die sich mit der Wirkung von Studiengebühren auf die Studienneigung von Studenten befasst. Diese Studie hat unter anderem auch Jürgen Kaube in der FAZ (10.10.2011, online nicht verfügbar) rezipiert, um zu behaupten, dass Studiengebühren niemandem vom Studium abhalten. Wolfgang Lieb (Nachdenkseiten) hat sich diese Studie genauer angesehen und gibt somit einen Einblick in die Schwierigkeiten, eine Studie zu bewerten.

Aus diesen Betrachtungen folgt nun nicht, dass politische Entscheidungen, dass das Wollen eines Gemeinwesens von Studien beantwortet werden könnte, auch wenn mancher Experte das suggeriert. Studien können im besten Fall über Zusammenhänge und mögliche Auswirkungen aufklären. Entscheidungen können auf ihrer Grundlage sorgfältiger durchdacht werden. Wohin dann eine Praxis will, welche Folgen sie zu verantworten und auszuhalten bereit ist, das muss sie selbst entscheiden (siehe auch „Bürger, Experten, Demokratie“). Gestalten zu wollen, das ist der Sinn politischer Entscheidungen, geschieht – nach Abwägen von Vor- und Nachteilen – immer im Vertrauen darauf, dass sich auch unerwünschte Folgen bewältigen lassen. Daran führt kein Weg vorbei, es sei denn: man verzichtet darauf, Entscheidunge zu gestalten und lässt das Leben einfach auf sich zukommen

Sascha Liebermann

Referendum in Griechenland, Finanzkrise und bedingungsloses Grundeinkommen

Die Griechische Regierung will per Referendum zu einer Entscheidung über die Pläne der EU gelangen. Dieses Vorhaben hat für Aufruhr gesorgt. Ökonomen äußern sich drastisch, wie z.B. Michael Hüther, zitiert nach der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Alles in allem scheint es wie ein politischer Selbstmord aus Angst vor dem Tode.“ Sagt das nun mehr über ihn oder über die Lage in Griechenland?

Offensichtlich fällt es diesen Experten schwer, die Stellung des Volkes als Souverän in einem demokratischen Gemeinwesen zu begreifen. Sie haben ein technokratisches Verhältnis zur Demokratie. Die richtigen Lösungen halten sie bereit, das Volk soll sie abnicken, da es selbst nicht mündig ist, um über seine Zukunft zu befinden. Nicht Experten allein haben ein hochmütiges Verhältnis zum Volk, muss man hier hinzufügen, das Volk selbst hat ein solches zu sich, wie Diskussionsveranstaltungen zum Grundeinkommen einem eindrücklich zur Erfahrung bringen. Dabei steht dieser Hochmut im Widerspruch zu den alltäglichen Lebensvollzügen, die einem etwas ganz anderes vor Augen führen. Dass die Bürger sehr wohl ihr Leben in die eigenen Hände nehmen, aber nach ihrem Dafürhalten und nicht nach dem der anderen, bezeugt die eigene Erfahrung.

Wir könnten zugespitzt sagen, ein Großteil der gegenwärtigen Probleme entspringen dem Misstrauen untereinander. Ein Referendum in der Lage, in der Griechenland sich befindet und die es mitzuverantworten hat, kann Klarheit bringen. Stimmen die Bürger für die EU-Pläne, dann haben diese Pläne großen Rückhalt und können nicht mehr einfach als EU-Diktat abgetan werden. Die Griechen müssen sie dann tragen. Lehnen sie diese Pläne ab, müssen sie die Konsequenzen ebenso tragen und andere Lösungen vorschlagen. Vielleicht führt gerade ein solches Referendum dazu, dass wir in der EU erkennen, woran es mangelt: am Vertrauen in die Bürger, vor ihnen haben sich politische Entscheidungen zu rechtfertigen, sie müssen sie aushalten und tragen – nicht Investoren und Händler.

Es gibt aber andere Stimmen zum Referendumsvorhaben:
„Demokratie ist Ramsch“ (Frank Schirrmacher, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
„Referendum in Griechenland“ (Wolfgang Lieb, Nachdenkseiten). An diesem Beitrag ist erstaunlich, wie positiv sich der Autor zum Referendum äußert. In der Vergangenheit war das anders (siehe unseren früheren Hinweis).

Siehe unseren früheren Beitrag zum Thema Volksentscheid und direkte Demokratie hier.

Wie anders die Lage wäre, wenn es schon ein Grundeinkommen gegeben hätte? Wäre es zur Finanzkrise überhaupt gekommen? Es spricht manches dafür, dass unsere Lage ganz anders aussähe.

