In wessen Namen wird Sozialpolitik gemacht? Politische Souveränität als Ideologie?

Letzteres zumindest erkennt Michael Opielka in meinem Hinweis darauf, wer Legitimationsquelle politischer Entscheidungen ist und verwechselt diese Legitimationsquelle mit den praktischen Rechtsfolgen von Entscheidungen. Träger politischer Rechte im umfassenden Sinne sind in einer Demokratie nur die Staatsbürger. Sozialpolitik wird in deren Namen gemacht und muss sich vor ihnen rechtfertigen, gleichwohl muss sie Lösungen anbieten, die möglichst breit wirken können. Dass Sozialpolitik selbstverständlich Folgen für alle hat, die sich im Territorialgebiet des Staates aufhalten, der diese zu verantworten hat, ist etwas gänzlich anderes.

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„Da stiehlt sich der Staat aus der Verantwortung“…

…so Marcel Fratzscher in einem Interview mit dem Kurier, der in Österreich erscheint, in dem es auch wieder einmal um das Bedingungslose Grundeinkommen geht. Hier der Ausschnitt:

„Bei Diskussionen über das Ausgleichen von Chancen wird oft auch ein bedingungsloses Grundeinkommen angeführt. Was halten Sie davon?“

Fratzscher: „Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Da stiehlt sich der Staat aus seiner Verantwortung. Sie können Chancengleichheit nicht mit Geld kaufen. Deshalb sind auch nicht mehr Kitas oder mehr Sprachförderungen da. Außerdem haben wir mit Hartz IV ein Grundeinkommen.

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„Geld für wirkliche Freiheit“…

…so ist der Beitrag zum Bedingungslosen Grundeinkommen auf Zeit Online von Timo Reuter übertitelt.

Die medialen Wellen schlagen hoch seit Anfang des Jahres, da die Volksabstimmung in der Schweiz näher rückt. Viele Beiträge zum Bedingungslosen Grundeinkommen wurden in den letzten Wochen schon veröffentlicht. Der Beitrag von Timo Reuter sieht das BGE in der Tradition des Liberalismus, der aus seinen neoliberalen Überformungen befreit werden müsse.

Was schreibt er?

Bedingungsloses Grundeinkommen bedeutet, dass der Staat die Menschen bezahlt, weil sie am Leben sind. Ohne Zwang, ohne Bedingungen – und zwar alle…“

Gleich zu Beginn eine – manche würden hier vielleicht sagen: vernachlässigenswerte – Irritation. Ich halte sie nicht für vernachlässigenswert, sie entstellt das BGE. Nicht „bezahlt“ der Staat (oder eben nicht der Staat, siehe hier) dafür, dass „Menschen … am Leben sind“. Das Gemeinwesen stellt das BGE aus dem Steueraufkommen seinen Angehörigen und anderen Bezugsberechtigten bereit. Und wer ist der „Staat“? Es ist die Vergemeinschaftung der Bürger im politischen Solidarverband, der Staat steht nicht über ihnen, was eine Formulierung wie „Der Staat bezahlt…“ zumindest nahelegt.

Danach heißt es:

„Das ist nicht verwunderlich, denn ein existenzsicherndes Grundeinkommen käme wegen seiner Bedingungslosigkeit einer sozialpolitischen Revolution gleich. Es würde den Zwang zur Arbeit abschaffen, welcher der Logik des Arbeitsmarktes immanent ist.“

Der „Zwang“ ist nicht der „Logik des Arbeitsmarktes“ immanent, sondern der normativen Verpflichtung, Einkommen über diesen Arbeitsmarkt erzielen zu sollen. Es könnte auch einen Arbeitsmarkt ohne die normative Verpflichtung im Sinne des Gebotes „Du sollst erwerbstätig sein“ geben.

Auch folgende Passage ist ungenau:

„Am Grundeinkommen scheiden sich die Geister über politische Grenzen hinweg. Die Gewerkschaften sind dagegen, der Milliardär Götz Werner ist der in Deutschland bekannteste Verfechter dieser Idee, die Arbeitgeberverbände halten es für „nicht finanzierbar und leistungsfeindlich“, das globalisierungskritische Netzwerk Attac oder die katholischen Arbeitnehmerbewegung wiederum sind dafür.“

In den Gewerkschaften gibt es durchaus Befürworter, sie sind eindeutig in der Minderheit. Attac ist nicht im Allgemeinen dafür, lediglich die AG Genug für alle hat sich meines Wissens für ein BGE ausgesprochen, das ist eine kleine Gruppe.

