Realitätsfremde Vorstellungen – was können wir uns nicht leisten?

Die CDU hatte in jüngerer Zeit schon in verschiedenen Pressemitteilungen das Schreckgespenst an die Wand gemalt, siehe hier. Da scheint es eben ans Eingemachte zu gehen, wenn solche Entstellungen des Bürgergeldes stattfinden, das weder „Mitwirkungspflichten“ aufgeben noch Sanktionen abschaffen will. Müsste man sich nicht eher fragen, ob wir uns diese realitätsfremde Vorstellung leisten können, Menschen bräuchten „Anreize“ (siehe auch hier), um sich einzubringen? Das Grundgesetz kennt keine „Anreize“ für den Bürgerstatus, für unbezahlte Arbeit winken auch keine oder es wird damit etwas ganz anderes gemeint. Eine Demokratie, die mit „Anreizen“ locken würde (siehe hier und hier), wäre schon verloren, sie untergrübe die Bindungskräfte, die ein demokratisches Gemeinwesen benötigt. Wo sie in Frage stehen, gibt es einzig einen Weg: öffentliche Debatte auf der Basis von Argumenten und Wahlverfahren.

Sascha Liebermann

Soziokulturelles Existenzminimum, Mitwirkungspflichten und Boni-Systeme

Sebastian Thieme hat in diesem Twitter-Thread bedenkenswerte Anmerkungen zu Sanktionen im Sozialgesetzbuch und dem diesbezüglich ambivalenten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemacht. An manchen Stellen scheinen mir Ergänzungen oder auch Nachfragen dazu angebracht.

Dass es eine Widersinnigkeit sei, das soziokulturelle Existenzminimum kürzen zu dürfen, dem sei hier nicht widersprochen, schließlich wird der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, der sich aus derselben Begründung legitimiert, auch nicht bei abweichendem Verhalten gekürzt. Darin kommt nun wieder die Ungleichbehandlung zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen zum Ausdruck.

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„Arbeitslosigkeit ist kein Anreizproblem“…

…so der Titel eines Interviews mit Barbara Prainsack in der Wiener Zeitung.

Auf die erste Frage antwortet Frau Prainsack, dass ein reiches Land eine „moralische Verpflichtung“ habe, ein „ausreichendes Einkommen für ein würdevolles Leben zu garantieren“. Woraus aber erwächst diese Verpflichtung genau und was lässt aus einer abstrakten Verpflichtung eine gemeinschaftliche Aufgabe werden, wäre hier zu fragen?

Man kann in diesem Zusammenhang auf die „Menschenrechte“ verweisen, das wäre allerdings abstrakt, denn zumindest die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen tut sich damit schwer, sie hebt zwar ein „Recht auf Arbeit“ (Art. 23) hervor, nicht aber ein Recht auf Einkommen. Davon abgesehen hilft eine Erklärung nicht weiter, solange sich ein Gemeinwesen nicht nur zu ihr bekennt, sondern diese Vorstellung von Rechten auch als etwas betrachtet, dass zu ihrem Selbstverständnis gehört und seinen Sozialstaat entsprechend gestaltet. Damit es soweit kommt, bedarf es eines bestimmten Verständnisses davon, welche Stellung der Bürger in der politischen Ordnung hat, denn erst wenn sich dazu bekannt wird, dass die Bürger die Ordnung auch tragen (müssen), kann Nicht-Bürgern ebenso ein solches Einkommen bereitgestellt werden, weil die Loyalität ersterer unerlässlich, die letzterer in keiner Form verlangt werden kann. Insofern läge es also viel näher und würde der Verfasstheit von Demokratien entsprechen, ein BGE aus der politischen Ordnung und der Stellung der Bürger in ihr abzuleiten. Dass dann auch Nicht-Staatsbürger ein BGE erhalten, folgte aus dem Verständnis personaler Würde.

