.. Und schon geht sie (wieder) los, die Debatte, dass wir mehr und länger und überhaupt arbeiten sollen müssen“ – ein Beitrag von Stefan Sell zur wiederkehrenden Debatte um – wie er treffend schreibt – politisierte Arbeitszeitvergleiche.
Dass mit statistischen Daten nach- bis fahrlässig umgegangen wird, ist zwar keine Neuigkeit, aber ein anhaltendes Problem, weil damit ernsthafte Fragen und Diskussionen erschwert werden. Sell weist zurecht auf die Bedeutung von Sorgetätigkeiten hin, die in der Forderung nach erhöhten Erwerbsarbeitszeiten in der Regel keine Rolle spielt, so als erledigten sich diese Aufgaben von alleine.
Eines lässt sich in den schiefen Arbeitszeitvergleichen dann doch erkennen, und zwar die Vorstellung, es komme darauf an, viel zu arbeiten, also viele Stunden, weil viel macht viel. Seit Jahren wird der Zuwachs an Arbeitsstunden gefeiert und als Erfolg verkauft von Politikern und in Talkshows, häufig ohne weitere Differenzierung.
Siehe unsere früheren Beiträge zu diesem Themenkomplex hier, zu Sorgetätigkeiten, also „unbezahlter Arbeit“ hier.
…darüber schreibt Stephan Kaufmann auf der Website des Deutschlandfunkkultur und will die Mär entzaubern, dass Leistung und Einkommen miteinander zusammenhängen bzw. solche Zusammenhänge auf einfache Weise hergestellt werden könnten. Dabei geht er verschiedene Begründungen dafür durch, weshalb es den Zusammenhang geben solle und zeigt auf, warum das unplausibel ist, weil weder ein direkter Zusammenhang erkennbar sei, noch Leistung individuell zugerechnet werden könne (wie z. B. schon Emile Durkheim und später Claus Offe deutlich machten). Auch wenn diese Überlegungen nichts Neues zutage fördern, so ist es doch wichtig, darauf immer wieder hinzuweisen, wenn in keiner Debatte der Hinweis auf den „mit eigener Hände Arbeit“ verdienten Lohn der „hart arbeitenden Menschen“ fehlen darf. Keineswegs sollte das nun dazu verleiten, jegliche Form davon, etwas hervorgebracht oder eben geleistet zu haben, als abwegig abzutun, doch gilt es zu relativieren, worin nun der Beitrag des Einzelnen besteht.
„Die Gegner [eines BGE, SL], darunter Vertreter von Arbeitgeberverbänden wie auch von Gewerkschaften, führen an, dass ein solches Konzept nicht finanzierbar und ungerecht sei. Wenn immer weniger Menschen arbeiten, woher kommt dann die materielle Basis, um ein Grundeinkommen zu finanzieren?“
Für den Wertschöpfungsprozess ist es nicht entscheidend, wieviele „Menschen“ arbeiten und auch nicht, wieviele Stunden sie arbeiten, sondern wieviel produziert wird und dass dem Angebot eine entsprechende Kaufkraft gegenübersteht. Wenn dazu menschliche Arbeitskraft benötigt wird, wird um sie geworben werden müssen, wenn nicht, dann nicht. Wie wir an der Enwicklung des Arbeitsvolumens (siehe auch hier) in Deutschland sehen können, hat das eine mit dem anderen nicht unmittelbar etwas zu tun.