Später heißt es:

„Zwar gerieten radikale wirtschaftsliberale Positionen zwischenzeitlich durch Entwicklungen wie die Weltwirtschaftskrise 1929 in den Hintergrund – doch nur, um einige Jahrzehnte später in Form des Neoliberalismus umso härter zurückzuschlagen.“

Es gibt zweierlei Neoliberalismus, den in Anlehnung an Alexander Rüstow, der in einem Ordnungsrahmen und einer notwendigen Sozialpolitik die Voraussetzungen dafür sieht, dass dem Markt Aufgaben überlassen werden können, und die – heute meist damit verbundende – Variante eines beinahe anti-staatlichen Neoliberalismus, der in der Privatisierung und den Marktgesetzen die allumfassend regelnde Kraft sieht. Peter Ulrich hat diesen Unterschied in seinem Buch „Integrative Wirtschaftsethik“ sehr klar herausgearbeitet.

Nach einigen Überlegungen zur „realen Freiheit“, wie sie Philippe van Parijs entwickelt hat und die sich für ihn mit dem BGE verbindet, schreibt Timo Reuter:
„Das wird aber nicht allein durch ein existenzsicherndes Einkommen, etwa im Sinne der deutschen Sozialsysteme, erreicht, sondern vor allem dadurch, dass diese materielle Basis bedingungslos allen Menschen gewährt wird. Erst die Bedingungslosigkeit macht das Grundeinkommen zu einem entscheidenden Trumpf des modernen Liberalismus.“

Ja – nein, zumindest missverständlich. Was bedeutet „alle Menschen“? Es kann sich ja nur um die Menschen handeln, die im Rechtsbereich eines Gemeinwesens leben oder Angehörige dieses Gemeinwesens sind, für die es Sorge zu tragen hat. Für andere ist ein Gemeinwesen nicht legitimiert zu handeln. Jedes demokratisch-republikanische Gemeinwesen konstituiert sich durch einen Souverän: das Volk der Staatsbürger. Das BGE ist also zuallererst eine Alimentierungsleistung des Gemeinwesens an sich selbst, also an seine Staatsbürger. Von diesen abgeleitet, da sie das Gemeinwesen auf Basis von Rechten und Pflichten tragen müssen, erweitert sich die Alimentierung auf Personen mit einem definierten Aufenthaltsstatus. Sie würden ein BGE erhalten, weil sie sich im Rechtsbereich des Gemeinwesens niedergelassen haben, wozu es allerdings der Zustimmung des Gemeinwesens bedarf (ganz anders ist das für die Staatsbürger). Diese Zustimmung kann nationalstaatlich erfolgen oder durch transnationale Regulierungen (z. B. Freizügigkeit in der EU) möglich geworden sein. Wie auch immer, es bedarf der Zustimmung des Gemeinwesens. In der BGE-Diskussion wird diese Differenzierung sehr häufig geringgeschätzt, weil durch die Unterscheidung von Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern eine Diskriminierung vorgenommen werde. Im wörtlichen Sinne ist das in der Tat der Fall, es wird unterschieden zwischen zwei verschiedenen Status. Wer diese Unterscheidung aufgeben will, gibt die Realität einer politischen Vergemeinschaftung von Staatsbürgern mit Rechten und Pflichten auf. Denn diejenigen, die nicht Staatsbürger sind, haben dem Gemeinwesen gegenüber keine Pflichten und nur bestimmte Rechte, vor allem sind sie nicht im umfassenden Sinne Angehörige.

