Warum nur die eine Seite zitieren?

Hier die Studie, aus der nur ein Teil zitiert wurde und ich die entsprechende Passage ergänzt habe, sie befindet sich auf S. 56. Die Frage, worin denn positive Effekte bestehen, ist eine Frage des Maßstabes, woran also der „Erfolg“ gemessen wird. Interessant auch der Verweis auf „Anreizwirkungen“ – das sind die üblichen Modellannahmen, obwohl „Anreize“, wenn der Begriff schon gebraucht wird, eine komplexe Angelegenheit sind und keine simple.

Sascha Liebermann

„Ja, bei uns wurde jede Arbeit anerkannt“ – und dennoch gilt der Vorrang von Erwerbstätigkeit

In einem Interview, das Zeit Online mit der neuen Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, geführt hat, geht es um vieles und es geht um ihr Verständnis von Arbeit, Sozialstaat und Sanktionen. Wäre es zu erwarten, dass seit ihrem Rücktritt als SPD Vorsitzende und ehemalige Bundesministerin sich womöglich ihr Verständnis diesbezüglich verändert hat (siehe unsere früheren Kommentare hier und hier)?

„ZEIT: Hätte Ihr Vater das, was man heute Care-Arbeit nennt, als Arbeit gelten lassen?

Nahles: Ja, bei uns wurde jede Arbeit anerkannt. Es gab eine typische Arbeitsteilung. Aber Arbeit habe ich bei uns zu Hause immer ganz stark als etwas Gemeinschaftliches erlebt, etwas, das ein »Wir« beinhaltet. Meine ersten Kindheitserinnerungen sind damit verbunden. Ich war vier Jahre alt, 1974 muss das also gewesen sein, da wurden Zuckerrüben auf dem Feld geerntet. Die haben wir unseren drei Kühen im Winter zugefüttert. Die Strünke wurden von den Erwachsenen abgeschnitten, die ließen sie einfach fallen, damit es schneller geht. Und die kleinsten Kinder mussten diese Strünke auf einen Haufen schichten. Die Belohnung war ein Glas selbst gemachter Himbeersaft. (lacht)“

Diese Ausführungen würden einen weiten Blick über die Leistungen erwarten, von denen ein Gemeinwesen lebt, denn Nahles unterscheidet hier nicht zwischen Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit – beides wurde „anerkannt“. Aufschlussreich ist, dass das einfache Füreinanderdasein, hier der Eltern für die Kinder, keine Rolle spielt, davon lebt ein Gemeinwesen aber ebenso. Doch dazu äußert sie sich im Interview nicht weiter.

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„Aber hatte nicht das Bundesverfassungsgericht …? Hat es nicht“…

Wegen der aktuellen Diskussion um ein „Bürgergeld“ sei hier an die Kommentierung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 durch Stefan Sell erinnert, der die ganze Widersprüchlichkeit deutlich macht. Sie führt dazu, dass verschiedene Dinge aus diesem Urteil abgeleitet werden können, auch der vollständige Leistungsentzug, ebenso aber, dass das Grundgesetz keine Sanktionen verlangt, der Gesetzgeber sie aber einführen kann.

Sascha Liebermann

„Bürgergeld statt Hartz IV: Was sich Langzeitarbeitslose von der geplanten Reform erhoffen“…

….darum geht es in einem Teil des DIW-Wochenberichts 31/22. Berichtet wird unter anderem über eine standardisierte Befragung von Langzeitarbeitslosen und deren Einschätzung des Reformvorhabens, in der Grafik wird das Ergebnis dargestellt. Interessant sind die Ergebnisse bezüglich der Vorstellung darüber, wie das System ausgenutzt werde und die Einstellung zur Abschaffung von Sanktionen. Dass gerade Leistungsbezieher sich nicht rundweg gegen Sanktionen aussprechen mag manchen überraschen, der ein verklärtes Bild davon hat, wie diejenigen ein Sozialstaatsgefüge betrachten, die davon betroffen sind. Fachlich betrachtet ist das Ergebnis gar nicht überraschend. Was eine solche Befragung aufgrund ihrer methodischen Grenzen nicht freilegen kann, ist die konkrete Haltung der Befragten zu diesem Komplex, die Widersprüchlichkeit ihrer Auskünfte und die viel weniger klare Abgrenzung in den Haltungen zu verschiedenen Fragen. Um das zutage zu fördern wären nicht-standardisierte Forschungsgespräche hingegen sehr geeignet (offene Interviews), die dann detailliert ausgewertet werden müssen (zur Diskussion dazu siehe z. B. hierhierhier und hier).

Sascha Liebermann

Soziokulturelles Existenzminimum, Mitwirkungspflichten und Boni-Systeme

Sebastian Thieme hat in diesem Twitter-Thread bedenkenswerte Anmerkungen zu Sanktionen im Sozialgesetzbuch und dem diesbezüglich ambivalenten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemacht. An manchen Stellen scheinen mir Ergänzungen oder auch Nachfragen dazu angebracht.

