„Logik ist nicht durch guten Willen ersetzbar“ – ein Kommentar zu Friederike Spiecker

Im Oktober veröffentliche Friederike Spiecker, Ko-Autorin von Irrweg Grundeinkommen, aus aktuellem Anlass einen Beitrag zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Dabei handelte es sich um den ersten Teil. Kurz darauf veröffentlichte sie den zweiten Teil, den ich mir genauer angesehen habe. (Im Oktober war sie auch in einer Talkshow zu Gast, siehe „Geld ohne Arbeit – 1500 Euro für jeden?“)

Der Titel ihres Beitrags – „Logik ist nicht durch guten Willen ersetzbar“ – ist schon aufschlussreich wegen des Gegensatzes, den er aufspannt. Worin könnte er bestehen? „Logik“, knapp erläutert, bezieht sich auf die Konsistenz von Schlussfolgerungen in einem Argumentationszusammenhang. Es handelt sich also nicht notwendig um Schlussfolgerungen formallogischer Art, es können auch sinnlogische sein, die keineswegs mit ersteren zusammenfallen. Schlussfolgerungen erfolgen immer von einer Basis aus, das kann Datenmaterial in einem Forschungsprozess sein, es können aber auch Annahmen oder Axiome sein. Was von ihnen ausgehend als logisch gelten kann, hängt also davon ab, worin die Ausgangsbasis für die Schlussfolgerungen besteht. Bei nicht wenigen Theoremen ist es so, dass, zieht man diese Basis weg, auch die Schlussfolgerungen nicht mehr konsistent sind, siehe z.B. das Modell des homo oeconomicus. Wir werden im Beitrag also auf diese Annahmen achten müssen, die den Ausführungen von Frau Spiecker innewohnen.

Damit ist aber die Ausgangsfrage noch nicht beantwortet. Worin könnte ein Gegensatz zwischen „Logik“ und „gutem Willen“ bestehen? Sinnvoll wird er erst, wenn der Logik – also zwingenden Schlussfolgerungen in einem Argumentationsgefüge – etwas gegenübergestellt wird, das weder zwingend noch konsistent ist, sondern eher sprunghaft, widersprüchlich und vom Einzelnen in seinen Neigungen abhängig. „Guter Wille“ ist eine Eigenschaft oder Haltung. Soll also das logisch Zwingende dem a-logisch Sprunghaften und Unzuverlässigen gegenübergestellt werden? Das scheint der Fall zu sein. Was hier leicht abwertend als guter Wille bezeichnet wird, ist jedoch ein umfassenderes Phänomen, das mit Sprunghaftigkeit wenig bis gar nichts zu tun hat. Guter Wille ist Ausdruck einer Haltung zur Welt, die im Zuge eines Bildungsprozesses entstanden ist. In der Soziologie wird Haltung u.a. mit dem Begriff des Habitus gefasst (zur Vertiefung siehe z.B. hier). Gemeinwohlbindung ist ein solcher Aspekt des Habitus, sie ist gerade keine unzuverlässige Größe. Deswegen sind wir ja irritiert, wenn jemand eine solche Haltung in keiner Form hat. Gemeinwohlbindung ist belastbar und stabil, sonst könnte unser Gemeinwesen auch gar nicht bestehen. Diese Haltung nun bestimmt darüber, wie jemand sein Leben führt, was für ihn maßgebend ist. Sie sagt etwas darüber aus, was in einem Gemeinwesen für normativ erwünscht, geboten oder unerwünscht gehalten wird – bei aller Strittigkeit zwischen den Deutungen, was konkret dem Gemeinwohl dienlich ist und was nicht. Diese Haltung ist ein Kulturphänomen und nicht mit Individualismus zu verwechseln, wie uns gerade unsere eigenen Lebenszusammenhänge lehren. Die Demokratie, in der die Staatsbürger als Volk die Quelle von Herrschaftslegitimation sind, setzt gerade auf diesen „guten Willen“, also auf die Bereitschaft sich einzubringen – auch sie ruht in einem Habitus. Genau wie ein Unternehmen darauf vertrauen muss, dass die Mitarbeiter auch mitwirken wollen, wenn sie produktiv sein sollen. Da der Titel des Beitrags nun einen Gegensatz zwischen beidem aufspannt, lässt sich schon erahnen, in welche Richtung er führen wird. Nach einer kurzen Einleitung, die auf den ersten Teil zum BGE verweist, fährt Frau Spiecker fort:

„…Zunächst zur Nicht-Erwerbsarbeit: Unser gegenwärtiges Sozialversicherungssystem enthält eine Reihe von Leistungsansprüchen, die eine Art Bezahlung oder Lastenausgleich für die genannte Nicht-Erwerbsarbeit darstellen (z.B. Elterngeld, Kindergeld, beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung, Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenberechnung, Ansprüche gegen die Pflegeversicherung etc.). Diese Bezahlung mag man in vielen Fällen für zu niedrig ansehen (obwohl die Gehälter von Erzieherinnen und Altenpflegern auch nicht gerade als üppig gelten können). Man kann unserem Steuer- und Sozialversicherungssystem aber nicht generell vorwerfen, diese Art von Nicht-Erwerbsarbeit völlig zu ignorieren…“

Diese Einschätzung ist deswegen aufschlussreich, weil Frau Spiecker übergeht, wie diese Leistungen konstruiert sind, welche normativen Bewertungen ihnen innewohnen. Gerade das Elterngeld bringt die Erwerbszentrierung und normative Überhöhung von Erwerbstätigkeit deutlich zum Ausdruck, weil es in der Höhe abhängt von dem zuvor bezogenen Erwerbseinkommen. Besserverdiener erhalten höhere Leistungen als andere – obwohl ihre Aufgaben als Eltern dieselben sind. Wer kein Erwerbseinkommen hatte, erhält nur einen Sockelbetrag. Erwerbstätige Eltern werden also anders behandelt als Nicht-Erwerbstätige – besonders deutlich wird das bei Beziehern von ALG II, die keinen Elterngeldanspruch haben. Der Umfang, in dem Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung anerkannt werden, ist eher symbolischer Art, er gilt für die ersten drei Lebensjahre jedes Kindes – mehr nicht. Man kann ihn getrost als Ausdruck des Elends lesen, wie gering die Wertschätzung in unserem Gemeinwesen für diese Tätigkeit ist. Wer es für angebracht hält, für seine Kinder länger zuhause zu bleiben, muss das heute nämlich auf eigenes Risiko tun, denn einen Ausgleich in der Rente erhält er nur für die ersten drei Jahre. Die Folgen, die diese erwerbszentrierte Sozialpolitik für unsere Deutung von Familie hat, sollten auch bedacht werden, denn sie sind allerorten zu spüren. In der Tat, da ist Frau Spiecker zuzustimmen, werden diese Leistungen also nicht „ignoriert“, sie werden aber der Erwerbstätigkeit eindeutig nachgeordnet, also genau so behandelt, wie es ihnen unserer Auffassung nach gebührt: als nachrangig. Genau dagegen wendet sich das BGE.

„Da liegen die BGE-Befürworter mit ihrem Vorwurf falsch. Wenn man die Berücksichtigung der Nicht-Erwerbsarbeit in unserem System für ungenügend hält, spricht nichts dagegen, dies durch quantitative Anpassungen der Leistungsansprüche zu ändern. (Ob es dafür bzw. für die entsprechende Finanzierung durch höhere Sozialversicherungsbeiträge und Steuern demokratische Mehrheiten gäbe, steht auf einem anderen Blatt. Aber die demokratischen Mehrheiten würde man für die Einführung eines BGE-Systems ja auch brauchen.)“

Nur auf den Geldbetrag zu schauen setzt sich hier fort. Die Vergabebedingungen werden offenbar für vernachlässigenswert gehalten, ein Phänomen, das sich in vielen mathematischen Betrachtungen von Einkommensbildung wiederfindet. Demokratische Mehrheiten braucht man in der Tat immer, das ist trivial. Wer aber die Berücksichtigung von Nicht-Erwerbstätigkeit innerhalb des gegenwärtigen Systems anstrebt, wie es Frau Spiecker vorschlägt, behält die normative Hierarchie zwischen Erwerbstätigkeit und anderen Tätigkeiten bei – das aber genau will das BGE ja nicht. Schon diese ersten beiden Passagen lassen den Eindruck entstehen, dass Frau Spiecker die Ziele, die mit einem BGE erreicht werden sollen, entweder fremd sind oder sie sie nicht teilt oder eben doch den Vorrang von Erwerbstätigkeit aufrechterhalten will.

„Und wie steht es mit dem anderen, wichtigeren Argument, es werde kaum egoistische Nutznießer eines BGE-Systems geben? Nun, man muss einmal darüber nachdenken, wer das BGE wie nutzen würde, wenn es denn eingeführt würde. Die grundsätzliche Kritik am BGE lautet nämlich, dass es die wirtschaftliche Basis, aus der heraus es finanziert wird, auf Dauer selbst zerstört.“

Ja, darüber, wie es genutzt würde, wäre einmal nachzudenken oder es wären die Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen, die in der Breite schon angestellt wurden. Was tatsächlich passieren wird, wissen wir heute genauso wenig wie nach Einführung eines BGE. Die „grundsätzliche Kritik“, von der sie spricht, ist ja kein Novum. Kein ernsthafter Befürworter würde leugnen, dass es einer wirtschaftlichen Basis bedarf, um ein BGE finanzieren zu können. Die wirtschaftliche Basis entsteht aber nicht aus dem Nichts. Sie ist nicht zu denken ohne die Bildungsprozesse in der Familie und ebensowenig ohne den solidarischen Zusammenhalt, den ein Gemeinwesen von Staatsbürgern auszeichnet. Sie werden heute eher als Rahmen- oder Randbedingungen betrachtet, dabei sind sie die Basis auf der sich die Leistungsbereitschaft ausformt. Davon ist bislang kein Rede bei Frau Spiecker.

„BGE-Befürworter verstehen diesen Kritikpunkt so, dass Kritiker des BGE unterstellen würden, der Anteil egoistischer Nutznießer sei in der Gesellschaft hoch oder zumindest im Wachsen begriffen und daher müsse ein Transfersystem immer mit der Sanktionsmöglichkeit “bewaffnet” sein, denjenigen nicht zu unterstützen, der arbeiten könne, es aber freiwillig nicht tue.“

Ja, genau diesen Eindruck machen die Einwände, die immer wieder in diese Richtung weisen. Für Frau Spiecker mag das nicht zutreffen, für andere Kritiker schon, z.B. hier und hier.

