„Das tätige Leben – heute und morgen“…

…darauf wagt der Historiker Jürgen Kocka einen Blick im Debattenmagazin Berliner Republik(Jubiläumsausgabe). Er hebt mit einer Feststellung an, die bemerkenswert und vielsagend ist:

„Unsere Gesellschaft hört nicht auf, eine Arbeitsgesellschaft zu sein. Die Arbeit ist ihr nicht ausgegangen, wie namhafte Sozialwissenschaftler vor ein paar Jahren prophezeiten: Noch nie haben prozentual so viele Deutsche Erwerbsarbeit geleistet wie heute. Nach wie vor beruhen wirtschaftliche Leistungskraft, sozialer Zusammenhalt, kulturelle Orientierung und politischer Einfluss in hohem Maße auf Erwerbsarbeit. Aber die Arbeitsgesellschaft ändert sich grundlegend, in zumindest drei wichtigen Hinsichten…“

In der Tat war die These vom „Ende der Arbeit“ vorschnell und unpräzise. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass ein Blick auf die Entwicklung des Arbeitsvolumens einen zu solchen Überlegungen führen konnte und kann. Denn, bei aller Zunahme der Erwerbstätigen, die auch Kocka offenbar für bemerkenswert hält, hat das Arbeitsvolumen kaum zugenommen, es verteilt sich also nur auf mehr Köpfe. Die Gründe für die deutsche Entwicklung sind nicht so klar (siehe „Geht der Gesellschaft die Arbeit aus?“ und „Irre Beschäftigungseffekte, wirklich tolles Land…“).

Die Behauptung, dass „wirtschaftliche Leistungskraft, sozialer Zusammenhalt, kulturelle Orientierung und politischer Einfluß“ in hohem Maße auf Erwerbsarbeit beruhen, ist erstaunlich. Zwar wird immer wieder behauptet, dass Erwerbsarbeit für den sozialen Zusammenhalt wichtig sei, doch spricht nichts dafür, dass dies in einem fundamentalen Sinne tatsächlich so ist. Sie hat zwar ihren Ort und ihre Bedeutung für unser Gemeinwesen. Der Zusammenhalt, den sie stiftet, ist aber keiner, der sich auf die Person als ganze richtet, die um ihrer selbst willen anerkannt würde, sondern nur auf sie als Mitarbeiter insofern, als sie der Erledigung einer Aufgabe dient. Im Erwerbsverhältnis ist der Einzelne gerade deswegen austauschbar, weil er nicht um seiner selbst willen wirkt, es geht um eine Aufgabe oder Sache, für die und nur in Relation zu der er wirken soll. Wo er das nicht mehr angemessen kann, muss er ersetzt werden. Das ist weder unmenschlich, noch Ausdruck von Kälte oder Sinnentleerung, wie manchmal zu lesen ist, sondern für eine arbeitsteilige Aufgabenbewältigung unerlässlich. Die Würde der Person ist dadurch nicht in Frage gestellt, weil sie diese Würde von sich aus hat und nicht erst durch Erwerbsarbeit erlangt (siehe hier und hier). Die Würde erfährt der Einzelne an anderen Orten, wo es auch tatsächlich um ihn um seiner selbst willen geht: in Familie und Gemeinwesen. Im Erwerbsleben wird die Würde erst dann virulent, wenn sie nicht geachtet oder der Zweck, dem ein Mitarbeiter dient, mit der Würde und damit den Grundlagen der politischen Ordnung kollidiert. Wenn Kocka feststellt, dass politischer Einfluss in hohem Maße auf Erwerbsarbeit beruhe, wäre das gerade problematisch – würde indes erklären, weshalb Tätigkeitsfelder jenseits von Erwerbsarbeit als Privatvergnügen betrachtet werden.

In einer späteren Passage schreibt Kocka:

„…Vieles von dem, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert vornehmlich von Frauen im Haus erledigt wurde, ist zum Gegenstand von Erwerbsarbeit oder zur Aufgabe sozialstaatlicher Träger geworden. Der Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl hat die familiären und häuslichen Aufgaben stark reduziert. Die schnell ansteigende Frauenerwerbsarbeit ist teils Antrieb, teils Folge dieser Entwicklung…“