Timo Reuter fragt dann: 

„Würden sie [die Menschen mit BGE, SL] sich für die Faulheit entscheiden, wie Kritiker des Grundeinkommens behaupten? Diese Frage bleibt bis zur Einführung offen – und ist bis dahin vom jeweiligen Menschenbild abhängig.“

Was tatsächlich geschehen wird, bleibt in der Tat offen, weil wir es nicht vorhersagen können. Jedoch ist es nicht einfach eine Frage des „jeweiligen“ Menschenbildes, welche Auswirkungen für möglich erachtet werden. Forschung – wie immer strittig in der Wissenschaft – kann sehr wohl dazu etwas sagen, welche Überzeugungen in der Vergangenheit Menschen bei ihren Entscheidungen geleitet haben und wie diese Überzeugungen sich zu dem verhalten, was ein BGE eröffnet. Auch das erlaubt natürlich keine Vorhersage, macht aber manches plausibler. Denn die handlungsleitenden Überzeugungen, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden, lassen sich nicht wie Meinungen tagesaktuell wechseln, sie haben sich im Zuge eines Bildungsprozesses herausgebildet und können nicht manipulativ verändert werden. Insofern ändern sie sich nicht einfach durch die Einfhrung eines BGE. Und weiter:

„Vieles spricht aber gegen das kaltherzige Bild des Homo oeconomicus, eines allein seine eigenen Interessen maximierenden Individuums. Denn neben dem Monetären gibt es viele weitere Gründe zu arbeiten, etwa soziale Integration, Selbstverwirklichung, Stolz oder Anerkennung. Und 1.000 Euro monatlich würde den meisten wohl nicht reichen.“

Das räumen die Wirtschaftswissenschaften ja schon länger selbst ein (z. B. Reinhard Selten), wenngleich nach wie vor davon ausgegangen wird, dass „Präferenzen“ einer „Nutzenfunktion“ entsprechen bzw. Entscheidungen im Modus einer „rationalen Wahl“ erfolgen. Eingeräumt wird ebenfalls, dass der homo oeconomicus nur ein „Modell“ zum Rechnen sei, denn irgendwie müsse man ja rechnen, wie mir ein Wirtschaftswissenschaftler einmal sagte. Womit er zugleich einräumte, dass dieses Modell mit der Wirklichkeit wenig bis gar nichts zu tun habe. Na denn. Die republikanische Demokratie, in der wir leben, mit ihren spezifischen Voraussetzungen ist aber kein Modell, sie ist praktizierte Realität.

Sascha Liebermann

„Mein Grundeinkommen“ – aktuelle Entwicklungen

Das Crowdfunding-Projekt von Michael Bohmeyer hat enorme Resonanz gefunden, auch in den Medien. Das zweite zu verlosende Grundeinkommen ist finanziert, ein weiteres wird angestrebt. Gegenwärtig wird darüber diskutiert, ob die Verlosung national oder international ausgerichtet sein soll – im Für und Wider vorgebrachter Überlegungen spiegelt sich der Stand der allgemeinen Grundeinkommensdiskussion gut wider. Unsere Aufassung dazu, siehe hier und hier.

Dass es sich bei dem Projekt vor allem um eine Aktion zur weiteren Verbreitung der Idee handelt, wie Michael Bohmeyer selbst schreibt, sollte nicht vergessen werden, denn mit einem von einer politischen Vergemeinschaftung von Bürgern bereitgestellten BGE hat sie nichts gemein (siehe auch unseren Kommentar zu Feldexperimenten). Darauf weisen auch manche Kommentare zu gegenwärtigen Diskussion um die Verlosung hin.

Die Finanzierung weiterer Grundeinkommen durch eine Crowdbar anzustreben, macht diesen Punkt ebenfalls deutlich. Denn zum einen ist es nicht Aufgabe eines Unternehmens, die Mittel dafür bereitzustellen, das geschieht jedoch über eine Crowdbar. Dadurch wird das BGE zu einer Privatangelegenheit. Zum anderen sollte klar sein, dass solche Aktionen ähnlich wie Kundenbindungssysteme (Payback etc.) natürlich nur durch den Absatz, also den Endkunden, getragen werden. Er „bezahlt“ es letztlich.