„Doch diese Vermutung der BGE-Befürworter, was die BGE-Kritiker eigentlich meinen, geht in die Irre. Es geht um einen viel einfacheren, naheliegenderen Punkt als den, vielen Menschen Schmarotzertum zu unterstellen. Es geht um die mit dem BGE unweigerlich einhergehende Umverteilung der (Erwerbs-)Arbeitszeit, die die BGE-Befürworter übrigens auch nicht bestreiten, sondern vielmehr als beabsichtigt bezeichnen. Was ist damit gemeint?“

Wer sind denn „die BGE-Befürworter“? Wer fordert die „Umverteilung“? Das sind nicht „die BGE-Befürworter“. Ein BGE kann auch ohne eine „Umverteilung“ der Erwerbsarbeitszeit gedacht werden, beides hängt nicht notwendig miteinander zusammen. Eine solche Umverteilung kann sich als indirekter Effekt ergeben, der daraus resultiert, dass Menschen andere Prioritäten als heute setzen, muss aber nicht direkt angestrebt werden. Die bloße Reduktion der Arbeitszeit sagt wiederum nichts über die Produktionsmenge aus, wenn z.B. effizienter produziert wird.

„Ein einfaches Beispiel: Eine vierköpfige Familie lebe unter dem gegenwärtigen Steuer- und Sozialversicherungssystem von einem Nettoeinkommen (einschließlich Kindergeld etc.) von 4000 Euro monatlich. Ein Hartz IV-Empfänger müsse von, sagen wir, 800 Euro auskommen (Hartz IV-Satz und Wohngeld etc.). Hinter den zusammengenommen 4800 Euro stehe ein entsprechendes Güterangebot. In einem BGE-System erhielte der bisherige Hartz IV-Empfänger ein Einkommen von 1000 Euro (also 200 Euro mehr) und die Familie ein Einkommen von 3000 Euro (1000 Euro je Erwachsenen und 500 Euro je Kind), ohne dass ein Elternteil arbeiten gehen müsste. Es wird jetzt, um der Argumentation der BGE-Befürworter entgegen zu kommen, nicht unterstellt, dass die Eltern der besagten Familie sofort die Hände in den Schoß legen nach dem Motto “von 3000 Euro und Freizeit rund um die Uhr kann man prima existieren”.

An diesem Beispiel einzig bemerkenswert ist der Schluss: „die Hände in den Schoß legen“ und „Freizeit rund um die Uhr“. Wer sich seinen Kindern widmet, hat keine „Freizeit“, er lebt – insbesondere mit kleinen Kindern – in einer dauernden Fremdbestimmung durch ihre Bedürfnisse. Sie artikulieren sich impulsiv und tolerieren meist keinen Aufschub. Doch diese „Arbeit“ ist für Frau Spiecker offenbar keine und sie ist vor allem keine, die in ihren Auswirkungen einmal Folgen auf die Leistungserbringung haben wird. Dabei wäre, wenn es um Finanzierungsfragen geht, darüber nachzudenken, welche Folgen die zunehmende Abwesenheit beider Eltern darauf hat, wenn man den Befunden der Bindungsforschung nachgeht, die einen Zusammenhang zwischen Bindung und dem Gelingen von Bildungsprozessen sieht. Schon die häufige Abwesenheit der Väter durch volle Erwerbstätigkeit war für die Bildungsprozesse von Kindern nicht folgenlos – letztlich auch volkswirtschaftlich nicht. Das ist nur rechnerisch nicht zu beziffern.

„Nein, die Familie möchte das gleiche Einkommensniveau erreichen wie vorher, also 4000 Euro netto. Die Familie ist also nicht extrem konsumorientiert, will nicht ihr monetäres Einkommen weiter steigern, indem die Eltern genau so viel arbeiten wie zuvor und das BGE obendrein beziehen.“

Das BGE würde nicht „obendrein“ bezogen, es stünde „untendrein“, wenn man so will, bereit.

„Nein, die Eltern verhalten sich völlig vernünftig in einer Art mittleren Bereich auf: Sie legen weder die Hände in den Schoß, noch schuften sie weiter wie bisher [so geht es weiter wie oben mit der Entgegensetzung, SL]. Vielmehr sind sie bereit, einen Teil ihrer Erwerbsarbeitszeit sozusagen abzugeben an die, die bislang keine Erwerbsarbeit oder nicht in ausreichendem Umfang finden konnten. (Von qualifikatorischem Mismatch [das gilt auch heute, SL] oder organisatorischen Problemen dieser anderen Aufteilung der Arbeitszeit zwischen den Beteiligten [auch das ein Problem, das schon heute gelöst werden muss, SL] will ich an dieser Stelle absehen; sie spielen für meine Argumentation keinerlei Rolle.)
Weil die Steuer- und Abgabensätze gegenüber dem alten System wegen des größeren Umverteilungsvolumens gestiegen sind,…“

Letzteres ist wieder eine Behauptung. Werden alle Einkommens- und Ausgabenströme in ihrem Zusammenhang betrachtet, bedarf es ja nur dort zusätzlicher öffentlicher Mittel zu den heute ausgegebenen, wo Menschen unterhalb des angestrebten BGE leben, sofern alles andere gleichbliebe. Verena Nedden hat darauf hingewiesen, dass schon heute eine 50%ige Belastung von Einkommen vorliegt.

„…können die Eltern ihre Arbeitszeit zwar nicht sozusagen parallel zu ihrer neuen Einkommensstruktur (¼ erarbeitet, ¾ Transferbezug) um ¾ reduzieren, dafür wird die Erwerbsarbeit zu stark besteuert (die Variante der Konsumbesteuerung zur BGE-Finanzierung ist so abenteuerlich in ihren sozialen Auswirkungen, dass ich sie hier einfach nicht behandeln will)…“

Schade, dass die Konsumbesteuerung hier übergangen wird, denn gerade am verwendeten Beispiel wird deutlich, wie die Einkommensbesteuerung wirkt. Die Einkommensteuer, die Bestandteil des Bruttolohns des Arbeitsnehmers ist, ist Bestandteil der Ausgaben eines Unternehmens und muss über den Absatz erwirtschaftet werden. Zwar führt das Unternehmen die Einkommensteuer ab, es erwirtschaftet sie jedoch durch den Absatz, also durch diejenigen, die seine Produkte kaufen. Deswegen muss sie notwendig auch in den Güterpreisen enthalten sein (siehe hier). An diesem schon heute geltenden Zusammenhang würde eine Konsumbesteuerung gar nichts ändern, sie würde ihn lediglich transparent machen. Der Einwand, die Konsumsteuer belaste niedrige Einkommen stärker als die heutige Einkommensteuer ist mindestens unpräzise, wenn nicht verwirrend. Berücksichtigt man, dass Kosten eines Unternehmens in die Preise weitergegeben werden, tragen auch heute schon niedrige Einkommen, wenn Güter und Dienste in Anspruch genommen werden, einen Teil dieser Last, ohne dass dies steuerlich ausgewiesen wird.

„…Aber die Eltern können, nehmen wir einmal an, mindestens ¼ der ursprünglichen Arbeitsstundenzahl weniger arbeiten. Entsprechend weniger tragen sie auch zu der insgesamt vorhandenen Menge an produzierten Gütern bei…“

Hier werden Güterausstoß und investierte Arbeitsstunden gleichgesetzt – das ist nur dann sinnvoll, wenn vernachlässigt wird, wieviel und was in der Arbeitszeit geleistet wird. Welche Effizienzsteigerung durch die neue Situation entsteht, weil Arbeitsbedingungen mehr und besser als heute ausgehandelt werden können, bezieht Frau Spiecker nicht ein. Sie bezieht auch nicht ein, welche Folgen es für die Wertschöpfung haben kann, wenn die Chancen steigen, eine Stelle zu erhalten, die zu den eigenen Fähigkeiten und Neigungen passt. In Betrachtungen über die Auswirkung müsste das aber einbezogen werden. Geringere Arbeitszeit muss nicht geringere Wertschöpfung bedeuten, sie kann sogar zu einer Steigerung führen. Diesen Zusammenhang hatte einst Jens Berger von den Nachdenkseiten schon vernachlässigt.

„…Entsprechend geringer ist auch die Höhe der Primärarbeitseinkommen, die der Staat besteuern kann. Gleichzeitig haben aber die in Geldeinheiten gerechneten Ansprüche aller Beteiligten von 4800 Euro auf 5000 Euro zugenommen…“

Diese Schlussfolgerung gilt nur, wenn an der Einkommensbesteuerung festgehalten und die Gleichsetzung von Arbeitsstunden und Gütererstellung aufrechterhalten wird. Das hatte sie ja schon gesagt. Heute wird allerdings nicht nur Einkommen besteuert, Stichwort Mehrwertsteuer u.a.

„…Das macht aus Sicht der BGE-Befürworter nichts. Denn der bisherige Hartz IV-Empfänger ist gern bereit, die entfallenen Arbeitsstunden zu übernehmen – er wartet ja auf nichts sehnsüchtiger, als wieder arbeiten gehen zu können [wozu dient diese Polemik?, SL, siehe die Studie von Georg Vobruba et al]. Mit anderen Worten: Es wird (mindestens) genau so viel gearbeitet wie zuvor, so dass die Gütermenge nicht sinkt, möglicherweise sogar steigt [sic, SL], sagen die BGE-Befürworter…“

Wieder werden Arbeitsstunden und Gütererstellung in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frau Spiecker die Entwicklung des Arbeitsvolumens seit etwa 100 Jahren entgangen ist, an dem gerade abgelesen werden kann, wie trotz Reduktion der Arbeitsstunden die Gütermenge erheblich zugenommen hat (siehe hier, darin auch den Verweis auf die Studie; siehe auch hier).

