…das klingt schon ganz anders als die offiziellen Meldungen der Bundesagentur für Arbeit, auf die wir gestern ebenso hingewiesen haben wie auf die inoffizielle Arbeitslosigkeit.
Ein Leser schrieb uns, um auf die Aufstocker hinzuweisen, die im Grunde noch dazugerechnet werden müssten. O-Ton-Arbeitsmarkt hat dies dankenswerterweise schon getan, worauf wir hiermit aufmerksam machen wollen.
Nachdem das erste Aufheulen um die Äußerungen des Spitzenkandidaten der SPD, Martin Schulz, passé ist, wird wieder Klartext geredet. Mehrfach ist, nun auch von der taz (siehe ebenso die Kommentare von Stefan Sell hier und hier), darauf hingewiesen worden, dass lediglich die etwaige Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Bezieher über 50 Jahre in Erwägung gezogen wird. Von Veränderungen im Arbeitslosengeld II war in seinen Äußerungen gar nicht der Rede. Die Agenda 2010 ist von ihm also überhaupt nicht in Frage gestellt worden.
In dieselbe Richtung weisen Äußerungen aus der CDU. Bleiben also noch die Linke und die Grünen übrig. Aber was ist von dort zu erwarten? Von den Grünen wurde jüngst ein „8-Punkte-Plan“ veröffentlicht. Darin wird eine sanktionsfreie – andere nennen sie repressionsfreie – Grundsicherung „angestrebt“. Ein schönes Ziel, denn das klingt gut angesichts der Sanktionspraxis im Bereich des Arbeitslosengeldes II. Wie realistisch ist das?
Ein Sozialstaat, in dessen Zentrum Erwerbstätigkeit steht, kann auf Sanktionen gar nicht verzichten. Sie dienen dazu, Leistungsbezieher anzuhalten ihren Pflichten nachzukommen. Ohne Sanktionen hätten die Jobcenter keine Druckmittel. Auf diesen Zusammenhang hat Helga Spindler, eine vehemente Kritikerin gegenwärtiger Sozialpolitik, sehr deutlich und durchaus widersprüchlich hingewiesen.
Wer also eine Abkehr vom Sanktionsregime will, muss die Erwerbszentrierung aufheben und das Mindesteinkommen ohne Wenn und Aber bereitstellen. Alles andere ist illusionär. Wer also weder Repressionen noch Sanktionen will, muss einen Schritt weiter gehen, um das zu erreichen. Dann wäre er aber schon beim BGE.
…Viele Politiker empfinden die Abstiegsängste der Bürger als eine Art Wahrnehmungsstörung. Da muss man sich fragen, ob diese Politiker überhaupt wissen, welche Politik sie zu verantworten haben.“
Ein Kommentar von Frank Lübberding in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur letzten Sendung von Maybrit Illner, in der es um „Abstiegsängste der Bürger“ ging, legt den Finger in manche Wunde. Lübberding zeigt auf, dass es sich bei den angesprochenen Ängsten keineswegs um eine gestörte Wahrnehmung der Bürger handelt, sondern um eine reale Bedrohung durch die Sozialpolitik. Ihr Gebaren, durch Sanktionen Folgsamkeit erreichen zu wollen, spricht Bände. Wer wissen will, was im Fall von Erwerblosigkeit, die länger als ein Jahr dauert, auf ihn zukommt, weiß es: Arbeitslosengeld II. Das sagt alles über unsere Vorstellung von Solidarität, wie wenig wir auf die Bereitwilligkeit vertrauen, dass in der Regel die Bürger beitragen wollen. Aber was heißt hier beitragen? Der Abstiegsangst stand in der Sendung – wieder einmal (siehe frühere Kommentare dazu hier und hier) – die Feier der guten Wirtschaftslage und der hohen Zahl von Erwerbstätigen durch den Ifo-Präsidenten Clemens Fuest und den CDU-Politiker Ralph Brinkhaus gegenüber, dem die SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer allerdings in nichts nachstand (vgl. dazu „Was die Arbeitslosenstatistik verschweigt“).