Auszug des Beitrags auf Querschüsse: „Während also seit 1991=100, dass insgesamt geleistete Arbeitsvolumen in Stunden um -0,6% bis Q2 2017 sank, stieg das nominale BIP im selben Zeitraum um knapp über 100 Prozent was den Einfluss von Produktivitäts- und Preissteigerungen auf das nominale BIP dokumentiert, aber auch den stark gewachsenen Außenbeitrag (Nettoexporte) reflektiert. Ein geleistetes Arbeitsvolumen in Q2 2017 unterhalb von 1991 verdeutlicht auch, den irgendwann zum Scheitern verurteilten Versuch, ein Sozial- und Rentensystems ausschließlich auf Erwerbsarbeit abzustellen!“
…so wird der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger im Beitrag von Alexander Hagelüken, „Der Absturz lässt sich stoppen“, in der Süddeutschen Zeitung, zitiert. Es geht darin vor allem um die Digitalisierung und ihre etwaigen Folgen, das Sinken der Erwerbsarbeitszeit seit dem Jahr 2000, Produktivität usw. Dann führt Hagelüken das Grundeinkommen als etwas an, das „neben den linken Initiatoren“ nun auch von Unternehmesvorständen vertreten werde. Abgesehen, dass dies historisch so nicht eingeordnet werden kann, stimmt es nicht einmal für die jüngere deutsche Diskussion, wenn man an das Engagement von Helmut Pelzer, Götz W. Werner und manch andere denkt, die von Anfang an sich für das BGE eingesetzt haben. Man wundert sich manchmal, wie Journalisten recherchieren oder ob sie überhaupt recherchieren. Dann folgt dieser Absatz:
„Dann beginnen die Fragen: Wie viel? Die 560 Euro, die beim Modellversuch in Finnland an Arbeitslose fließen, werden vielen Menschen zu wenig sein. Für 1200 bis 1400 Euro, die ebenso im Gespräch sind, gilt dies womöglich auch, allemal, wenn davon Kinder satt werden müssen. 1400 Euro entsprechen dem, was in Deutschland mit Mindestlohn zu verdienen ist. Brutto. Wer macht noch solche Jobs, wenn er das Geld auch so kriegt, und ist das Grundeinkommen finanzierbar, wenn es sehr viele in Anspruch nehmen? Ist es überhaupt finanzierbar? Wie stehen die Bezieher der Grundeinkommens da, wenn jene Steuerzahler, die es finanzieren, politisch eine Abschaffung durchsetzen?“
Beim BGE soll es sich ja um ein Individualeinkommen handeln, in einem Haushalt kumuliert es also zu sovielen BGE wie es Personen gibt. Selbst ein BGE in der Höhe von 800 Euro würde hier – je nachdem, was davon bezahlt werden muss – zu einem Haushaltseinkommen bei drei Personen von 2400, bei vier von 3200 Euro führen. Ist das zu wenig, um davon „satt werden“ zu müssen? Eine sonderbare Perspektive. Bedenkt man darüber hinaus, dass über Erwerbstätigkeit weitere Einkommen hinzukommen könnten, wundert man sich um so mehr.
Interessanter als die Nachlässigkeiten Hagelükens ist aber die Bemerkung Bofingers über das „geltende System“. Sicher, man kann es sich einfach machen, und damit die heute mit Leistungsbedingungen versehenen, bereitgestellten Einkommen der verschiedensten Art bezeichnen (Rente, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe usw.). Das ist aber nur ein Teil des „Systems“, denn das andere würde einem BGE ganz entsprechen: die demokratische Verfasstheit mit ihren ausdrücklichen Geltungsbedingungen. Dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, dieses Volk sich durch die Staatsbürger bildet und die Stellung der Staatsbürger, also als Souverän, durch bedingungslose verliehene Rechte geschaffen und abgesichert ist. Diese Seite des Systems, das in gewissem Widerspruch zu unserem heutigen Gefüge sozialer Sicherung steht, ruft geradezu nach einem BGE. Doch das wird viel zu wenig gesehen und entsprechend zu wenig darüber diskutiert.
„Es muss einen Grund geben, warum ausgerechnet viele IT-Pioniere aus dem Silicon Valley zu den Verfechtern eines bedingungslosen Grundeinkommens gehören“ – so eröffnet Thomas Fromm im Deutschlandfunk seine Besprechung des Buches von Robert Gordon „The Rise and Fall of American Growth“. Gordon widerspricht der These, dass die Digitalisierung zu neuen Produktivitätsschüben führe. In der Tat ist dies umstritten, weil die zur Beantwortung der Frage herangezogenen Statistiken, so manche, nicht all die Leistungsentstehung abbilden, die unentgeltlich erfolge. Es sei hier dahingestellt, was tatsächlich der Fall ist. Für Fromm ist Gordons Buch offenbar ein willkommener Aufhänger, um sein Misstrauen gegenüber der BGE-Befürwortung durch IT-Unternehmer und -Investoren (siehe hier ein interessantes Gespräch mit Albert Wenger, der ein solcher Investor ist) zum Ausdruck zu bringen (ähnlich vor wenigen Wochen Alfred Krüger und Adrian Lobe). Woran will man einschätzen, was zutrifft?