„Ja, da mögen sie recht haben, aber wie sieht es mit der Bezahlung des bisherigen Hartz IV-Empfängers für die jetzt von ihm geleistete Arbeit aus? Wenn der bisherige Hartz IV-Empfänger pro Arbeitsstunde netto so entlohnt wird wie die Eltern, dann steigt sein Einkommen über die 1000 Euro Grundeinkommen. Arbeitet er genau so viele Stunden, wie die Eltern weniger arbeiten, entsteht die gleiche Gütermenge wie zuvor (deren Gegenwert 4800 Euro war)[Hier kehrt sie wieder zur Voraussetzung zurück, von der sie ausgeht: Arbeitsstunden=Gütermenge, SL]. Dieser gleich gebliebenen Gütermenge stehen aber monetäre Ansprüche von über 5000 Euro gegenüber: die 4000 Euro Grundeinkommen aller Beteiligten zusammen, die 1000 Euro Netto-Erwerbsarbeitseinkommen der Eltern und das neue Erwerbsarbeitseinkommen des bisherigen Hart IV-Empfängers. Das macht eine Lücke von weit über 200 Euro aus. Diese Lücke zwischen real vorhandenen Gütern und monetären Ansprüchen zeigt eindeutig, dass hier etwas zweimal verteilt wurde, was nur einmal vorhanden war.“

So setzt sich die Vernachlässigung des oben beschriebenen Zusammenhangs fort, Arbeitsvolumen und Gütermenge werden in ein kausales Verhältnis gebracht. Es wäre auch zu bedenken – Frau Spiecker geht es ja um Besteuerung – , dass es nicht auf die Gütermenge alleine, sondern auch auf deren Preis ankommt. Das Steueraufkommen hängt davon ab, wie die Preise sich entwickeln. Ich kann weniger Produkte kaufen und dennoch meinen Bedarf decken, wenn die Produkte länger nutzbar sind (z.B. Computer, Haushaltsgeräte, Auto, Möbel usw.). Bekleidung z.B., für die ich wenig bezahle, die aber schnell verschleißt, weswegen ich mehr davon kaufen muss, kann zum gleichen Aufkommen führen wie Bekleidung, die teurer ist, aber länger hält.

„Nun mögen die BGE-Befürworter einzuwenden versuchen, der bisherige Hartz IV-Empfänger arbeite ja sehr gern mehr als nur das eine Viertel der Arbeitszeit, das die Eltern sozusagen aufgegeben haben. Also entstünden auch mehr Güter. Diese zusätzliche Annahme heilt den logischen Fehler in der Rechnung der BGE-Befürworter aber keineswegs. Denn wenn der Hartz IV-Empfänger mehr arbeitet, erhebt er (zu Recht) auch mehr Ansprüche an den insgesamt vorhandenen Güterberg.“

Wer einen logischen Fehler macht, sei einmal dahingestellt (siehe oben). Dass derjenige, der mehr Erwerbsarbeitszeit aufwendet, hier also der Hartz IV-Bezieher – der mit dem BGE ja keiner mehr ist – auch mehr Güter beansprucht, ist nicht zwingend. Das kann sein, muss es aber nicht. Nur, wenn er Güter bislang nicht hat erwerben können, die er nun erwerben will, gilt dieser Zusammenhang. Frau Spiecker vernachlässigt auch ein weiteres Phänomen, das in der Soziologie als demonstrativer Konsum bezeichnet wird. Dahinter verbirgt sich das Phänomen, Erfolg in Erwerbstätigkeit durch Gütererwerb nach außen zu signalisieren. Mit einem BGE würde indes das ganze Wertigkeitsgefüge von Tätigkeiten sich verändern, Erfolg in Erwerbstätigkeit hätte nicht mehr die Stellung, die er heute hat, folglich könnte demonstrativer Konsum an Bedeutung verlieren. Wir können an dieser Stelle schon festhalten, dass die oben vermutete Bedeutung von Logik versus guter Wille die Darlegungen von Frau Spiecker ganz gut trifft. Sie bewegt sich innerhalb eines (Rechen-)Modells, aus dem sie andere Effekte und Zusammenhänge schlicht ausschließt – zumindest bislang. Das Phänomen der Verhinderung oder Hemmung von Wertschöpfung durch heutige Arbeitsbedingungen, wofür es keine Statistiken gibt, lässt sie ebenso einfach außer Acht. Dass mehr Werte entstehen könnten, wenn anders gearbeitet würde als heute, ist nicht abwegig, die Geschichte zeigt genau das.

„Darauf ließe sich von Seiten der BGE-Befürworter einwenden, der bisherige Hartz IV-Empfänger sei auch bereit, zu einem geringeren Stundenlohn zu arbeiten als die Eltern, schließlich gebe er der Gesellschaft sozusagen im Gegenzug für das BGE gern etwas freiwillig zurück. Und da kommen wir an einen interessanten Punkt: Der Ausweg aus dem logischen Verteilungsproblem des BGE wird dann dadurch gesucht, dass derjenige, der sozusagen Arbeitsstunden abgetreten bekommt von denen, die aufgrund des BGE freiwillig weniger arbeiten, zu einem geringeren Lohn arbeitet (oder komplett umsonst). Er erhebt also weniger zusätzliche monetäre Ansprüche (oder gar keine zusätzlichen) auf den produzierten Güterberg.“

Dass der Hartz IV- Bezieher zu einem geringeren Lohn arbeiten wird, mögen manche so darlegen, zwingend ist das nicht. Er könnte auch denselben oder einen höheren anstreben, was aber nur dann erfüllbar wäre, wenn dem auch eine entsprechende Gütermenge gegenüberstünde. Doch dieser Zusammenhang lässt sich nicht einfach als eine Relation von Arbeitsstunden und Gütererzeugung bestimmen.

„Damit sind aber zwei neue Probleme geschaffen: Wenn der bisherige Hartz IV-Empfänger für geringeren Stundenlohn zu arbeiten bereit ist, dann unterbietet er die bisher (voll) Arbeitenden. Welches Unternehmen würde daraufhin zögern, die gegenseitige Konkurrenz der Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt auszunutzen, um seine Stundenlöhne für alle Arbeitenden zu senken?“

Das stünde aber nicht in der Macht eines Unternehmens, die Löhne einfach für alle zu senken, da die Arbeitnehmer auf diese Stellen nicht angewiesen wären. Die Macht, die Unternehmen in dieser Hinsicht heute haben, hätten sie nicht mehr, weil ein BGE es erlaubte, sich freier gegen ein solches Vorhaben zu organisieren. Hier wird eine Auswirkung von Frau Spiecker nahegelegt, die nicht naheliegt, oder zumindest nicht näher liegt als die andere, die ich vorschlage. Unterschätzt werden sollte nicht, welche Auswirkungen solches Gebaren eines Unternehmens nach innen hat, für den Arbeitszusammenhang, um noch einmal auf das Thema Hemmung von Wertschöpfung zurückzukommen. Frau Spiecker sieht ihn offenbar nicht. Was sie als Folgen für ein BGE behauptet, hat uns das nicht gerade die Vergangenheit ohne BGE vor Augen geführt?

„(Dieses Unterbietungsphänomen gibt es ja schon heute etwa im Pflegebereich, wo preiswerte Arbeitskräfte vom Bundesfreiwilligendienst (sog. Bufdis) das Lohnniveau der regulär in diesem Sektor Arbeitenden drücken. Das Gleiche gilt etwa für 1-Euro-Jobber, die von den Kommunen zur Landschaftspflege angestellt werden und damit den ortsansässigen Gartenbaubetrieben das Wasser abgraben.) Mit dem “freiwillig für weniger arbeiten als Dank für’s BGE” wäre daher niemandem geholfen, sondern lediglich eine Deflationsspirale losgetreten.“

Hier kommt zumindest der Hinweis auf die Gegenwart, doch der Vergleich ist schief, da Arbeitnehmer heute nicht in einer vergleichbaren Verhandlungsposition sind, wie sie es mit einem BGE wären. Ich möchte hier nicht diejenigen BGE-Befürworter verteidigen, die manche der Thesen aufbringen, die Frau Spiecker kritisiert, doch zu berücksichtigen gilt es, dass ein BGE Einkommenssicherheit schafft. Eine Sicherheit, die weiter reicht als diejenige des Mindestlohns. Eine Unterbietung des Lohn oder sogenannte „Niedriglöhne“ hätten unter BGE-Bedingungen andere Folgen.

„Obendrein könnte der Staat sehen, woher er seine Steuereinnahmen bekommt, mit denen er das BGE finanzieren will. Denn aus einer sinkenden Lohnsumme kann er nicht die gleiche Menge an Steuern ziehen, wenn er die Steuersätze nicht erhöht. Damit geriete das BGE-System aber in eine sich selbst verstärkende Schieflage, was über Kurz oder Lang sein Ende bedeutete. Wenn die Steuersätze nämlich immer mehr steigen, geraten sie irgendwann in einen Bereich, in dem sie tatsächlich prohibitiv wirken, also Erwerbsarbeit verhindern.“

Siehe oben, Einkommen- und Konsumsteuer. Der Zusammenhang, den Frau Spiecker zwischen Gütererstellung und BGE benennt, gilt selbstverständlich. Bestreitet das wer? Allerdings gilt er für heutige Leistungen auch und ist keine Zukunftsmusik, man stelle sich nur einmal vor, alle Bürger würden auf ihren ALG II-Anspruch pochen und die Füße hochlegen, was geschähe dann? Das Sinken der Lohnsumme ist eine Erfahrung aus der Vergangenheit, wenn der Kapitaleinsatz relativ an Bedeutung zu- und der menschlicher Arbeitskraft abnimmt.

„Wie man es auch dreht und wendet: Ein Wasch-mir-den Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass gibt es auch bei der Arbeitszeitumverteilung via BGE nicht: Wer weniger Erwerbsarbeit leistet, muss auch seine Ansprüche an den mit dieser Arbeit produzierten Güterberg in exakt gleicher Höhe reduzieren. Ist er dazu nicht bereit, sondern will er für den Verzicht auf bezahlte Arbeitsstunden zugunsten der Unterbeschäftigten zumindest teilweise entschädigt werden, braucht man ein zusätzliche Quelle, aus der diese Entschädigung bezahlt werden kann. Und zwar keine weitere, sozusagen unechte Umverteilungsquelle (Finanztransaktionssteuer, Luxussteuer, Vermögensteuer…), sondern eine echte Quelle, die zu mehr realen Gütern führt. Dann erst können die insgesamt vorhandenen Ansprüche aller Arbeitenden, die durch die Arbeitszeitumverteilung gestiegen sind, auch tatsächlich gedeckt werden und münden nicht einfach in Preissteigerungen.
Diese Quelle heißt, ob es die BGE-Befürworter nun wahr haben wollen oder nicht, Produktivitätszuwachs. Eine andere Quelle gibt es nicht.“

Ja, in der Tat, eine andere Quelle gibt es nicht. Wer bestreitet das?