Sascha Liebermann

„Offener Brief von Otto Lüdemann“ – Antwort von Sascha Liebermann

Otto Lüdemann, Mitglied im Hamburger Netzwerk Grundeinkommen und im „Bürgerausschuss“ der Europäischen Bürgerinitiative Grundeinkommen (EBI), hat sich mit einem offenen Brief an Sascha Liebermann gewandt. Veranlasst haben ihn dazu seine Ausführungen zum Abschluss der Europäischen Bürgerinitiative Grundeinkommen. Hier nun die Antwort von Sascha Liebermann:

Lieber Herr Lüdemann,

vielen Dank für Ihre – und die Ihrer Mitstreiter (am Ende ist von „wir“ die Rede) – offenen Worte, auf die ich gerne antworte. Offenbar bestehen Differenzen darin, wie Sie auf der einen und ich auf der anderen Seite das Vorhaben sowie den Ausgang der EBI beurteilen und welche Schlüsse wir daraus ziehen.

Sie schreiben an einer Stelle:

„Niemand kann doch leugnen, dass das Sammeln von 285 000 Unterschriften aus 28 EU-Ländern innerhalb eines Jahres wie auch das Entstehen von BGE-Initiativen in 24 dieser Länder die Grundeinkommensbewegung in Europa einen entscheidenden Schritt vorangebracht haben“.

Gegen diese Einschätzung habe ich gerade Bedenken vorgebracht. Sie richten sich auch gegen die Gewissheit, mit der über die Zukunft geurteilt wird. Es wäre zu wünschen, dass daraus, über die EBI hinaus, vielfältiges, anhaltendes Engagement hervorgeht, wissen können wir das aber nicht. Die Erfahrung aus zehn Jahren deutscher Diskussion und einer sehr erfolgreichen Petition von Susanne Wiest haben mich gelehrt: Online erbrachte Unterschriften führen nicht unmittelbar zu anhaltendem Engagement, genauso wenig wie Link-Tauschs, Facebook-Likes oder Avaaz-Petitionen. Lokal aktive Initiativen, die die Auseinandersetzung mit den Bürgern von Angesicht zu Angesicht suchen und um die Idee werben – auf sie kommt es vor allem an. Eine weitere Lehre aus diesen Jahren ist: Nicht jedes weitere Bündnis verheißt zugleich einen Fortschritt für die Debatte. Wichtig ist, das Pluralität erhalten bleibt und gefördert wird, dafür sind Bündnisse nicht ohne weiteres hilfreich. Ob die Diskussion also vorankommt, wird sich zeigen müssen, wünschenswert ist es allemal.

Gegen meine Überlegungen zum Online-Sammelsystem wenden Sie ein, „dass die Menschen in einem kleinen Land eben leichter zu mobilisieren sind als in einem großen (so wie sich ein kleines Boot im Wasser leichter bewegen lässt als ein Ozeanriese); auch fehlt es Deutschland an einer Volksabstimmungstradition, die in der Schweiz bereits mehr als eineinhalb Jahrhunderte währt.“

Trifft Ersteres zu? Die Volksinitiative in der Schweiz war kein Selbstläufer und hatte zu Beginn erhebliche Schwierigkeiten, Unterschriften zu erhalten – trotz langer Tradtion. Den Umschwung brachte erst ein anderes, gelasseneres, jüngeres Engagement in Gestalt der „Generation Grundeinkommen“. Darauf wollte ich aufmerksam machen, die Art und Weise, wie Unterschriften gesammelt wurden. Außerdem haben oder hatten wir in Deutschland relativ zur Schweiz viel mehr lokale Initiativen in den Jahren vor der Volksinitiative. Selbstredend fehlt es in Deutschland an einer solchen Tradition wie in der Schweiz. Die Petitionen von Frau Wiest (etwas 52 Tsd.) und Frau Hannemann (etwa 90 Tsd.) haben allerdings gezeigt, was möglich sein kann. Das wirft die Frage auf, weshalb nicht mindestens diese Unterschriftenzahl erreicht worden ist und sie verlangt Antworten.