Dass es eine Widersinnigkeit sei, das soziokulturelle Existenzminimum kürzen zu dürfen, dem sei hier nicht widersprochen, schließlich wird der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, der sich aus derselben Begründung legitimiert, auch nicht bei abweichendem Verhalten gekürzt. Darin kommt nun wieder die Ungleichbehandlung zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen zum Ausdruck.

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Die Schulpflicht lässt grüßen – wer „schwänzt“, muss sanktioniert werden, aber: was ist daran unternehmerisch?…

…Immer wieder verwunderlich ist, wie wenig unternehmerisch Verbände denken, die doch Unternehmer vertreten wollen. Wenn hier Sanktionen als unerlässlich betrachtet werden, stellt sich die Frage, ob denn dieser Verband auch Mitarbeiter sucht, die sich bewerben, um der Sanktionsdrohung zu entgehen oder ob Mitarbeiter entscheidend sind, die bei einem Unternehmen arbeiten wollen. Unternehmen sind doch keine Erziehungsanstalten (siehe auch hier), haben sie nicht Besseres zu tun?

Unweigerlich drängt sich die Frage auf, welches Verständnis von „Personalentwicklung“ und „Mitarbeiterführung“ dort denn vorherrscht? Unternehmerisch gedacht ist das jedenfalls nicht, denn dann würde Wertschöpfung im Zentrum stehen und man sich fragen müssen, wie sie am besten zu erreichen ist, ob das mit oder ohne Mitarbeiter geschieht, darf keine Rolle spielen. „Beschäftigung“, wie es manchmal heißt, muss sich daran bemessen, ob sie dafür notwendig oder erlässlich ist. Für die grundlegende Einkommenssicherung muss das Gemeinwesen sorgen, es muss Bedingungen schaffen, dass sich Leistungsbereitschaft entfalten kann, sie muss weder „erzeugt“ noch durch „Motivation“ hervorgebracht werden. Das Anreiz-Denken hat seine Spuren hinterlassen – auch in der Schulpflicht.

Sascha Liebermann

„Ein Alltag ohne soziale Demütigung – das ist das Grundrecht aller, ausnahmslos“…

…so ein bekanntes Zitat der SPD-Politikerin Regine Hildebrandt, doch was hätte sie zum Bedingungslosen Grundeinkommen gesagt, hätte sie denn dafür plädiert, dass das Existenzminimum frei von Sanktionen und Bedürftigkeitsprüfung bereitgestellt werden müsste? Hätte Sie dafür plädiert, Sorgetätigkeiten zu ermöglichen auf der Basis eines auskömmlichen BGE? Manch einer (siehe auch hier), der die Würde des Individuums hochhält und Sanktionen für unangemessen erklärt, will Sanktionen doch nicht aufgeben und hält Erwerbstätigkeit für den entscheidenden Hebel, um Armut zu verhindern. Wie Frau Hildebrandt, die eine vorbehaltlose Befürworterin der Sozialhilfe war und sie für eine große Errungenschaft hielt, das gesehen hat, können wir einer Rede aus dem Jahr 1999 entnehmen:

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„Geld für’s Nichtstun“ – die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat ein sonderbares Verständnis des Existenzminimums…

…die Vehemenz Ulrich Schneiders in Ehren, aber was ist sein Gegenvorschlag, wenn er doch am Bedürftigkeitsprinzip festhalten will?

Siehe auch „‚Bürgerfreundlichkeit‘ fordern, am Bedürftigkeitsprinzip aber festhalten“ und „Hartz IV abschaffen, Sanktionen abschaffen, aber Bedürftigkeitsprüfung beibehalten – warum nicht einen Schritt weitergehen?

Sascha Liebermann

Wie ist es denn nun mit Sanktionen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Stefan Sell hatte schon kurz nach der Verkündigung des Urteils auf die Widersprüche hingewiesen (siehe Link im Tweet oder auch hier).

Sascha Liebermann

„Widerstand gegen Hartz-IV-Pläne der Ampel“,…

…darüber berichtet die Süddeutsche Zeitung und versammelt Stimmen, die gegen eine vorübergehende Aussetzung von Sanktionen im Arbeitslosengeld II sind. Wenig überraschend ist der entscheidende Einwand,  mit der Aussetzung von Sanktionen falle das ultimative Druckmittel weg, um gegen Pflichtverletzungen durch Leistungsbezieher vorzugehen.

Das ist richtig, die Gegner dieser Aussetzung sind hier klarer als manche Kritiker von Sanktionen, die zwar bestimmte Sanktionsformen nicht mehr wollen, an Sanktionen grundsätzlich aber sehr wohl festhalten. Die Frage, die sich stellt, ist, wie lässt sich die Befürwortung eines vorbehaltlos geltenden Existenzminimums damit vereinbaren, dasselbe kürzen zu können? Ist das Existenzminimum nun unverfügbar oder ist es das nicht? Und wie verträgt sich das ganze mit den Grundfesten der Demokratie, dem Mündigkeitsprinzip, dem Vertrauen in die Autonomie? Im Grunde gar nicht. Die Gerechtigkeitsvorstellungen, auf die im Beitrag verwiesen wird, sind damit auch nicht im Einklang. Genau darüber braucht es eine intensive Diskussion.

Sascha Liebermann