In der Allgemeinheit, in der er schreibt, wird man dem Autor leicht zustimmen können, doch wie ist es genau zu verstehen? Ist es tatsächlich so, dass die Aufgaben, die mit Familie einhergehen, heute weniger vereinnahmend sind? Was durch die Nutzung moderner Haushaltsgeräte oder die Übertragung von Aufgaben an Dienstleister an Zeit gewonnen wird, weil sie nicht mehr mit aufwendigen manuellen Tätigkeiten verbracht werden muss, ist Zeit, die frei wird, um sie den Kindern zu schenken. Sie ist damit sogleich wieder vereinnahmt für eine andere Aufgabe. Denn unsere Lebensverhältnisse verlangen dem Einzelnen heute eine individuierte Lebensführung ab, d.h. es gibt keine traditionelle Antwort mehr auf die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens, die den heutigen Lebensverhältnissen gemäß wäre. Deswegen ist auch die inviduierte Zuwendung zu den Kindern von so großer Bedeutung und zeitaufwendiger, als es traditionale Zuwendung war, denn diese individuierte Zuwendung fördert die Individuierung der Kinder wiederum und schafft damit die Grundlage für eine autonome Lebensführung. Diesen Wandel ernst genommen wird die Rede von der Arbeitsgesellschaft in ihrer Unangemessenheit noch deutlicher, weil sie für Familie gerade nicht den Raum lässt und ihn auch nicht schafft, den sie bräuchte, um sich diesen Herausforderungen zu stellen (siehe„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ und „…wir wollen, dass jeder sein Leben in Würde selbst finanzieren kann…“)

Gegen Ende heißt es dann:

„…In dem Maße, in dem die Erwerbsarbeit stärker durch nicht-marktbezogene Arbeit ergänzt und mit dieser verknüpft wird, eröffnet sich auch ein inhaltsreicheres Verständnis der Arbeitsgesellschaft. Eine Arbeitsgesellschaft neuer Art, die der Erwerbsarbeit weiterhin einen zentralen Stellenwert einräumt, zugleich aber von menschlicher Arbeit anderer Qualität ebenfalls lebt: eine Arbeitsgesellschaft über die reine Erwerbsarbeit hinaus? Eine „Tätigkeitsgesellschaft“, wie Ralf Dahrendorf es formulierte? Eine Arbeitsgesellschaft, die zugleich Bürgergesellschaft (Bürger im Sinne von citizen) ist und gerade nicht in der Logik des Kapitalismus aufgeht? Vielleicht ist dies das zentrale Merkmal der gegenwärtigen Situation – und eine Chance für die Zukunft…“

Hier, erst gegen Ende, eröffnet der Beitrag den Ausblick darauf, etwas anderes zu sein als eine Arbeitsgesellschaft und verharrt doch zugleich in ihren Grenzen. Der Begriff „Arbeitsgesellschaft“ ist für unsere Lebensverhältnisse unangemessen und geht an ihren Fundamenten vorbei. Schon heute hinkt unser Selbstverständnis der tatsächlichen politischen Ordnung hinterher. Was uns zusammenhält, ist nicht die Arbeitsgesellschaft, es ist die politische Gemeinschaft – das mag uns nicht klar sein, ist jedoch die Realität.

Sascha Liebermann

„Papa, trau‘ Dich!“

So lautete der Titel der „Story im Ersten“ am 19. Januar. Die Sendung beschäftigte sich damit, wie Väter heute mit der Herausforderung Elternschaft umgehen. Begleitet wurden Väter, die Elternzeit nahmen – manche kürzer, manche länger – und von ihren Erfahrungen berichteten. Das hätte die Chance geboten, mehr darüber herauszufinden, wie Väter das Hin- und Hergerissensein zwischen Beruf und Familie erleben. Ansatzweise geschieht das auch, so werden zwei Väter porträtiert, die „nur“ noch halbtags berufstätig sind, um nachmittags für ihre Kinder da zu sein. Einer berichtet darüber, dass er erst seit Aufgabe seiner leitenden Funktion realisiert hat, wie stark der Druck zuvor war und wie wenig er von seiner Tochter mitbekommen hatte. Beider Frauen allerdings arbeiten Vollzeit, die „traditionelle“ Aufteilung wird also einfach umgedreht und kein Blick daruf geworfen, wie ein Familienleben aussehen könnte, für das sich beide mehr Zeit nehmen. So ist am Film ein Widerspruch erfahrbar, der leider nicht weiter filmisch aufgenommen wird. Dass es keine „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf gibt, wie der prägnante Titel eines Buches „Die Alles ist möglich-Lüge“ es auf den Punkt bringt.

Siehe auch KannMannFrau von Gabriele von Moers und „Superfrauen, Supermütter, Vereinbarkeit von Familie und Beruf“

Sascha Liebermann

„Muss ja irgendwie gehen. Wanderarbeit in Deutschland“

Ein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckter Beitrag macht einmal mehr deutlich, welche Alternativen ein Bedingungsloses Grundeinkommen auch für strukturschwache Regionen böte. Statt tage- oder wochenlanger Abwesenheit von Familie und Freunden, wie es im Artikel beschrieben wird, schüfe ein BGE die Möglichkeit, am Wohnort zu bleiben und dort etwas auf die Beine zu stellen.