Ein Missverständnis scheint mir dort vorzuliegen, wo Sie meine Anmerkungen zur Unverbindlichkeit der EBI auf den Begründungstext bzw. das Verfahren beziehen. Darauf zielte ich gar nicht. Mir ging es um die Unverbindlichkeit dessen, was damit erreicht werden kann. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem demokratischen Legitimationsdefizit der EU. Im Charakter der EBI als solcher kommt es ebenso zum Ausdruck. Sie ist laut Darstellung der EU lediglich eine „Aufforderung an die Europäische Kommission“, auf die hin im besten Falle „… die Kommission eine formelle Antwort [gibt, SL], in der sie erläutert, ob und welche Maßnahmen sie als Antwort auf die Bürgerinitiative vorschlägt, und die Gründe für ihre – möglicherweise auch negative – Entscheidung darlegt“. Sie initiiert also keinen Gesetzgebungsakt – wie z.B. in der Schweiz – , sie ist lediglich ein Gesuch. Wer angesichts der Lage diese oder irgendeine ECI unterzeichnet, bringt sein Einverständnis mit diesem unverbindlichen Charakter zum Ausdruck, er nimmt ihn hin. Wer sich damit nicht abspeisen lassen will, unterschreibt – ganz konsequent – nicht. Das Scheitern der ECI könnte von daher auch als Erfolg in Sachen Bürgersinn verstanden werden: die Bürger lassen sich nicht an der Nase herumführen.

„3. Über die Frage, ob das BGE nun ein allgemeines „Menschenrecht“ oder ein „Bürgerrecht“ sein soll, lässt sich trefflich streiten. Für beide Positionen gibt es starke Argumente. Die wurden zu Beginn der EBI-Kampagne ausgiebig ausgetauscht, dann aber um gemeinsamer konsensfähiger Ziele willen vorläufig zurückgestellt. In einer produktiven Debatte sollten solche kontroversen Argumente benannt und gegeneinander abgewogen werden, statt dazu nur einseitig polemisch zu argumentieren.“

Diese Gegenüberstellung habe ich allerdings nicht vorgenommen. Menschenrechte – wobei sie eigens eine Diskussion wert wären, zumindest in Gestalt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – und Bürgerrechte lassen sich nicht gegeneinander stellen, sie hängen zusammen. Die Menschenrechte sind solange ein Abstraktum und bleiben folgenlos bis sie von einer Rechtsgemeinschaft, und das ist eine politische Gemeinschaft von Staatsbürgern, als schützenswert anerkannt werden. Sind sie dort anerkannt, gelten sie für alle Menschen, die sich im Herrschaftsbereich des Gemeinwesens aufhalten – Staatsbürger wie Nicht-Staatsbürger. Dieser Anerkennung geht allerdings schon voraus, dass sie zu mehr oder weniger selbstverständlichen Normen der Lebensführung geworden sind. Die Menschenrechte bringen bestenfalls etwas zum Ausdruck, das dem realen Leben abgeschaut wurde. Solange sie aber in diesem Leben als nicht verbindlich gelten, bleiben sie abstrakt. Das ist auch der Grund dafür, weshalb sie nicht überall in der Welt Anerkennung finden. Würde man die Menschenrechte von der Existenz eines politischen Gemeinwesens, das sich an sie bindet, lösen, stünde die internationale Staatengemeinschaft vor folgender Frage: Soll sie die Menschenrechte durch Interventionen in politische Gemeinschaften durchzusetzen versuchen, also von außen notfalls mit Gewalt? Damit geht ein Eingriff in die Souveränität einher. Wohin das führen kann, zeigen uns die Erfahrungen z. B. im Irak und in Afghanistan.

Wenn die Formulierung „gemeinsamer konsensfähiger Ziele“, wie Sie schreiben, dazu führt, die Stellung der Staatsbürger in der politischen Gemeinschaft zu vernachlässigen, dann ist das ein hoher Preis. Wer den Begründungstext der EBI gelesen hat, musste sich fragen, wie die Initiative zur Stellung der Staatsbürger steht, auf welche Ausgestaltung der EU sie zielt. Die „konsensfähigen Ziele“ könnten genau deswegen ein Grund gewesen sein, nicht zu unterzeichnen.

Wer zum Instrument der EBI greift, muss sich darüber im Klaren sein, was er dadurch befördert. Darauf wollte ich unter anderem aufmerksam machen. Sicher, die EBI lässt sich auch strategisch einsetzen, in der Hoffnung darauf, Aufmerksamkeit für lautere Ziele zu erhalten. Doch das geht nur um den Preis, ihre Unverbindlichlichkeit ganz im Geist des Demokratiedefizits in Kauf zu nehmen und damit die Herabsetzung der Bürger hinzunehmen.