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„Anreize“ können differenziert betrachtet oder als Joker für die verschiedensten Dinge genutzt werden,…

…in jedem Fall ist die Begrifflichkeit ungenau und verwirrend, in der Diskussion über Leistungsbereitschaft bzw. Leistungserstellung gehört sie zur etablierten Terminologie. Überwiegend werden sie in der im Titel  letzteren Version verwendet, wie man schon daran sehen kann, dass aus der Höhe z. B. des Arbeitslosengeldes auf eine nahezu direkte Wirkung auf die Leistungsbereitschaft von Arbeitslosengeldbeziehern geschlossen wird. Selbst wenn eingeräumt wird, dass die Zusammenhänge komplexer sind, mehrdimensional oder gar die Lohnhöhe für nachrangig gehalten wird, wird dennoch am Gebrauch des Begriffes festgehalten (kürzlich z. B. als es um das Bürgergeld ging, siehe auch hier). Walter Edelmann hat schon vor vielen Jahren dargelegt, dass ihn erstaunt, wie wenig Bedeutung intrinsischer Motivation beigemessen wird und hat dies bei Lehramtsstudenten festgestellt. Diese Grafik aus einem seiner Kurzbeiträge ist interessant, weil der „Anreiz“ hier auf die Seite des Intrinsischen verlegt wird, vollkommen konträr zum verbreiteten Gebrauch:

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Wirtschaftsdienst Zeitgespräch „Von Hartz IV zum Bürgergeld“ – Annahmen und Engführungen

Das Zeitgespräch hatte ein bestimmtes Thema, von daher mag es nahegelegen haben, dazu beinahe ausschließlich Ökonomen einzuladen, deren Kurz-Vorträge zuvor schon auf der Website des Veranstalters als Beitrag erschienen waren. Eine fachliche Ausnahme bildete Michael Opielka, der gemeinsam mit Wolfgang Strengmann-Kuhn vortrug. Im Video des Veranstalters, das in der nächsten Woche veröffentlicht werden soll, ist, so steht zu hoffen, auch die Diskussion enthalten, die Gelegenheit zu Rückfragen und Klärungen gab. Ich möchte an dieser Stelle wenige Anmerkungen zu den Vorträgen und der Diskussion machen.

Zuerst einmal wurde in der Veranstaltung deutlich, wie mühsam und kleinteilig sozialpolitische Diskussionen sein können. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob sie von einer eher politikberatenden Warte geführt oder grundsätzliche Fragen gestellt werden, die gleichwohl für Politikberatung ebenfalls relevant sind. Ersteres umfasst Vorschläge, wie im bestehenden Gefüge angesetzt werden könnte, um Veränderungen zu erreichen, verbleibt aber im Gefüge des Bestehenden. Hier gilt es allerhand zu berücksichtigen. Große Bedeutung hat es dabei, welche Auswirkungen Veränderungen wiederum haben könnten, z. B. dass mehr Personen in den Grundsicherungsbezug eintreten, welche „Anreize“ wünschenswert seien und welche nicht. Zweiteres, also die grundsätzlichen Fragen, richtet sich darauf, die Annahmen, auf denen das bestehende Gefüge beruht, zu hinterfragen, die in der Debatte bislang eher als gesetzt gelten – so auch überwiegend in dieser Runde. Solche Fragen richten sich darauf, warum Menschen so handeln, wie sie handeln und ob die Gründe nicht differenzierter sind, als in der Debatte angenommen.

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Hilfreich für Interessierte und die Diskussion um „Anreize“…