Sascha Liebermann

Nachtrag: Nun soll doch kein Referendum in Griechenland durchgeführt werden. Verfolgt man die Meldungen z.B. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und bei Spiegel Online, dann ging es für Papandreou darum, mit einem möglichen Referendum Druck auf die größte Oppositionspartei auszuüben. Ob dieses Taktieren dazu förderlich ist, die Gefolgschaft des Volkes für die EU-Pläne zu gewinnen, kann bezweifelt werden. Womöglich richtet es mehr Schaden an, lässt das Misstrauen eher noch wachsen.

„Bedingungsloses Grundeinkommen: Zukunftsmodell oder zu phantastisch?“ – Audiomitschnitt online

Unter diesem Titel diskutierten am 26. Mai in Frankfurt am Main Axel Gerntke (IG Metall) und Sascha Liebermann über das bedingungslose Grundeinkommen. Eingeladen hatte dazu die Humanistische Union Frankfurt. Kurz zusammengefasst kann die Diskussion auf folgendes Fazit gebracht werden.

Auf der eine Seite, Axel Gerntke, stand die Position, die das Erwerbsprinzip möglichst breit ausweiten will. Dazu sollen die Verkürzung der Arbeitszeit, die Erhöhrung der Erwerbsquote, der Ausbau der Kinderbetreuung und andere Maßnahmen dienen. Obwohl Gerntke eingestand, dass all die Leistungen, die jenseits des Arbeitsmarkts erbracht werden, ebenso wichtig sind, wollte er die Konsequenz nicht ziehen, sie dann durch ein bGE zu ermöglichen. Nicht von ungefähr wiederholte er mehrfach die Formel, dass die einen die Leistungen erbringen, von denen die anderen leben. Auch der Hinweis von Sascha Liebermann, dass diese Relation zweiseitig sei, dass eben auch die Erwerbstätigen von den Leistungen derer leben, die nicht erwerbstätig sind, ließ er nicht gelten. Die Familie sei Hort des Patriarchats und emanzipationsfeindlich. Man könnte auch sagen, er plädierte für die Totalisierung des Erwerbsprinzips und eine Emanzipation von oben. Da wunderte nicht mehr, wie fremd ihm der Begriff des Bürgers als Citoyen, als Fundament der Demokratie war. Es war dann auch nicht weit bis zur These, ein Gemeinwesen bedürfe der Solidarität und die gehe nicht auf Individuen zurück, sondern auf Gruppen und Klassenverhältnisse.

Für die andere Seite stand Sascha Liebermann, dessen Position ausreichend bekannt ist. Für Interessierte sei auf zwei frühere Blogbeiträge verwiesen, hier der eine, hier der andere. Er plädierte dafür, Emanzipation von unten zu denken, dadurch dass den Bürgern Freiräume eröffnet werden und sie dann das Leben entfalten könnten, das für sie im Einklang mit dem Gemeinwesen steht, gleichwohl aber in ihrer Hand belassen wird.

Diskussion online hören oder herunterladen

Wenn der eine für den anderen arbeiten muss – Gregor Gysi zum Grundeinkommen

Auf Abgeordnetenwatch hat Gregor Gysi folgendermaßen auf eine Frage zum Grundeinkommen geantwortet:

„…selbstverständlich müssen Lebensmittel, Kleidung etc. erarbeitet werden. Wenn ich einer Person Geld gebe um sich das alles zu besorgen, ohne einen Handschlag zu tun, dann heißt dass, das ein anderer bzw. eine andere für diese Person mitarbeiten muss. Dafür kann es viele Gründe geben, die ich für gerechtfertigt halte. Wenn aber ein junger Mann nicht die geringste Lust zu irgendeiner Arbeit hat, dann wird die ganze Angelegenheit problematisch. Sie können es drehen und wenden wie Sie wollen, eine andere bzw. ein anderer muss für ihn mitarbeiten und der oder dem kann ich es nur schwer erklären.

Selbstverständlich kenne ich den Artikel 1 des Grundgesetzes, und ich weiß, dass jeder Anspruch auf eine Versorgung hat. Aber moralisch überhaupt nicht zu unterscheiden und einfach jeder und jedem das gleiche Grundeinkommen zur Verfügung zu stellen, scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein…“

Siehe zu diesem Einwand zwei Kommentare von Sascha Liebermann aus anderem Anlass:
1) Kostgänger des Staates, 2) Deutschland, eine Arbeitsgesellschaft?
Die Haltung Gregor Gysis, die Erwerbstätige über Bürger stellt, findet sich häufig – allerdings nicht nur dort – in Gewerkschaftskreisen. Siehe einen Beitrag von Axel Gerntke (IG Metall)
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