Mir scheint dies Anlass, darüber nachzudenken, wie die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen vorangebracht werden könnte, wenn man diesen genannten Preis nicht zahlen will. Eine Diskussion in den Mitgliedstaaten, ohne gleich auf eine europäische Lösung zu zielen, zumindest solange sich die Lage nicht ändert, sowie ein Austausch zwischen Befürwortern, wie er so oder so ohnehin schon gepflegt wurde, kann die Diskussion mindestens genauso gut voranbringen.

Sascha Liebermann

Grundeinkommen individualistisch? Ein Missverständnis

Thomas Straubhaar hat in einem Beitrag für Die Welt im vergangenen Mai, „Warum Grundeinkommen gut zu den Piraten passt“, die Befürwortung eines Bedingungslosen Grundeinkommens durch die Piraten kommentiert. Darin findet sich die folgende Passage.

„…Das Grundeinkommen ist ein zutiefst individualistisches Konzept. Deshalb passt es so gut zu den Piraten. Weil das Grundeinkommen bedingungslos gewährt wird, verzichtet es auf jeglichen Paternalismus. Niemand macht Sozialtransfers an bestimmten Verhaltensweisen, Lebens- oder Familienformen fest. Niemand überprüft, ob es gute oder schlechte Gründe für eine Unterstützung gibt…“

„Individualistisch“? Zumindest ist diese Bezeichnung missverständlich, durch den „-ismus“ wird das Individuum vom Gemeinwesen separiert, beinahe als stünden sie gegeneinander. Zwar richtet sich das BGE in der Tat ans Individuum, aber nicht zu Lasten des Gemeinwesens, vielmehr zu seiner Stärkung. Das  Individuum als Bürger existiert nicht ohne ein Gemeinwesen, es wächst aus ihm hervor, aus Familie und politischem Solidarverband. Gemeinschaft ist Bedingung von Individuierung. Insofern sind beide notwendig aufeinander verwiesen, das eine ist nicht ohne das andere. Als Einkommen, das vom Solidarverband Gemeinwesen bereitgestellt wird, ist das BGE eben nicht nur auf das Individuum gerichtet, wie es in Wendungen wie „von der eigenen Hände Arbeit zu leben“ zum Ausdruck kommt. Ein BGE anerkennt, dass dieses Individuum von der Unterstützung des Gemeinwesens abhängig ist, damit es sich für das Gemeinwesen entscheiden kann. Individuen gibt es nicht ohne Gemeinwesen und anders herum gilt das auch. Es geht um einen elementaren Zusammenhang.

Weiter heißt es im Beitrag von Thomas Straubhaar:

„…Die Höhe des Grundeinkommens festzulegen, ist eine politische Entscheidung. Dabei gilt ein äußerst einfacher ökonomischer Zusammenhang: Ein hohes Grundeinkommen bedingt hohe Steuersätze, ein niedriges Grundeinkommen ermöglicht tiefe Steuersätze. Hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, tiefes Grundeinkommen und tiefe Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten, um so einfacher wird das Grundeinkommen zu finanzieren sein, je geringer die Arbeitsanreize, um so weniger wird das Grundeinkommen finanzierbar sein…“