Es bleibt nur, die Argumente auf Plausibilität zu prüfen, die für ein BGE vorgebracht werden. Dass BGE und Digitialisierung nicht nur notwendig miteinander zusammenhängen, darauf habe ich schon öfter hingewiesen. Dadurch werden aber nicht die Überlegungen geschmälert, die für ein BGE sprechen und die über die Frage nach etwaigen Folgen der Digitalisierung hinausweisen. Albert Wenger bringt manche dafür vor.
Das ist Gegenstand eines Interviews auf Zeit Online mit dem Arbeitsforscher Roland Paulsen, der darin die These vertritt, dass es neben dem Phänomen der Arbeitsverdichtung auch das der Arbeitsleere gibt. Hier ein Interview mit Paulsen bei der BBC. Siehe auch „The Art of Nothing at Work“. Sein Buch „Empty Labor“ bei google books. Die Überlegungen von Paulsen sind für die Frage interessant, wieviel der heute aufgewandten Zeit tatsächlich für die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen notwendig ist und wieviel schlicht auf die Vorstellung zurückgeht, dass Erwerbstätigkeit per se sinnvoll ist. US-Amerikaner haben für das Präsenzzeigen am Arbeitsplatz einen prägnanten Ausdruck: face-time.
Die Diskussion um die Rente mit 63 – unter anderem, wie sie in der Sendung „Die Rentner der Zukunft – Arbeit statt Ruhestand?“ am gestrigen Abend bei Günter Jauch – zeigt wieder einmal, wie eingefahren die Denkvoraussetzung sind: alle gehen wie selbstverständlich von der Unveränderbarkeit der Erwerbsarbeitsgesellschaft aus. Niemand der Diskutanten, nicht einmal Norbert Blüm, der immerhin noch die Wahl des Renteneintrittsalters in die Hände des Einzelnen legen wollte, seine Freiheit aber einschränkte durch die Forderung nach Abschlägen bei früherem Renteneintritt, stellte die Beitragsfinanzierung der Rente infrage. Dabei war am gleichen Wochenende Angela Merkel bei der Eröffnung der Hannover Messe zu hören, wie sie von der „smarten Industrie“ und der Industrie 4.0 schwärmte – mit Recht. Aber: Wenn die Abschaffung überflüssiger Arbeit nicht zu überflüssigen Menschen führen soll, dürfen wir Menschen nicht mehr lediglich über Erwerbsarbeit definieren. Auch die Landwirtschaft ist längst ein Vorreiter, in naher Zukunft wird auch dort weitgehend automatisierte Produktion stattfinden. Mit der Forderung nach lebenslangem Lernen ist dem, anders als Angela Merkel meint, nicht zu begegnen. Den Bürgern hingegen die Freiheit zu geben, sich nach eigener Entscheidung und mit eigener Verantwortung zu engagieren – auch in der „smarten“ Produktion der Zukunft, auch in der eigenen Lebenszeit nach einem Engagement in der Erwerbsarbeit, in der immer mehr eben ein produktives Leben führen können und wollen, oder auch neben der Erwerbsarbeit oder statt ihrer –, das ist die Lösung. Und diese erfordert ein einfaches Umdenken: Abschied von der Erwerbsarbeitsfixierung, was für einen Übergang eine Rentenfinanzierung aus Steuern bedeutet und was unmittelbar beginnen kann mit dem steuerfinanzierten Grundeinkommen. Die „smarte Industrie“ wird ja die Produktivität weiter erhöhen, wird die Wertschöpfung steigern. Daraus ein freies Leben zu finanzieren ist leicht möglich – nur gedacht werden muss es. Solche Widersprüche wie die zwischen dem Lob der „smarten Industrie“ und dem Festhalten an der Beitragsfinainzierung der Rente aufzudecken – in privaten wie in öffentlichen Diskussionen –, ist ein Weg, dieses Umdenken voranzutreiben.