„So wird das, was die BGE-Befürworter als Krisenursache ausmachen, zum einzigen Mittel, das den BGE-Lösungsvorschlag aus seinem logischen Grunddilemma befreit, nicht zweimal ein und dasselbe verteilen zu können. Das macht sich natürlich miserabel, will man die Funktionstüchtigkeit eines BGE-Systems logisch einwandfrei begründen.“

Weshalb „macht sich das natürlich miserabel“? Es entspricht genau den Begründungen einiger BGE-Befürworter, die mit der Produktivität argumentieren. Denn die Übertragbarkeit routinisierter Arbeitsgänge auf Maschinen hat noch lange nicht ihr Ende erreicht. Frau Spiecker hat sich hier offenbar einen oder einige Befürworter herausgegriffen und andere ausgelassen. So passt das gut zu ihren Überlegungen.

„Mag sein, dass manche Erwerbstätige in der Gesellschaft tatsächlich bereit sind, weniger zu arbeiten und mit entsprechend weniger Einkommen auszukommen. Dieser Vorstellung gemäß können sie auch heute schon leben – das sind dann die wenigen Glücklichen, die sich mit ihrer sog. Work-Life-Balance befassen können.“

Wiederum aufschlussreich für die Gesamtargumentation ist, dass Spiecker, die ja rein ökonomisch-rechnerisch argumentieren will, die normativen Zusammenhänge nicht analysiert. Sie gehören aber in eine ökonomische Betrachtung hinein, da sie die Basis dessen ausmachen, womit gerechnet wird. Denn die Entscheidung, mit weniger Einkommen auszukommen, können heute nur diejenigen treffen, die genügend Einkommen haben, das sich reduzieren lässt. Davon abgesehen führt die normative Aufladung von Erwerbstätigkeit dazu, dass Tätigkeiten jenseits von ihr entwertet werden. Es ist nicht von ungefähr so, dass Freiwilligenengagement sehr häufig von Erwerbstätigen erbracht wird. Nicht etwa, weil Erwerbslose es nicht auch für sinnvoll hielten, sondern weil es nicht als legitimes Hauptengagement anerkannt wird. Wer im Leistungsbezug der Arbeitsagentur ist, muss in den ersten Arbeitsmarkt streben, in keinen sonst. Darin zeigt sich nur besonders deutlich, was heute für alle normativ gilt. Die Abwertung von Familie und der Fürsorge der Kinder entspringt derselben Quelle.

„Für den Normalbürger ist das nicht der Fall. Der arbeitet so viel, weil er das Einkommen braucht oder zumindest zu brauchen meint.

Das hätte er mit einem BGE ja. Und wieder – wegen der Vernachlässigung normativer Zusammenhänge – sieht sie nicht, dass Konsum heute auch heißt, beruflichen Erfolg zu demonstrieren. Die Bedeutung hat Konsum aber nur der Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit wegen. Wird sie aufgehoben, verändert auch Konsum seine Bedeutung.

„Will man ihn davon überzeugen, mit weniger Gütern und mehr Freizeit Vorlieb nehmen zu können, muss man sich auf die Kirchenkanzeln, in die Schulen, die Burn-Out-Seminare und Umweltschutz-Veranstaltungen begeben, aber nicht auf Ökonomen-Kongresse zu Steuer- und Transfersystemen.“

Was soll das nun heißen, ein Loblied auf die gescheiten Ökonomen und die verirrten anderen? Diese Überheblichkeit findet sich anscheinend bei eher keynesianisch denkenden genauso wie bei anderen, die Ökonomen als Leit-Denker. Oder meinst sie das ironisch?

„Das Traurige an dieser dem Feld der Logik geschuldeten Verirrung der BGE-Befürworter ist, dass ihr berechtigtes und dringendes Anliegen, den Ärmsten in der Gesellschaft zu helfen, auf diese Weise in Verruf gerät oder zumindest seine Lösung blockiert wird.“

Na, da ist Frau Spiecker jetzt selbst auf die Kanzel getreten. – Beim BGE geht es nicht um die Ärmsten der Gesellschaft, es geht um alle.

„In Verruf, weil schnell der Vorwurf an die Adresse der Unterbeschäftigten laut wird, sie seien ja nur deshalb für das BGE, weil sie sich auf Kosten anderer auf die faule Haut legen wollten. Ein sicher  ungerechter Vorwurf [da ist sie aber vorsichtig, es handelt sich doch um ein Vorurteil, SL], aber einer, der nicht zuletzt von denen erhoben wird, die sich ebenfalls ungerecht behandelt fühlen, weil sie ziemlich viel schuften müssen für eine recht mäßige Bezahlung.“

Wer klagt nun angemessener? Diejenigen, die etwas leisten – in Familie und Freiwilligendienst – erhalten dafür direkt gar nichts. Wären ihre Klagen darüber, Einkommen vorrangig über Erwerbstätigkeit zu erzielen nicht ebenso berechtigt? Sind es nicht Familien, aus denen zukünftige Bürger und zugleich zukünftige Erwerbstätige hervorgehen? Erhalten Eltern etwa die Möglichkeiten, sich dieser Aufgabe nach ihrem Dafürhalten zu stellen? Wohl kaum. Wer über die Volkswirtschaft spricht, muss über alle Lebenszusammenhänge sprechen, die dafür relevant sind, das tut Frau Spiecker jedoch nicht. Sie schlägt sich stattdessen auf die Seite der Erwerbstätigen. Das hat mit Logik nur soviel zu tun, als Werterzeugung auf den Markt beschränkt und davon alles andere abgeleitet wird. Mit unvoreingenommener Analyse hat das wenig zu tun, mit Erwerbsverherrlichung viel. Dass sie dazu sich des Vorurteils bedient, nachdem die einen für die anderen arbeiten, ist bezeichnend. Was die Demokratie als Solidarverband auszeichnet, davon ist nichts zu lesen. Die Welt wird durch Konsumtion und Produktion wahrgenommen.

„Und blockiert, weil die demokratischen Mehrheiten, die gebraucht würden, um die Verteilungsverhältnisse im jetzigen System bei den primären Markteinkommen [wie missverständlich dieser Begriff ist, dazu siehe den Beitrag von Ingmar Kumpmann, SL] wie den sekundären Transfereinkommen zu ändern, geschwächt werden: Das “linke Lager” ergeht sich in Kapitalismus-Debatten und Tischlein-deck-dich-Utopien, die die meisten Wähler instinktiv abschrecken. Die spüren nämlich genau, dass hier etwas nicht stimmen kann. Es geht gar nicht um die Unterstellung, dass der Normalbürger nicht zum Helfen und zu Solidarität, ja sogar hin und wieder zum Verzicht etwa in Sachen Umweltschutz bereit wäre. Aber der Normalbürger hat verständlicherweise keine Lust, Leuten sein Vertrauen zu schenken, die ihm ein X für ein U vorzumachen versuchen, egal ob denen das aus intellektuellem Unvermögen passiert oder ob die das mit Absicht tun.“

Die „Unterstellung“, die Frau Spiecker hier erwähnt, mag für sie nicht zutreffen, sie ist allerdings keine Unterstellung, der nicht eine Realität entspräche. Es herrscht ein gewaltiges Misstrauen in die Bereitschaft der Bürger, sich einzubringen, ganz gleich in welcher Form. Den „Normalbürger“ für die eigene Position in Anspruch zu nehmen, mag suggestiv sein, sie ist allerdings auch vereinnahmend und kann nicht Argumente ersetzen. Was für das „linke Lager“ gilt, gilt nicht für andere BGE-Befürworter. Sicher verbinden sich manche unrealistischen oder auch überzogenen Erwartungen mit einem BGE, dass sich das Tischlein von selbst decke, vertritt kein ernsthafter Befürworter.

Ich springe hier nun aus dem laufenden Text zum Ende.

„Noch ein Blick auf die mikroökonomische Ebene: Ich habe mehrfach Hartz IV-Empfänger gesprochen, die mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium auf der Straße stehen, darunter auch eine Frau im Fach Psychologie. Die fragt, warum sie nicht arbeiten dürfe, wo doch bekanntlich die Warteschlangen bei psychologischen Beratungsstellen extrem lang seien, eine Nachfrage also klar erkennbar gegeben sei. Wenn sich die Leute das nicht leisten könnten, sei doch allen geholfen, wenn sie, die arbeitslose Psychologin, durch ein BGE in die Lage versetzt würde, diesen Bedarf decken zu helfen.“

Wo eine Nachfrage im Allgemeinen gegeben ist, ist sie im Konkreten noch lange nicht gegeben, gerade in einem Bereich der besonders von Vertrauen geprägt ist. Das Beispiel ist hier also schon denkbar schief. Für eine psychologische Beratung ist es eben denkbar, dass eine Psychologin keine Klienten hat, obwohl es Nachfrage bei anderen gibt. Da würde auch das Schaffen von mehreren Beratungsstellen nichts ändern.

„Die Antwort darauf ist einfach: Es fehlt den Menschen, die für die Beratung Schlange stehen, offenbar das Geld, sich diese Leistung am freien Markt einzukaufen. Wären ihre (realen) Arbeitseinkommen höher – wofür Heiner Flassbeck und ich uns seit Jahren die Finger wund schreiben –, würde mancher zu einem bislang arbeitslosen Psychologen gehen können und diesen für seinen Rat auch bezahlen.“

Das kann getrost für naiv gehalten werden, so als sei eine solche Beratung dem Kauf eines Autos vergleichbar.

„Der umgekehrte Weg allerdings, der arbeitslosen Psychologin einfach Geld zum Leben zu geben, damit sie ihre Tätigkeit umsonst ausüben kann, ist aus zwei Gründen falsch: Erstens muss sich dann die Psychologin nicht dem Lackmustest des Marktes, d.h. der Konkurrenz anderer Psychologen stellen – sie bekäme ihr Geld, ob ihre Beratungsleistung im Vergleich nun gut wäre oder nicht.

Nun also doch: der Markt als Qualitätsselektionsinstanz. Das funktioniert für standardisierbare Güter nicht schlecht, der hier in Rede stehende Bereich orientiert sich aber weitgehend an Honorarordnungen, damit gerade kein Markt- also Preiswettbewerb Einzug hält, auch wenn sich hier Vieles verändert hat. Die Qualität einer psychologischen Beratung bzw. ihre Inanspruchnahme vom Preis abhängig zu machen wäre doch selbst ein Symptom. Wer eine schlechte Beratung anbietet, auch wenn sie nichts kostet, wird langfristig keine Klienten haben. Darauf kann man zumindest vertrauen. Der Einwand Frau Spieckers ist hier also gar nicht – wie noch oben – über die Relation von Gütererstellung und Güteransprüchen bestimmt. Es geht nur um den Markt als Selektionsinstanz. Gerade aber ein BGE erlaubte ja, diese Beratung zu bezahlen.