Das simplifizierte Anreiztheorem ist nicht in der Lage, Eigeninteresseverfolgung und Gemeinwohlbindung als Momente ein und derselben Handlungsmotivierung zu betrachten. Es reißt sie auseinander und setzt folgerichtig Egoismus auf die eine, Altruismus auf die andere Seite. Nicht Einkommenssicherheit, wie so oft, Steuerbelastung wird hier zum Beweggrund, nicht oder weniger zu arbeiten. Weshalb engagieren sich Menschen dann ehrenamtlich, wenn es sich doch nicht lohnt? Man könnte hier fragen, ob es überhaupt die Steuerbelastung ist, die für die Motivierung von Handeln eine Rolle spielt, ob nicht vielmehr die Steuerart zu betrachten wäre. Inwiefern trägt eine Steuer wie die Einkommensteuer, die nicht fragt, was mit Einkommen getan, wofür es eingesetzt wird (Investition oder Konsum), die sich einzig daraus rechtfertigt, vom verfügbaren Einkommen abzuschöpfen, inwiefern trägt sie zu einem bestimmten Gerechtigkeitsempfinden bei? Für ein Gemeinwesen ist es doch entscheidend, was Menschen tun, wie sie handeln und dass zwischen Bereitstellung von Leistungen und Verzehr ein Unterschied gemacht werden muss. Weshalb aber schon die Bereitstellungsphase besteuern, was die Einkommensteuer tut? Weshalb nicht erst den Verzehr und nur ihn besteuern? Die ganze Diskussion um Steuergerechtigkeit in Deutschland stellt diese Frage kaum. Der Blick richtet sich zu sehr auf das „Das“, das Einkommen, und nicht auf das „Wozu“, Leistungserstellung oder Verzehr. Damit wird gerade ein Phänomen bestärkt, was immer wieder beklagt wird, dass die Leute so sehr auf Geld, Geldverfügung, Geldhaben achten würden. Wer daran etwas ändern will, muss eine Diskussion über das Wie der Steuerabschöpfung führen.

„…Das Grundeinkommen ist nichts anderes als ein Steuerfreibetrag in Höhe des Existenzminimums – so wie er bereits heute in Deutschland allen gewährt werden muss. Damit ist auch ein anderer Vorwurf entkräftet, nämlich dass auch Gutverdienende das Grundeinkommen erhalten. Sie „finanzieren“ diesen Transfer schlicht durch die Bruttobesteuerung ihrer Einkommen. Im Gegenzug erhalten sie eine Entlastung durch das auch ihnen ausbezahlte Grundeinkommen. Im Endeffekt bleiben sie aber immer noch Steuerzahler. Somit gilt auch beim Grundeinkommen, dass wer besser verdient, netto immer noch mehr in die Staatskassen abführen muss, als jene, die weniger verdienen.“

Diese Betrachtung ist insofern angemessen, als Steuerentlastung (über den Freibetrag) und Steuerschuld in einem definierten Zeitraum (z.B. in einem Jahr) ins Verhältnis gesetzt werden. In zweierlei Hinsicht allerdings ist diese Äußerung schief. Es ist das zu garantierende Existenzminimum, aus dem sich Transferleistungen auf der einen, Steuerfreibetrag auf der anderen Seite herleiten – nicht umgekehrt. Deswegen ist das BGE auch kein Steuerfreibetrag, wenngleich es technisch so betrachtet werden kann. Von der Seite der Rechtfertigung ist es eine Einkommensgarantie, die das Gemeinwesen seinen Bürgern bereitstellt, weil sie Bürger sind – es ist also eine Leistung, die sich daraus herleitet, dass das Gemeinwesen Zweck um seiner selbst willen ist und deswegen seine Angehörigen schützen muss. Straubhaar spricht hier interessanterweise nur von der Einkommensteuer, aus der „Gutverdienende“ das Grundeinkommen finanzierten. Dabei fällt unter den Tisch, dass indirekte Steuern wie z.B. die Mehrwertsteuer etwa die Hälfte des Steueraufkommens ausmacht. Letztlich ist auch das noch ungenau, weil Ausgaben jeglicher Art eines Unternehmens, aus den Einnahmen bestritten werden müssen, deswegen die Ausgaben auch in den Preisen für Güter und Dienste landen müssen. Insofern ist die Einkommensbesteuerung nur formal relevant, praktisch wirksam wird sie in den Preisen.

Derselbe Thomas Straubhaar, der sich hier für ein Grundeinkommen ausspricht, feierte zugleich die vermeintlichen Erfolge der Hartz-Gesetze. Sonderbar.

Sascha Liebermann

Freiheit statt, Freiheit zu, Freiheit durch Vollbeschäftigung? Irritationen

„Freiheit statt Vollbeschäftigung“, mit diesem Slogan ist die Initiative vor etwas mehr als fünf Jahren angetreten, um für ein bedingungsloses Grundeinkommen zu streiten. Immer wieder ruft er Irritationen hervor. Worum geht es dabei, weshalb kann ein Gegensatz zwischen Freiheit und Vollbeschäftigung bestehen?