Jede Arbeit sei eben besser als keine – und da Haushaltstätigkeiten oder bürgerschaftliches Engagement bekanntlich keine Arbeit sind, keinen Beitrag zum Gemeinwohl darstellen, zählen sie nicht. Von daher kann die steigende Teilzeittätigkeit von Frauen als großer Erfolg gefeiert werden, wie Fuest es tat. Dazu muss man nur darüber hinweggehen, dass die steigende Teilzeittätigkeit zur Kehrseite hat, die Zeit für Engagement in der Familie zu reduzieren. Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, um es salopp auszudrücken. Genau das bestätigt die jüngste Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes zur Betreuungsquote von Kindern unter 3 Jahren. Sicher, wenn Entwicklungen den eigenen Werturteilen entsprechen, dann begrüßt man das, ein Wissenschaftler hingegen hat die Verantwortung, das Ganze in den Blick zu nehmen und Konsequenzen in jede Richtung zu sondieren, die eine Entwicklung hat. Das tat er jedoch nicht.
Dass sowohl die gestiegene Teilzeiterwerbstätigkeit als auch die Abstiegsängste etwas damit zu tun haben, was unsere Sozialpolitik an Solidaritätsvorstellungen aussendet, liegt auf der Hand. Und dennoch sind wir nicht in der Lage bislang, in eine andere Richtung zu blicken. Wie sehr die Diskussionen um Folgen von Digitalisierung, das Renteneintrittsalter, die vermeintliche Reduzierung von Erwerbslosigkeit u.a. von gestern sein könnten, wenn wir ein Bedingungsloses Grundeinkommen hätten; wie sehr dieses dann den Blick auf andere Fragen freigeben würde, lässt sich leicht erahnen.
Heute startet Ralph Boes (siehe hier und hier) seine „Tour“ durch Deutschland, auf der er über die Auswirkungen heutiger Sozialpolitik (Arbeitslosengeld II usw.) informieren, mit Betroffenen ins Gespräch kommen und auf Alternativen aufmerksam machen möchte. Zentral natürlich hierfür ist das Bedingungslose Grundeinkommen.
In der jüngsten Sendung von Maischberger scheint es – folgt man dieser Besprechung – bemerkenswerte Äußerungen von Heinricht Alt, Mitglied im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, gegeben zu haben. Ganz anders als in der Sendung im vergangenen Dezember, als er darum bemüht war, die Bundesagentur wie auch die Gesetzgebung in Schutz zu nehmen.
Ralph Boes von der Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen Berlin hat sich schon vor mehr als einem Jahr mit seinem Brandbrief dazu entschlossen, gegen die von Misstrauen getränkte Sozialpolitik, die seit der SPD-Grünen Regierung unter Kanzler Schröder (die betreffenden Parteien neigen hier in der Frage, wer dafür verantwortlich ist, zu Vergesslichkeit) stärker denn je betrieben wird, vorzugehen. Nun treffen ihn die Sanktionen des Jobcenters. Dabei ging es und geht es Ralph Boes nicht um seine individuelle Lage, es geht um eine Sozialpolitik, die jeden von uns unmittelbar treffen kann, sobald er oder sie auf Arbeitslosengeld II oder auch andere Leistungen angewiesen ist, eine Sozialpolitik, die nicht für Pluralität und Vielfalt von Lebensentwürfen, sondern für Einförmigkeit und Erwerbsfixierung steht. Mittelbar trifft sie uns alle als Bürger eines Gemeinwesens heute schon; denn solange wir diese Praxis tragen bzw. dulden und nicht dagegen vorgehen und Vorschläge unterbreiten, die andere Wege eröffnen – wie das Bedingungslose Grundeinkommen -, sind wir dafür verantwortlich, dass sie weiterbesteht. Es sind eben nicht „die Politiker“, die darüber befinden, wie wir zusammenleben, es sind wir Bürger, die sich erheben müssen, wenn wir das für falsch halten. Wie viele sich gegen diese Praxis wehren, lässt sich vielleicht an den Klagen gegen ALG II-Bescheide ermessen. Womöglich gibt es noch mehr Menschen, die sich nicht wehren, nicht zu wehren trauen oder nicht wissen, was sie tun können. Auch dazu finden sich Tipps auf der Website des Brandbriefs. Andere wehren sich auch, wie z.B. Torsten Büscher (Projekt Peine). In vielen Städten gibt es auch unabhängige Beratungsstellen, die weiterhelfen. Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir es auch tun.