„Und zweitens müssen sich potenzielle Nachfrager nicht die Frage stellen, wie viel ihnen die Leistung der Psychologin wirklich wert ist, wie viel selbst erarbeitetes Einkommen sie also bereit sind, für den Rat auszugeben. Denn sie bekommen den Rat ja umsonst. Die Nachfrager würden also von denen indirekt subventioniert, die das BGE für die bislang arbeitslose Psychologin erwirtschaften müssten.“

Das Kostgängerargument von oben ist wieder da, es geht also doch um ethische bzw. normative und nicht nur um „ökonomische“ Logik.

„Um es zusammenzufassen: Der Versuch, die Märkte durch die Einführung eines BGE zu umgehen, ist so falsch wie der (seit Jahren für sie erfolgreiche) Versuch der Kapitalisten, die Märkte durch Ausnutzung von Macht zu pervertieren.“

Genau daran könnte das BGE etwas ändern, indem den Menschen mehr Macht durch Einkommenssicherheit verliehen würde.

„Das einzige, was wirklich dauerhaft Erfolg verspricht, ist, die Spielregeln, unter denen die Märkte ablaufen, wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dazu muss die Machtbalance zwischen Arbeit und Kapital wieder hergestellt werden (etwa durch regelmäßige, inflationsbezogene Anhebung der Hartz IV-Sätze,…“

Damit bliebe der Vorrang von Erwerbstätigkeit bestehen.

„…Abschaffung des Grundgesetz widrigen Arbeitszwangs mittels Androhung des Entzugs des Existenzminimums,…“

Leistungen, die nach Bedarfsprüfung vergeben werden, operieren immer mit Sanktionsmitteln. Werden Sie aus der Hand gegeben, ist die Bedarfsprüfung außer Kraft gesetzt, die in einer Nachweisverpflichtung besteht. Das galt schon für das Bundessozialhilfegesetz 1961. Auch hier übersieht Frau Spiecker wieder, welche Folgen die normative Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit für all jene hat, die nicht an ihr mitwirken können oder ihren Lebenssinn woanders sehen. Sie werden als diejenigen betrachtet, die von den anderen ausgehalten werden. Das entspricht ganz einem Verständnis von Gemeinwesen als vorrangig ökonomischem Tauschzusammenhang, da unterscheiden sich Keynesianern nicht von Marktliberalen.

„…flächendeckende Mindestlöhne in vernünftiger Höhe mit inflationsbezogener dynamischer Anpassung, Bestimmungslandprinzip bei Arbeitsmigration, Flächentarifverträge zur konsequenten Durchsetzung der goldenen Lohnregel, deutlich höhere Unternehmenssteuern etc.).
Der (oft uneingestandene) Glaube beider Seiten, der Kapitalisten wie der Grundeinkommensbefürworter, an das Tischlein-deck-dich-Prinzip widerspricht dem Wesen der Arbeitsteilung. In einer arbeitsteiligen Welt sind beide Produktionsfaktoren, Arbeit und Kapital, aufeinander angewiesen.“

Arbeit und Kapital sind, damit sie zusammenwirken können, auf grundlegendere Bezüge angewiesen, die nur in Familie und Gemeinwesen gegeben sind: bedingungslose Anerkennung der Menschen um ihrer selbst und des Gemeinwesens willen. Dieses Dritte wird ausgeklammert oder nicht gesehen.

„Keine Seite kann ohne die andere auf Dauer vernünftig existieren. Jede muss die andere teilhaben lassen. Weil das nicht durch einzelwirtschaftliches Rationalverhalten zu bewerkstelligen ist, muss der Staat, also die Gemeinschaft seiner Bürger, die notwendige Machtbalance durch ein starkes Regelwerk vorgeben und seine Einhaltung durchsetzen. Anderenfalls läuft sich die Marktwirtschaft tot und steht mit ihr die Demokratie zur Disposition.“

Was aber ist die Gemeinschaft der Bürger? Sie ist eben keine Arbeits- oder Erwerbsgesellschaft und der Vorrang von Erwerbstätigkeit nicht aus ihm abzuleiten. Damit ein Regelwerk überhaupt von Bestand ist, bedarf es einer Loyalität der Bürger zu ihm, es selbst kann diese Loyalität nicht hervorbringen. Auch hier ist wieder der blinde Fleck zu erkennen, indem das Gemeinwesen nur als Ordnungsinstanz, nicht aber als Solidarverband hervortritt.

„Doch wie so oft gilt auch hier: Eine falsche Analyse (hier: “uns geht die Erwerbsarbeit aus”) verdeckt die eigentlichen Ursachen der Krise.“

Diese These vom Ende der Arbeit ist in der Tat nicht tragfähig zu verteidigen, die Schlussfolgerung von Spiecker allerdings auch nicht.

„Sie führt zu einem falschen, weil unwirksamen und schädlichen Therapievorschlag (hier: Einführung eines BGE), der die sinnvolle Krisenbekämpfung behindert und so die Position der Nutznießer des pervertierten Systems stärkt.“

Ob das für das BGE gilt, sei, nach der hier vorgenommenen Analyse, dem Leser überlassen.

Sascha Liebermann

Behindernde Sozialpolitik

In einem Beitrag bei Spiegel Online mit dem Titel „Gekürztes Elterngeld: Bestraft für die gute Tat“ wird einem vor Augen geführt, welch drastische Konsequenzen eine Sozialpolitik hat, die wir heute im Großen und Ganzen für richtig halten. Ein Sozialstaat, oder besser ausgedrückt: ein Gemeinwesen, das sich eine Sozialpolitik leistet, in deren Zentrum nicht der Bürger als solcher steht, sondern der Erwerbstätige, hemmt und behindert Initiative, wenn es sie auch nicht verhindern kann. Wie wenig Lebensentscheidungen nach Anreizüberlegungen getroffen werden, wird an dem Fall der in diesem Artikel geschilderten Frau deutlich. Sie entscheidet sich für die Pflege ihres todkranken Vaters und fragt gar nicht danach, welche Auswirkungen dies auf ihre Ansprüche auf Elterngeld hat. Sie macht einfach, was sie für richtig hält. Und trägt die Konsequenzen.

Siehe auch „Freiräume schaffen oder Leistungsansprüche optimieren?“

Sascha Liebermann

„Vierzig Stunden in der Kita“ – wie wollen wir leben?

Der Artikel war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt. Nimmt man ihn so, wie er ist, und geht davon aus, dass alles, was berichtet wird, stimmt, dann kann er einen sprachlos machen. Eine Kita in Schwerin bietet 24-Stunden-Betreuung an. Sie richtet sich an Eltern, die beide berufstätig sind und besondere Arbeitsbedingungen haben. An einer Stelle im Artikel heißt es: „Die Bundesagentur für Arbeit spricht mit Blick auf die unflexiblen Öffnungszeiten der Kindertagesstätten von einem ‚grundlegenden Problem‘. „Stellen Sie sich mal vor, eine Verkäuferin bei Karstadt eröffnet ihrem Arbeitgeber, sie könne nur von Montag bis Freitag zwischen 8 und 15 Uhr arbeiten“, sagt eine Sprecherin. „Dann kriegt sie zu hören: Unsere Stoßzeiten sind aber am Samstag und nach Feierabend.“ Der Bäckereifachverkäuferin, die um 5 Uhr morgens ihre Backlinge geliefert bekomme, gehe es nicht anders.“

Wie hier die Problemlage geschildert wird, lässt allzu deutlich werden, wie sehr es um Prioritäten geht. Damit sind sowohl individuelle wie auch gemeinschaftliche gemeint. Wollen wir als Gemeinwesen Arbeitszeiten über das Wohl der Familie stellen? Dann ist der Ausbau zur 24-Stunden-Betreuung konsequent. Abseits solch extremer Entwicklungen nehmen Betreuungszeiten in Einrichtungen ohnehin zu, weil Eltern früh erwerbstätig sein wollen – teils aus Sorge, teils aus Not, teils, weil sie gebraucht werden möchten. Letzteres klingt gerade dann absurd, wenn kleine Kinder ihre Eltern zuhause um so mehr brauchen. Während diese Eltern als Erwerbstätige ersetzbar, austauschbar sind, sind sie es zuhause nicht. Mitarbeiter eines Unternehmens wird jemand, weil er eine Aufgabe erfüllt, nicht aber, weil er geliebt wird. Was die Bedeutung des Einzelnen im Berufsleben betrifft, machen sich viele Illusionen. Zugleich ist es allerdings die normativ herausragende Stellung, die Erwerbstätigkeit heute zukommt, die viele so früh womöglich wieder in das Erwerbsleben zurückstreben lässt. Anerkennung findet eben vor allem das Engagement im Erwerbsleben, nicht aber in der Familie. Trotz alle dem aber kann der Einzelne aus seiner Verantwortung für Alternativen nicht entlassen werden. Manches Mal sind nur kleine Veränderungen nötig, um die Familiensituation zu verbessern. Manchmal reicht Verzicht oder auch Einschränkung, um mehr Zeit für die Familie zu gewinnen – sofern es gewollt ist.

An einer anderen Stelle heißt es: „Die meisten Krankenschwestern bekommen nur einen Job, wenn sie bereit sind, Schicht zu arbeiten. Eine normale Kita geht da nicht.“ Das Hin- und Hergerissensein mancher Eltern, die im Artikel zitiert werden, ist allzu deutlich, z.B. hier: „Was die Arbeit angeht, bezeichnet Heins die Kita als „die Lösung all meiner Probleme“. Die Einrichtung ermögliche es ihr, bis zu vier Tage am Stück Seminare zu geben. Persönlich aber setze ihr die Situation zu: „Manchmal liege ich weinend im Hotelzimmer und denke an meinen Sohn.“

Die Frage, was ihr wichtiger ist, muss die Dame selbst beantworten. Wenn ihr die Situation aber zusetzt, wäre es an der Zeit, sie zu ändern. Es ist immer leicht zu sagen, das geht doch nicht, bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich durchaus, dass das Nicht-Gehen auch mit einem Nicht-Wollen verbunden sein kann. Das ist legitim, sollte dann aber offen eingestanden werden.