Zuerst einmal rückwärts. „Freiheit durch Vollbeschäftigung“ (z.B. gefordert von Daniel Kreutz) – das ist so, als werde man durch Erwerbsarbeit ein freier Mensch, denn Vollbeschäftigung ist ein terminus technicus, ein Fachausdruck, der sich nur auf Erwerbsarbeit bezieht, auf nichts anderes. Fast klingt es wie der umgedrehte Slogan „Vollbeschäftigung statt Freiheit“, wie kürzlich Juliane Jaschik es auf den Punkt brachte. Nicht steht der tätige Mensch im Zentrum. Darauf hat jüngst auch Wolfgang Strengmann-Kuhn in einem Beitrag hingewiesen – auch wenn er darin der Meinung ist, das Konzept der Vollbeschäftigung vor unserem Slogan in Schutz nehmen zu müssen (S. 12 f.). Freiheit durch Vollbeschäftigung wäre beinahe noch eine Verschärfung dessen, was wir mit den sogenannten Hartz-Gesetzen bislang erlebt haben, weil es noch stärker an die Stelle des Bürgers und seiner Autonomie, sich seinen Weg im Leben und für das Gemeinwohl zu suchen, den Erwerbstätigen setzte. Auch die gefällig klingende Variation von Dieter Scholz, in der immerhin das freie Tätigsein erkennbar ist – „Freiheit durch selbstbestimmte Arbeit“ (siehe „Arbeit und Freiheit im Widerspruch, S. 7) – lässt den Menschen erst durch Arbeit zum Menschen werden. Nicht ist er es schon um seiner selbst willen, ganz gleich, ob er etwas unternimmt. Frei scheint er erst werden zu müssen. Ein Rückschritt hinter unsere politische Ordnung.
„Freiheit zu Vollbeschäftigung“, das käme der Sache schon näher, um die es mit dem bedingungslosen Grundeinkommen geht, wenn damit die Freiheit gemeint wäre, sich mit dem voll und ganz beschäftigen zu können, das man für wichtig und richtig erachtet. Das aber ist nicht mit dem Ausdruck „Vollbeschäftigung“ gemeint. Denn Vollbeschäftigung heißt der Zustand eines weitgehenden Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage. Was aber, wenn es ein Ungleichgewicht, sprich ein Über- oder ein Unterangebot an Arbeitskraft gibt? Für die Vollbeschäftigungsdenke muss das zum Problem werden. Nicht aber, wenn dies vom BGE aus betrachtet wird, da der Einzelne tun kann, was er für richtig hält, ganz gleich ob im oder jenseits vom Arbeitsmarkt.

Steht denn, so müssen wir uns fragen, nicht vor jeder Tätigkeit, vor jeder Auseinandersetzung mit einer Aufgabe, einer Herausforderung, einem Problem die Anerkennung der Bürger um ihrer selbst willen, also die Anerkennung der politischen Vergemeinschaftung als Selbstzweck? Ist nicht das gerade die Grundlage unserer politischen Ordnung: die Bürger so anzuerkennen, wie sie sind, ihnen die Bürgerrechte bedingungslos zu verleihen, weil wir zumindest im Handeln, wenn auch nicht im Denken, uns darüber im klaren sind, dass mit der Freiheit des Einzelnen im Gemeinwesen alles beginnt und auch endet? Und folgt nicht erst an zweiter Stelle die andere Freiheit als Freiwilligkeit, die Freiheit, das zu tun, das man für wichtig und richtig erachtet, also die Freiheit zur Tätigkeit?
Wenn das so ist, dann sind Freiheit und Tätigkeit nicht gleichwertig, letztere folgt erst aus ersterer. Wird aber die Tätigkeit für wichtiger erachtet, wie es unsere Sozialpolitik nicht nur in den letzten Jahren auszeichnet, dann treten Freiheit und Tätigkeit und erst recht Freiheit und „Vollbeschäftigung“ in Gegensatz. Sie müssen erst wieder in das ihnen angemessene Verhältnis gebracht werden. Genau deshalb kann es um nichts anderes gehen als um „Freiheit statt
Vollbeschäftigung“.

Sascha Liebermann