…, dieser lange Twitter-Beitrag von Sebastian Thieme gibt einen Einblick in die Diskussion um verschiedene Annahmen zum homo oeconomicus (in der Soziologie häufiger unter dem Schlagwort „Rational Choice“ oder „rationale Wahl“ thematisiert), die auch für die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen interessant sind. Denn darin tauchen diese Annahmen stets im Zusammenhang mit der Frage danach auf, ob denn nun das „Arbeitsangebot“ (Erwerbstätigkeit) gleichbleibe, ab- oder zunehme. Das Theorem der Armuts- bzw. Arbeitslosigkeitsfalle fußt ebenso darauf und gilt bis heute als ein Kriterium (Lohnabstandsgebot) für die Bestimmung der Regelsatzhöhe. Dem unterliegt, wie Thieme auch schreibt, ein „Anreiz“-Konzept, das in der meist verwendeten Schlichtheit einen erstaunen lassen kann (für eine anspruchsvollere Variante siehe hier, man beachte das Schaubild und die Verortung des „Anreizes“, wodurch das Konzept vollständig umgedreht wird). Diese Vorstellung vom rationalen Akteur ist es, die standardisierten Befragungen unterliegt, die an allen Ecken und Enden erstellt und zitiert werden. Denn Befragungen zielen auf Selbsteinschätzungen, erlauben es nicht, dass Antworten ungeschminkt „in der Sprache des“ Befragten zum Ausdruck kommen. Selbsteinschätzungen können ziemlich weit von dem entfernt sein, wie jemand denkt und handelt, das ist eine Erfahrung aus der Auswertung nicht-standardisierter Interviews. Aussagen sind stets viel reichhaltiger und widersprüchlicher, als Skalenantworten oder vordefinierte Optionen erwarten lassen.

Sascha Liebermann

„Das Grundeinkommen ist wieder da – und soll die Marktwirtschaft retten“ schreibt Christoph Eisenring…

…über das neue Buch von Thomas Straubhaar in der Neuen Zürcher Zeitung. Eisenring hatte schon das erste Buch Straubhaars zum Bedingungslosen Grundeinkommen „Radikal gerecht“ rezensiert (siehe hier) und erwartbare, teils treffende Einwände vorgebracht. In der aktuellen Rezension geht es wieder um „Arbeitsanreize“, die Eisenring ähnlich krude verwendet wie Straubhaar über die Jahre selbst. Wer behauptet, Erwerbsarbeit verliere aufgrund höherer Besteuerung an Attraktivität, sollte sich einmal damit befassen, welche Gründe es noch dafür gibt, erwerbstätig zu werden, dann würde die Deutung ungleich komplexer werden. Darauf habe ich in meinem damaligen Kommentar auch mit Verweis auf Ausführungen Karl Widerquists hingewiesen.

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Schreckgespenst Inflation – mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen wird es sie sicher geben…

…ist immer wieder zu hören. Im selben Atemzug wird häufig behauptet, das genau diese Frage eine Schwachstelle der BGE-Debatte sei – ganz ähnlich wie die „ungeklärte“ Finanzierungsfrage -, es werde sich damit, so die Behauptung, ja gar nicht beschäftigt. Wie diejenigen, die das behaupten, darauf kommen, ist ihr Geheimnis, denn die Frage, ob Inflation entstehen könne, begleitet die Debatte schon lange. Man müsste sich nur die Mühe machen, ein wenig zu recherchieren, aber dann wäre der gesamte Gestus des Aufklärens nur halb so viel wert. Aus etwa 17 Jahren öffentlichen Vorträgen zu der Thematik kann ich sagen, dass diese Frage immer gestellt wurde. In der Literatur fallen die Einschätzungen keineswegs so eindeutig aus, wie es die Aufklärer gerne hinstellen (siehe die Hinweise unten), so „hart“ scheinen die „Fakten“, auf die sich manche berufen, nicht zu sein. Klarerweise kann es mit einem BGE zu Inflation kommen, wie es auch heute Inflation gibt und immer wieder geben kann, sie wird sogar direkt angestrebt, z. B. die Zielinflation im Euro-Raum. Nicht Inflation als solche, erst unverhältnismäßige wäre bedenklich.

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Bildungsökonomik in „Wirtschaftsdienst“ – treffende Anmerkungen

Siehe unsere jüngeren Kommentare zu dieser Thematik hier.

„Entgegen verbreiteter Annahmen nehmen erwerbslose Arbeitslosengeld-II-Beziehende in einem nicht zu vernachlässigenden Umfang (wieder) eine Beschäftigung auf“…

…stellt ein Beitrag von Katharina Dengler und Kathrin Hohmeyer im IAB-Forum heraus. Wie die Autoren festhalten, ist diese Einsicht nicht neu. Siehe auch frühere Beiträge zu dieser Thematik hier, zur vermeintlichen Armutsfalle hier und hier.