Eine weitere Passage sei zitiert: „Eine andere Erzieherin sieht das kritischer: „Wir sind nur familienergänzend, kein Familienersatz. Das vergessen die Eltern und ihre Arbeitgeber manchmal.“

Auch wenn diese Aussage der Sache nach zutrifft, durch die umfangreichen Betreuungszeiten hingegen wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass auf dieser Basis noch ein Familienleben möglich ist. Um eine Beziehung zu den eigenen Kindern zu erlangen und zu erhalten, braucht es Zeit, ungeplante Zeit mit offenem Ausgang. Wie soll dies möglich sein, selbst wenn eine Betreuung werktags ’nur‘ von 8 bis 16 Uhr dauert?

Zur Veranschaulichung der Degradierung von Familie, die zum Alltag gehört, sei auf diese Zeichnung noch einmal hingewiesen:

 Sascha Liebermann


Frühere Kommentare von Sascha Liebermann zu verwandten Themen: Familie – hier, hier und hier. Ein Einspruch gegen diese Situation in der FAZ im alten Jahr, siehe „Markt und Familie“. Gerade zur schwierigen Arbeitsmarktlage in manchen Regionen sei auch dieser Beitrag
„Strukturschwache Regionen und das Bedingungslose Grundeinkommen“ in Erinnerung gerufen.

„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ – auch in der Schweiz nur in eine Richtung

Andere Länder ähnliche Wege. In der Schweiz, nicht anders als in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas, steht die „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf ganz oben auf der Agenda. Der letzte Schritt zur Emanzipation, so könnte man meinen, müsse noch gegangen werden, damit Erwerbstätigkeit als normatives Ziel für alle erreicht werden könne. Die „Parlamentarische Initiative Verfassungsbasis für eine umfassende Familienpolitik“ will der „Vereinbarkeit“ Verfassungsrang verschaffen. Siehe auch frühere Kommentare von Sascha Liebermann zu „Familienvergessen – auch in der Schweiz“ sowie zu Familie im allgemeine – hier und hier. Ein Einspruch gegen diese Situation in der FAZ im alten Jahr, siehe „Markt und Familie“.

„Markt und Familie“ – ein interessanter Beitrag, aber ohne Lösung

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist ein interessanter Artikel zum Stellenwert von  Familie erschienen. Viele Punkte werden treffend benannt, eine weitreichende Antwort für die aufgeworfenen Fragen ist aber nicht in Sicht. Dabei ist der Schritt von den Ausführungen des Artikels zum Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens sehr klein. Er muss nur gemacht werden.

Siehe auch „Das Leben organisieren“ und „Vorrang von Erwerbstätigkeit – Abwertung von Familie“.

Die Fleißigen und die Faulen – Anmerkungen zu einem Interview mit Ursula von der Leyen

In einem kürzlich erschienen Interview mit der Bundesministerin für Arbeit und Sozioales, Ursula von der Leyen, in der Bild-Zeitung wurde wieder einmal deutlich, wo wir leben – im Arbeitshaus. Dabei ist das keine Eigenheit der Bundesministerin, der Tenor bei Sigmar Gabriel (siehe auch hier) und Gregor Gysi ist derselbe.

Im Interview heißt es:

„Nehmen Sie eine Floristin, die heute Tariflohn verdient. Die wird nach 35 Jahren Vollzeitarbeit keine Rente erreichen, von der sie leben kann und muss am Ende zum Amt wie jemand, der in der Zeit auf der faulen Haut gelegen hat. Das ist ungerecht. Irgendwann wird sie sich fragen: warum nicht gleich schwarz arbeiten und auf private Vorsorge verzichten?“

Als erstes fällt der Vergleich ins Auge. Die Fleißigen, das sind die vollzeit Erwerbstätigen, die Faulen sind letztlich diejenigen, die nicht erwerbstätig waren (so hat sie sich 2010 schon einmal geäußert). Zu dieser Gruppe gehören auch die Väter und Mütter, die viele Jahre für ihre Kinder zuhause geblieben sind, was heutzutage ja als hinterwäldlerisch gilt (siehe hier), die Ehrenamtlichen zählen ebenso dazu. Entscheidend ist allerdings, dass überhaupt kein Leben jenseits von Erwerbsarbeit vorgesehen ist. Das dürfte nun nicht überraschen, Frau von der Leyen macht selbst vor, wie sie es für alle für richtig erachtet.

„Wer 35 Jahre in die Rentenkasse einzahlt und privat vorsorgt, dem wird die gesetzliche Rente notfalls aufgestockt. Kleine Einkommen sind schon ab 5 Euro beim Riestern dabei. 50 Prozent des Rentenanspruches obendrauf für Niedrigverdiener; 150 Prozent obendrauf, wenn Kinder erzogen oder Ältere gepflegt wurden.“

Alle, die es nach Maßgabe des Arbeitshauses richtig gemacht haben, werden belohnt, die anderen haben das nachsehen. Was zählt, ist: Erwerbstätigkeit, was nichts zählt sind: Familie, Ehrenamt, Gemeinwesen.

„Die Zuschussrente bekommt nur, wer im Leben ordentlich was geleistet hat. Vor allem ist es ungerecht, wenn Millionen Mütter, die Kinder erziehen, deshalb Teilzeit arbeiten und nach einem fleißigen Arbeitsleben zum Sozialamt müssen, während ihre Kinder für andere die Rente sichern.“

Es fehlen einem die Worte für diese Herablassung und Geringschätzung der Leistungen, die anderswo als im Arbeitsmarkt erbracht werden. Überhaupt erschreckt die Geringschätzung des Individuums als solches mit seiner Lebensgeschichte, seinen Fähigkeiten und Neigungen. Von „asozialem Zynismus“ der Sozialministerin ist bei Wolfgang Lieb zurecht die Rede, der das Interview ebenfalls kommentiert. Allerdings weist seine Kritik in keiner Form über das Arbeitshaus hinaus, was von den Nachdenkseiten allerdings auch nicht zu erwarten ist (siehe hier und hier).

Sascha Liebermann

Das Leben „organisieren“. Zu einem sozialtechnokratischen Aufruf gegen das Betreuungsgeld

Ein Aktionsbündnis verschiedener Parteien und Verbände – initiiert von Bündnis 90/ Die Grünen, Die Linke, SPD, Piratenpartei, Grüne Jugend, Jusos, Junge Piraten – stellt sich gegen den Vorschlag eines Betreuungsgeldes mit einem Aufruf. Zum Betreuungsgeld selbst habe ich mich schon geäußert, das soll hier nicht wiederholt werden. Interesssant ist der Aufruf, weil er verrät, wie über Familie, Kinder, Freiheit und Erwerbstätigkeit gedacht wird.

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Vorrang von Erwerbstätigkeit – Abwertung von Familie

In den letzten Wochen habe ich mehrere Beiträge dazu verfasst („Die Debatte um das Betreuungsgeld als Symptom“, „Eltern als Störung“, „Familienvergessen – auch in der Schweiz ein Phänomen“), welche Vorstellungen von Familie die öffentliche Debatte prägen und welche Konsequenzen damit für das Gemeinwesen verbunden sind. Grund dafür war unter anderem das Phänomen, dass wir es mit einer in sich gegenläufigen Entwicklung in der Diskussion über Familie zu tun haben. Auf der einen Seite wird Erwerbstätigkeit von Eltern mehr denn je gewünscht, durch das Elterngeld auch prämiert, während Eltern, die sich dafür entscheiden zuhause zu bleiben, nicht nur Nachteile in Kauf nehmen (z.B. für die Rente). Öffentlich gelten sie als hinterwäldlerisch, traditional, rückwärtsgewandt, emanzipationsvergessen usw. Es gilt als selbstverständlich, nicht länger als unbedingt nötig, auf die Rückkehr in den Beruf zu verzichten. Das ist auch an den gewünschten Betreuungszeiten in Kindertagesstätten und -gärten abzulesen. Auf der anderen Seite wird aber nach wie vor Familie hochgehalten, ihre Bedeutung betont und ihre Förderung als wichtige Aufgabe herausgestellt. Dieses Bekenntnis zu Familie bleibt aber leer, wenn zugleich die Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit verstärkt wird (da ist auch UNICEF keine Ausnahme). Denn was anderes als eine Verstärkung dieses Vorrangs ist es, wenn Eltern früher denn je zurück in Erwerbstätigkeit drängen?

Auffällig ist an der Diskussion über Kindertagesstätten, dass es in der Regel nur um die direkten Auswirkungen auf Kinder geht ( „Wie stressig sind Krippen für die Kinder?“, „Wo bleiben die guten Krippen?“). Von den Folgen, die die Ausweitung der Betreuung auf das Familienleben, die Vorstellungen von Familie und das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern hat, wird wenig bis gar nicht gesprochen.

Richtet man seinen Blick auf Famlie als Ganzes, fällt ein anderer Mangel besonders auf: der an frei verfügbarer, offen gestaltbarer Zeit, die in der Familie verbracht wird. Grund für diesen Mangel ist nicht selten die große Identifizierung mit beruflichem Erfolg und das Empfinden, nur durch Erwerbstätigkeit Anerkennung zu erfahren – das gilt heute für Väter wie Mütter. Dem entspricht die Politik der letzten Jahre, die dem Wandel Ausdruck verliehen hat, der schon länger vor sich geht und dessen Zeichen Familienvergessenheit ist. Was heißt das konkret? Schon das Hineinfinden in die Elternposition, in die Aufgabe der Elternschaft, vor wie nach der Geburt eines Kindes ist durch die Fixierung auf Erwerbstätigkeit erschwert. Denn, um sich auf die Eigendynamik von Familie einlassen zu können, brauch es auch Zeit, Offenheit für das Neue und Unbekannte. Eltern zu sein ist mit Umbrüchen und Verunsicherungen verbunden – der Volksmund weiß das. Für Kinder verantwortlich zu sein, so könnte man zuspitzen, ist keine Routine, sondern dauerhafte Krise. Sie zuzulassen und durchzustehen erfordert Aufmerksamkeit – und zwar eine, die möglichst wenig abgelenkt ist durch anderes. Je mehr Ablenkung durch berufliches Engagement, desto schwerer ist es, sich einzulassen. Die Familienpolitik und Sozialpolitik hat hier keine Verbesserungen, sie hat Verschärfungen herbeigeführt. Was allerorten beklagt wird, das Fehlen von Betreuungsplätzen für Kinder, ist keine Lösung für diese Herausforderung. Erfolgt dieser Ausbau ohne zugleich die Möglichkeiten dafür zu verbessern, für die Kinder zuhause zu bleiben, wird der Vorrang von Erwerbstätigkeit weiter verstärkt. In Abwandlung eines sozialwissenschaftlich gebräuchlichen Schlagworts könnte man von der Beschäftigungsfalle sprechen.