Bill Gates hat in mehreren Interviews (BGR und Business Insider) deutlich gemacht, dass die Entwicklung der Automatisierung weiterhin zu einer enormen Produktivitätssteigerung und damit dem Überflüssigwerden von menschlicher Arbeit in weiten Bereichen führt. Da Gates aber die Fixierung unserer Sozial- und Steuersysteme auf die Erwerbsarbeit nicht infrage stellt, übersieht er die einfache Lösung: Abschöpfung des ja nach wie vor und in steigendem Maße produzierten Mehrwerts und Auszahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Erstaunlich, dass hier für ihn gilt, was er bezüglich des sicher erwartbaren Abbaus von Arbeitsplätzen in allen Bereichen der standardisierbaren Arbeit von anderen sagt: „I don’t think people have that in their mental model.“ – Daran gilt es zu arbeiten – und diese Überzeugungsarbeit kann nicht automatisiert werden.
Dieser Ausschnitt (ab Minute 3’10) aus der Sendung „Wahlarena“ des WDR (hier ab Minute 49’30), einer Diskussionsrunde zur Landtagswahl in Nordrhein Westfalen, zeigt sehr klar, weshalb das Vorankommen des Bedingungslosen Grundeinkommen so zäh ist. Joachim Paul, Spitzenkandidat der Piratenpartei argumentiert für das BGE als langfristige Lösung, indem er auf die gestiegene Produktivität bei sinkendem Arbeitsvolumen verweist und leitet daraus ab, dass bei sinkendem Arbeitsvolumen dem Einzelnen nicht die Kaufkraft zur Verfügung stehe, um sein Recht auf Existenz zu sichern: „…es kann nicht sein, dass wir diese Leute draußen vorlassen…“ („Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe“, Grundsatzprogramm Piratenpartei 2009, Punkt 11). Dem Faulheitseinwand greift er dann – ohne Not – vor und bezieht sich hier auf das Interview mit Sascha Liebermann und Theo Wehner in Die Zeit. Da schauen die anderen so, als hätten sie mit diesem Einwand nichts am Hut.
Was ist an der Argumentation von Paul unglücklich, wenn nicht gar problematisch? Das BGE wird zu einer Ausgleichs-, einer Kompensationsleistung gemacht. Es ist eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, ausreichend Einkommen über Erwerbstätigkeit zu erzielen, wenn das Arbeitsvolumen sinkt. Würden aber aufgrund der demographischen Veränderungen auf lange Sicht, diese Schwierigkeiten verschwinden, so muss gefolgert werden, wäre ein BGE nicht mehr notwendig. Das sagt zwar Herr Paul nicht, es wäre jedoch die Konsequenz. Dieser Einwand kehrt stetig wieder. Bei Paul bleibt das BGE zunächst eine Reparaturleistung. Zugleich aber soll es allen bereitgestellt werden in Absehung davon, ob sie es „brauchen“. So konzipiert wäre es keine Reparaturleistung mehr. Offenbar gibt es in der Argumentation noch Unklarheiten, beide Gedankenstränge sind nämlich gegenläufig: Im einen Fall ist es eine Entschädigung oder Reparatur, die dann nicht mehr notwendig wäre, wenn der Schaden nicht mehr vorläge; im anderen Fall würde die Leistungsvergabe nicht mehr nach dem Bedürftigkeitskriterium erfolgen, die Gewährung des BGE wäre davon unabhängig. Wie aber wäre es dann begründet? Das wird nicht ausgesprochen. Es bleibt, wenn es keine Leistung aus Bedürftigkeit sein soll, nur noch das Statuskriterium, also die Stellung des Menschen als Bürger im Gemeinwesen. Genau dieser Punkt wird leider nicht benannt, er hätte die Position von Herrn Paul gestärkt.
Wie reagieren nun die anderen? Während Paul ausführt, sind die Gesichtsbewegungen der Diskutanden zu sehen, hier ein süffisantes Lächeln (Kraft, Röttgen, Lindner), dort ein strenger, genervter Blick (Löhrmann). Paul hingegen bleibt sachlich. Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin in NRW, schon unruhig geworden durch die Ausführungen zum BGE, erwidert, indem sie auf persönliche Erfahrungen und Begegnungen mit Menschen verweist, u.a. dies:
Kraft: „…wie wichtig es für die Würde des Menschen ist, dass er Arbeit hat, dass er einen geregelten Tagesablauf hat, dass er dort auch soziale Kontakte hat…“.