Alle Parteien unterstützen diese Entwicklung, manche stärker – wie die Grünen, die Linke und die SPD – auch die Befürworter des Betreuungsgeldes, bedenkt man den lächerlichen Betrag, um den es geht. Politiker halten es für progressiv nach kurzer Auszeit für den gerade geborenen Nachwuchs wieder in ihr Amt zurückzukehren (z.B. hier und hier), sie leben noch vor, wie wunderbar Familie und Beruf vereinbar sein sollen – und kehren nach einer Auszeit von wenigen Monaten in ihr Amt zurück. Dabei geht es in der Frage, wie wollen wir Familien unterstützen, um eine von großer Bedeutung mit langfristigen Folgen.

Nicht nur hat dies Auswirkungen in der Gegenwart, sie reichen weit in die Zukunft, sofern diese Entwicklung anhält. Anlässlich eines Vortrags zum Grundeinkommen kam ich kürzlich darauf zu sprechen, wie sich diese Entwicklung wohl auf die Vorstellungen von Familie bei Kindern auswirken wird, und zwar nicht nur bei denjenigen, die früh betreut werden (also unter 3 Jahren), sondern auf alle. Denn Ganztagsbetreuung im Kindergarten nimmt ebenfalls zu, Ganztagsschule wird als wichtiges Ziel gehandelt. Nicht nur verwaisen Nachbarschaften tagsüber, wenn Kinder fern ihres unmittelbaren Lebensumfeldes betreut werden. Die Betreuung erschwert es auch, dass Kinder sich ihren nachbarschaftlichen Lebensraum geduldig erschließen können. Solche Erfahrungen freien, unbeaufsichtigten Herumtollens und Erkundens der unmittelbaren Umgebung ermöglichen zugleich Erfahrungen von Selbständigkeit. Dafür bräuchte es keine Frühförderprogramme – aber den Freiraum und Eltern, die ihn wahrnehmen. Solche Erfahrungen finden nicht in einem institutionell abgesteckten Rahmen statt (wie bei Kindertagesstätten und Ganztagsschulen unter ständiger Beaufsichtigung). Noch weiter reichen allerdings die Folgen für die Vorstellung von Familie. Wenn Kinder, so meine These im Vortrag, mehr Zeit in Einrichtungen verbringen als zuhause, wenn sie also erheblich mehr Zeit mit Betreuungspersonen verbringen als mit den eigenen Eltern (was nach Lebensphasen sehr unterschiedliche Bedeutung hat), dann kommt das einer Entwertung von Familie gleich. Wir fördern also eine Vorstellung von Familie, in der für diese kein Platz mehr ist. Sie ist bloßes Anhängsel von Erwerbstätigkeit, gehört in die „Freizeit“. Wenn Kinder diese Entwertungserfahrungen machen, wie werden sie zu Familie stehen? Wenn sich die Eltern die Zeit nicht mehr nehmen, nehmen wollen oder nehmen können, die für ein lebendiges Familienleben notwendig ist, wie wird Familie der Zukunft dann aussehen?

Eine Zuhörerin meldete sich ob meiner These verärgert bzw. empört zu Wort. Sie sei genau so aufgewachsen, wie ich es beschrieben habe und wolle es mit ihren Kindern genauso machen. Dann müsste es weiterhin Krippen geben usw. Ob das nicht durch ein Grundeinkommen gefährdet sei? Zum einen habe das eine mit dem anderen nichts zu tun, es hänge schlicht vom politischen Willen ab – entgegnete ich. Zum anderen aber wäre es fahrlässig für ein Gemeinwesen, diese Entwertung von Familie zu betreiben. Es gehe nicht um Diffamierung und Anklage, sondern um die Vorstellung von Familie, die wir als Gemeinwesen haben und fördern wollen. Gibt man ihr keinen Raum und schützt sie in ihrer Eigendynamik nicht, dann kann Familie nicht das sein, was sie im innersten auszeichnet. Wir müssen uns offen fragen, was die Folgen dieses Vorrangs von Erwerbstätigkeit sind. Es hat etwas Heuchlerisches, sich auf der einen Seite über mangelnde Solidarität, fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt, den Zerfall des Gemeinwesens usw. zu beklagen, wenn auf der anderen Seite nichts dafür getan wird, die Orte zu stärken, an denen Gemeinschaftsleben bedingungslos praktiziert werden kann: Familie – und bürgerschaftliches Gemeinwesen als Zwecke um ihrer selbst willen.

Das Bedingungslose Grundeinkommen würde zwar Eltern nicht mehr in eine bestimmte Richtung dirigieren, trotzdem enthöbe uns das nicht der Frage, welches Handeln wir ausdrücklich fördern wollen. Immerhin böte ein ausreichend hohes BGE auch die Möglichkeit, Betreuungsplätze privat zu organisieren, sofern es keine öffentlichen Betreuungsplätze gäbe. Diese Diskussion zeigte sehr deutlich, dass mit einem BGE keineswegs alle Fragen – was auch kaum ein seriöser Befürworter behauptet – beantwortet wären. Es wirft andere Fragen auf und stellt unsere heutigen Antworten in Frage z.B. die nach dem Ausbau von Ganztagsbetreuung. Das scheint mir eine mächtige Seite des BGE zu sein, Selbstverständliches auf einfache Weise zu hinterfragen und dadurch andere, gangbare Wege aufscheinen zu lassen, die wir heute für verschlossen halten. Dadurch verunsichert der Vorschlag eines BGE erheblich, bringt Vertrautes ins Wanken – und lässt dadurch Neues oder noch nicht Wahrgenommenes aufscheinen.

Sascha Liebermann

Nachtrag 4. Juni: Wenig überraschend hat die gestrige Sendung bei Günther Jauch zu diesem Thema (auch auf Youtube verfügbar) die Fragen nicht aufgegriffen, die aufgegriffen werden müssten. Auch Kommentare zur Sendung erweisen sich da als wenig besser, z.B. in der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Familienvergessen – auch in der Schweiz ein Phänomen

Die Eidgenössische Volksinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen hat eine Diskussion entfacht. Nachstehende Passage stammt aus einem Interview mit dem scheidenden Direktor des Bundesamts der Sozialversicherungen (BSV), Yves Rossier, in der Berner Zeitung:

Was halten Sie von der Initiative für ein «bedingungsloses Grundeinkommen»? Wäre sie nicht eine Alternative zum komplizierten Sozialstaat mit seinen zahlreichen Sozialwerken, die alle nach eigenen Regeln funktionieren?
Sorry, aber diese Initiative ist schlicht unseriös. Sie ist ein Witz – mehr nicht. Schauen Sie: Ich habe fünf Kinder. Nach den Vorstellungen der Initianten würde ich offenbar gegen 10000 Franken im Monat erhalten, ohne einen Finger krummzumachen. Warum sollte ich dann noch arbeiten? Warum sollte überhaupt noch jemand arbeiten? Um hohe Beiträge zu bezahlen, damit der Staat allen anderen ein Grundeinkommen bezahlen kann? Das würde nie funktionieren. Unsere Gesellschaft lebt von der Erwerbsarbeit. Diese Initiative wird keine Chance haben. Sie ist einem Traum der letzten 68er entsprungen – sie kommt mir vor wie Woodstock ohne Talent.“ [Hervorhebung SL]

Die Frage „Warum sollte ich dann noch arbeiten“ stellt er abwehrend, er könnte sie jedoch auch befürwortend stellen. Es ist anzunehmen, dass er als Direktor des Bundesamts ziemlich viel Zeit in seinem Beruf verbringt, folglich wird er um so weniger Zeit für seine Familie haben. Angesichts von fünf Kindern muss er die wenige Zeit, die ihm bleibt, noch teilen. Was wäre also naheliegender, als gerade dann im Bedingungslosen Grundeinkommen eine Chance zu erkennen? Er könnte, wenn er wollte, mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen, seine Frau entlasten usw. Zugleich würde er damit den Kindern vorleben, wie Hinwendung zur Familie und Relativierung beruflichen Erfolgs aussehen könnte. Genau das nimmt er als Möglichkeit gar nicht wahr, sie scheint für ihn gar nicht zu existieren. Diese Nicht-Wahrnehmung könnte aus einem männlichen Selbstbild herrühren, für das die Identifizierung mit dem Beruf viel stärker wiegt als die mit der Familie (siehe „Erwerbsarbeit, Elternschaft und das männliche Selbstbild“). Das alleine reicht heute zur Erklärung allerdings nicht mehr aus, da das Streben nach Erwerbstätigkeit für Frauen beinahe genau so drängend geworden ist wie für Männer, das bezeugt gerade die Diskussion um die Ausweitung von Kinderbetreuung, die auch in der Schweiz geführt wird. In einer solchen Lage wird Elternschaft zur Störquelle beruflichen Fortkommens bzw. Anerkennung in Erwerbstätigkeit (siehe „Eltern als Störung“).

Sascha Liebermann

Die Debatte um das Betreuungsgeld als Symptom

Ausbau von Betreuungsreinrichtungen für Kinder auch unter drei Jahren, Verkürzung von Schul- und Studienzeiten, Förderung der Berufstätigkeit von Eltern, Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Entscheidungen, die diese Ziele befördern, werden als Erfolge gefeiert, nicht nur in der Politik. Wir begegnen diesen „Erfolgen“ auch in der Ausweitung von Betreuungszeiten und Betreuungsaltersgruppen in Kindergärten und Kindertagesstätten (siehe Bericht Bildung in Deutschland 2010). Heute ist es nicht mehr ungewöhnlich, Kinder um 7 Uhr in die Kita zu bringen und zwischen 14 und 17 Uhr abzuholen. Zu dieser Entwicklung fügt sich auch die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit (G 8). Die Begründungen, die für diese Entwicklungen vorgebracht werden, weisen alle in dieselbe Richtung, sie gelten auch für die Kontruktion des Elterngeldes (siehe unsere Kommentare hier und hier) und für das Betreuungsgeld.

Dabei wird diese Auseinandersetzung, die jüngst zwar an Heftigkeit gewonnen hat (siehe „Zankapfel der Nation (FAZ)„), schon seit mehr als zwei Jahren geführt (siehe den offenen Brief: Betreuungsgeld ist ein sozial- und gleichstellungspolitischer Rückschritt – man beachte die Unterzeichner). Die Positionen lassen sich grob so umreißen: Auf der einen Seite wird das Betreuungsgeld als „Herdprämie“ kritisiert (wie das Bedingungslose Grundeinkommen ja auch), es verleite Frauen (obwohl es auf sie gar nicht festgelegt sein soll, siehe hier: „Subvention einer Sehnsucht“ (Spiegel online) dazu, länger von Erwerbstätigkeit fern zu bleiben, ja länger als was? Ja, länger als es diejenigen gerne hätten, denen Erwerbsarbeit das höchte Gut ist. Auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die meinen, es dürfe nicht einseitig öffentliche Betreuung gefördert werden, auch Familien bedürfen der Unterstützung, wenn sie keine solche Betreuung in Anspruch nehmen, Stichwort Wahlfreiheit. Kürzlich erst wurde hervorgehoben, das Betreuungsgeld solle als Anerkennung für die Leistungen von Familien dienen.

Was gut klingt, ist zynisch, bedenkt man die Höhe des Betreuungsgeldes von 100 bis 150 Euro pro Kind im Monat. Treffender wäre es wohl, das Betreuungsgeld als Symptom von Familienvergessenheit zu bezeichnen. Es bringt zum Ausdruck, wie wenig uns Familien als solche wert sind (Steuerfreibeträge greifen ja erst, wenn Einkommen vorhanden ist, damit ist Familie der Erwerbstätigkeit nachgeordnet). Schon das Elterngeld, wenngleich üppiger sogar in der Basispauschale von 300 Euro, ist bei genauerer Betrachtung keine Familienförderung, sondern eng verbunden mit der Förderung von Erwerbstätigkeit. Es handelt sich um eine Leistung, die Gutverdienern entgegen kommt. Denn selbst bei Bezug des Höchstsatzes von 1800 Euro können nur dann beide Eltern sich erlauben ein Jahr zuhause zu bleiben, wenn sie über die finanziellen Rücklagen verfügen, um das Elterngeld aus der eigenen Tasche aufzustocken. Wer die Rücklagen nicht hat und dazu nur ein geringeres Elterngeld erhält, kann es sich nicht leisten. Gefördert werden also Eltern, die ein gutes Einkommen vor Bezug des Elterngeldes hatten, das sie wahrscheinlich danach wieder anstreben. Statt also Familien zu fördern, werden sie durch die Erwerbsfixiertheit des Elterngeldes bedrängt: das Elterngeld betont die hohe Bedeutung von Erwerbstätigkeit, weil sie die Gewährung am Erwerbserfolg misst und nicht bloß ein Leistung um der Person selbst willen darstellt.

Wo dieses Bedrängtwerden durchaus kritisch gesehen wird (wie z.B. hier: „Der Fischer und seine Frau“ (FAZ), die jüngste Sendung von Beckmann und den Beitrag von Wolfgang Lieb (Nachdenkseiten)), bleibt die Kritik in der Erwerbsfixierung der Gegenwart stecken. Sie ist es jedoch, die viel zur Überlastung von Familien, zur die Überforderung von Eltern beiträgt. Wer Eltern nicht dirigieren, wer nicht in ihre Entscheidungen hineinwirken will, der muss Möglichkeiten schaffen, damit sie sich unbedrängt fragen können, ob und wie sie sich der Aufgabe Elternschaft stellen wollen (siehe auch hier). Als erstes bedarf es dazu eines gesicherten Einkommens, das den Status als Person stärkt: also ein Bürgereinkommen – ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Denn nur dann können beide sich um die Kinder kümmern, aber nicht nur das. Nur durch eine solche Entlastung von Erwerbstätigkeit sind Eltern in der Lage, sich auf die vielfältigen Veränderungen und Verunsicherungen, die mit der Geburt eines Kindes einhergehen, einzulassen. Nur so haben sie die Freiräume, um sich über diese Verunsicherungen auszutauschen. Ein Elternteil, der voll erwerbstätig ist, während der andere zuhause bleibt, macht ja gerade diese durchaus verstörenden Erfahrungen nicht oder nicht so intensiv. Was erzählt wird vom Partner, der zuhause ist, ist nicht erfahren. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat kürzlich in einem Radiointerview dargelegt, welche Herausforderungen auf Eltern eines Neugeborenen zukommen und wie wichtig es wäre, dass sich Väter wie Mütter die Zeit nehmen, in die neue Situation hineinzufinden. Geschieht das nicht, leiden darunter nicht nur die Kinder, es leiden auch die Eltern und ihre Partnerschaft (siehe auch einen Beitrag von Karl Heinz Brisch). Bei aller Entlastung, die in dieser Situation Verwandte, Freunde und eine gute Nachbarschaft leisten können, keine kann den Austausch der Eltern miteinander über die neue Situation ersetzen. Auf die Frühförderungspolitik angewandt: Bindung ist die Voraussetzung für Bildung (siehe auch „Erfahrung ermöglichen oder Wissen vermitteln?“).

Es ist verwunderlich, eben ein Symptom für unsere Haltung zu Familie, wie wenig solche Aspekte in der öffentlichen Diskussion aufgegriffen werden. Ebenso selten wie diese Belastung für Familien diskutiert wird, liest man über die Folgen von Ganztagsbetreuung für das nachbarschaftliche Miteinander. Zwar gehört die Sorge um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und Solidarität zu den Sonntagsredenvokabeln, auf einfache Fragen hingegen werden sie nicht angewandt. Dabei können Kinder gerade in der Nachbarschaft, dem unmittelbaren Lebensumfeld also, relativ früh schon unbeaufsichtigt Erfahrungen machen, sei es mit anderen Kindern, sei es im Erkunden des Nahraums als solchen. Die Wege sind kurz, es bedarf kaum organisatorischen Aufwandes und es meist auf einfache Weise zu bewerktstelligen, dass Kinder sich begegnen. Voraussetzung ist aber zum einen, dass auch Eltern zuhause sind, die ein Auge auf die Kinder haben, wenn sie im Garten oder Garagenhof oder wo auch immer spielen. Zum anderen bedarf es Kinder, die zuhause sind. Es kommt aber schon heute öfter vor, als man denkt, dass ein gemeinsames Spielen von Kindern unter drei Jahren erst am Nachmittag – nach 15 oder 16 Uhr – möglich ist. Spielplätze sind vormittags häufig ebenso verwaist wie Nachbarschaften – weil Kinder in Kitas oder von Tagesmüttern betreut werden. Diese Umstände erschweren es Kindern erheblich, die einfache Form des Miteinanders, wie sie in Nachbarschaften möglich ist, zu erfahren. Was heute Kitas als große Leistung zugeschrieben wird, wäre also einfach zu haben im eigenen Lebensumfeld – es sei denn die Kinder sollen schon Mandarin oder Russisch lernen.

Was signalisiert dieser Geist, frühe Betreuung für das Nonplusultra zu halten Kindern? Wenn beide Eltern erwerbstätig sein müssen, weil das Einkommen sonst hinten und vorne nicht ausreicht, erfahren Kinder sehr früh, wie wenig Familie vom Gemeinwesen gefördert wird. Sie verstehen zwar die Zusammenhänge nicht, sehr wohl aber erfahren sie ihre Folgen. Wenn beide Eltern erwerbstätig sein wollen (und nicht müssen), weil sie auf beruflichen Erfolg nicht verzichten möchten, stellen Eltern den Beruf de facto über die Familie, das ist nicht nur für Kleinkinder folgenreich, eine solche Haltung prägt die Familiendynamik. Welche Vorstellung von Familie wird damit vorgelebt und welche Folgen hat sie auf die Vorstellungen davon, die die Kinder einmal haben werden? Es geht hierbei also um langfristige Auswirkungen auf unser Zusammenleben, denn Entscheidungen im Leben werden von gemachten Erfahrungen bestimmt und nicht von bewussten Abwägungen. Erfahrungen leiten wie ein innerer Kompass, wie sich gerade den eigenen Kindern gegenüber täglich zeigt.

Dem Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens wird immer wieder entgegengehalten, es sei kein Allheilmittel. Nun, ein trivialer Einwand, das BGE nimmt auch nicht in Anspruch für alles eine Antwort zu bieten. Es wird aber unterschätzt, reduziert man es auf seine unmittelbaren Auswirkungen. Die Bereitstellung eines BGEs entlastet Eltern zuerst einmal direkt. Es bringt allerdings auch eine andere, dann gemeinschaftlich getragene Vorstellung von Zusammenleben, von Familie, von Individuum und Autonomie zum Ausdruck. Diese, die mittelbaren Auswirkungen wiegen mindestens ebenso schwer, wie die unmittelbaren. Ein BGE reißt die Stützpfeiler der heutigen Sozialpolitik weg und setzt andere an ihre Stelle. Damit wirkt es sich auf alles aus, was die heutige Sozialpolitik ausmacht. Eltern würden eben nicht mehr in eine bestimmte Richtung gedrängt, was heute nicht durch Geldleistungen geschieht, es geschieht durch die normative Vorstellung davon, welche Art von Leistung gemeinschaftlich wert geschätzt wird. In dem Moment – durch ein BGE -, da Familie als solche anerkannt und nicht mehr als Personalbereitstellungsinstitut für den Arbeitsmarkt betrachtet wird, ändern sich die Verhältnisse erheblich. Eltern würden dann vermutlich anders entscheiden, da nicht wenige sich zwischen Beruf und Familie hin- und hergerissen fühlen. Wenn Kinder durch ihre Eltern und die Entscheidungen, die sie dann treffen könnten, erführen, dass Familie einen eigenen Wert hat, würde sich auch das Familienbild wandeln. Ab welchem Alter, wann, wieviel und wo Kinder dann betreut werden, könnte anders erwogen werden. Wenn kritisiert wird, dass sich noch immer Frauen mehr als Männer in der Pflege und Hinwendung zu Menschen, auch in der eigenen Familie, engagieren (in Bezug auf die Grundeinkommensdiskussion siehe die Beiträge von Antje Schrupp hier und meine Replik hier), ist das eine Folge zum einen der traditionalen Arbeitsteilung, zum anderen aber auch der normativen Überhöhung von Erwerbstätigkeit, die in den letzten Jahren gerade zu- und nicht abgenommen hat. Erst wenn sie zurückgenommen bzw. relativiert wird, erst wenn das Individuum um seiner selbst und des Gemeinwesens willen Anerkennung findet, wie es ein BGE ermöglicht, werden andere Vorstellungen von Familie und ein anderes Verständnis von Fürsorge und Pflege Angehöriger Platz greifen. Dazu braucht es eine öffentliche Debatte, einen anderen Weg gibt es nicht.

Sascha Liebermann