Diese Argumentation ist altbekannt, ein Syndrom geradezu, denn die Würde des Menschen wird so nicht mehr aus sich heraus, weil er Mensch ist, begriffen, sondern als eine, die durch anderes erst entsteht: durch Erwerbsarbeit (Siehe auch „Würde haben oder erhalten?“ und „Geld oder Würde?“). Damit unterläuft Frau Kraft sogar die Grundlagen unserer politischen Ordnung, in der die Bürger als solche eine Würde haben und den Souverän bilden (Auch wenn der Artikel 1 des Grundgesetzes hierin gerade missverständlich ist). Wenn nun diese Würde heute gefährdet ist, liegt es nicht daran, dass sie sich durch Erwerbsarbeit erst herstellt, was Frau Kraft annimmt. Die Würde ist gefährdet, weil wir sie nicht als eigenständig begreifen und sie von Erwerbstätigkeit abhängig machen. Die Würde ist nicht bedingungslos gewahrt als Mensch und Bürger, sondern bedingt: als Erwerbstätiger. Genau diese Verkehrung spiegelt sich in den Erfahrungsberichten von Frau Kraft.
Obwohl sie einige Folgen des BGE verstanden hat, reden sie und Paul aneinandervorbei. Während es ihm um Selbstbestimmung und frei gewähltes Engagement geht (also: Bürgerstatus), spricht sie nur von Erwerbsarbeit (siehe auch „Eltern als Störung“). Ehrenamtliches Engagement, „das sei etwas anderes“, kontert sie. Ja, aber inwiefern? Wohl etwas anderes, da es für Frau Kraft nicht den Nimbus von Erwerbsarbeit hat.
Die Spitzenkandidatin der Grünen, die zuvor noch die intensive Befassung mit dem BGE in ihrer Partei hervorhob, fragte: „…Warum soll jemand, der gut verdient, zusätzlich vom Staat ein Leistung bekommen, Geld, das er gar nicht braucht…“. Wie unverständig sie über unsere politische Ordnung spricht, ist erschreckend. Der Grundfreibetrag steht heute ebenfalls jedem zu, er leitet sich aus der Sicherung des Existenzminimums her. Weiß Frau Löhrmann das nicht? Weiß sie nicht von den vielen Abschreibungsmöglichkeiten, die gerade Gutverdiener auch nicht „brauchen“, wir sie dennoch geschaffen haben. Eine bloß ideologische, vermeintlich nah bei den Menschen seiende Haltung, tritt da zutage (siehe Mindestlohn, Reichensteuer, Macht durch Geld – Grundeinkommen?).
Das Denken in Bedürftigkeiten ist gerade das Elend des heutigen Sozialstaats, weil es den Vorrang von Erwerbstätigkeit zementiert. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl und weiterer Landtagswahlen im nächsten Jahr, wäre es wichtig herauszustellen, dass gerade das BGE die Würde des Menschen anerkennt, ohne Wenn und Aber. Gerade deswegen ist es unserer politischen Ordnung gemäß.
Sascha Liebermann
Nachtrag 15 Mai: Kommentare zu diesem Beitrag haben darauf hingewiesen, dass Frau Kraft doch nur sage, Arbeit sei wichtig, nicht aber eine Voraussetzung für Würde. Beschränkt man sich auf die wörtliche Äußerung in dem zitierten Ausschnitt, könnte man zu diesem Schluß gelangen. Zum einen jedoch ist schon dies eine Entwertung von Würde, wenn sie nicht aus sich heraus besteht. Wird Erwerbsarbeit – nur von der spricht sie – als wichtig erachtet, damit die Würde uneingeschränkt gilt, relativiert dies ihre Eigenständigkeit. Darauf hatte ich oben hingewiesen. Zum anderen wird im Zusammenhang deutlich, dass es ihr nicht um ein selbstbestimmtes Engagement oder Tätigwerden geht, sondern um Erwerbstätigkeit. Selbstbestimmung, Freiheit, sich entscheiden zu können, in welche Richtung man wirken will, ist für Frau Kraft nicht maßgeblich. Siehe auch „Eltern als Störung“.