Betreuungsgeld setzt „falsche Anreize“,…

…diese Meldung ging in den letzten Tagen durch die Medien z.B. in der tagesschau, Welt online, FAZ online, Tagesspiegel, Nachdenkseiten und vielen. Einen Auszug aus dem Bericht finden Sie hier.

Es ist erstaunlich, wie einmütig sich die Kritiker des Betreuungsgelds auf die Studie beziehen, ohne einmal innezuhalten. Nachfolgend sei eine Passage aus dem Tagesspiegel zitiert, er über die Studie berichtet:

„…Das Betreuungsgeld erweise sich als besonders attraktiv für Familien, „die eine geringe Erwerbsbeteiligung aufweisen, durch eine gewisse Bildungsferne gekennzeichnet sind und einen Migrationshintergrund haben“…Wie oft in der Sozialforschung: Ja – aber. Entkleidet man die Studie ihres wissenschaftlichen Beiwerks, erweist sich vieles als Binsenweisheit. Niedriger Bildungsabschluss, prekäre Jobs und Migrationshintergrund lassen sich auf einen schlichten Nenner bringen: Solche Eltern sind selten reich. Für ihre Haushaltskasse sind 150 Euro pro Kind viel. Für Bessergestellte liefert die gleiche Summe naturgemäß nicht das Hauptmotiv, ihr Kleinkind daheim zu behalten – oder sie geben es nur sehr ungern zu…“

Könnte die „Binsenweisheit“ auch ein Binsenvorurteil sein? In dieser Passage fällt die ausschließlich, wenn man so will, materialistische Deutung auf, sich gegen frühe Fremdbetreuung zu entscheiden, nach dem Motto: „Wo es Geld gibt, das ich nicht habe, greife ich zu.“ Diese Entscheidung von Eltern mit einer „geringen Erwerbsbeteilgung“, einer „gewissen Bildungsferne“ und „Migrationshintergrund“ könnte ebenso anders erklärt werden. Gerade, wo Geld knapp ist, erlaubt das Betreuungsgeld den Eltern nun, zu tun, was sie sonst nicht tun könnten – aber vielleicht schon lange tun wollten: sich selbst um ihre Kinder zu kümmern. Das Betreuungsgeld wird höchstens bis zum 36 Lebensmonat gezahlt, es geht hier also um kleine Kinder, die noch nicht einmal reif für den Kindergarten sind. In den Medien spielt die Entscheidung für das Zuhausebleiben keine Rolle, obwohl die Befunde der Bindungsforschung, was die U3-Betreuung angeht, in eine andere Richtung weisen, als es die vorbehaltlose Befüwortung, die den Ausbau trägt, wahrhaben will. Exemplarisch sei hier auf zwei Veröffentlichungen vewiesen, ein Interview mit Lieselotte Ahnert “Das bedeutet für Kinder Stress” und ein Interview mit Karl-Heinz Brisch “Das Krippenrisiko”.

Für die Entscheidung der Eltern bzw. eines Elternteils, zuhause zu bleiben, muss noch eine weiterer Aspekt in Betracht gezogen werden. In den von der Studie untersuchten Milieus ist der Stellenwert von Erwerbstätigkeit für Frauen womöglich nicht so stark mit der Sinnfrage für das eigene Leben verbunden, wie es für andere Milieus, besonders stark unter Akademikern, der Fall ist. Während unter Akademikern das Zuhausebleiben zunehmend eher negativ besetzt ist, gilt das für andere Milieus, vor allem traditionalere, nicht ohne weiteres.

Eine weitere Passage aus dem Tagesspiegel macht auf eine methodische Schwäche statistischer Studien aufmerksam. In der Studie wurden Eltern befragt, dabei wurde offenbar – so klingt es nachfolgend – standardisiert vorgegangen und mit statistischen Verfahren ausgewertet. Dabei treten folgende Probleme auf:

„…Außerdem tut sich Statistik oft schwer mit der klaren Unterscheidung von Ursache und Wirkung. Die gleiche Elterngruppe, die in der Dortmunder Studie auf das Betreuungsgeld schwört, findet nach dieser aber auch schwerer einen Betreuungsplatz. Ob zuerst der Frust kam oder sofort der Blick aufs Konto, ist aus den Daten aber nicht ablesbar. Insgesamt nannten 13 Prozent aller Befragten das Geld als Motiv gegen die Kita – was mit den 87 Prozent anderen war, bleibt in den vorliegenden Tabellen ebenfalls unklar.“

Die Frage, die statistische Studien nicht beantworten können, ist, wie hängen die drei genannten Merkmale (siehe oben) denn nun genau miteinander zusammen? Da nur Korrelationen festgestellt werden, der sinnlogische Zusammenhang jedoch nicht konkret bestimmt werden kann, wäre zumindest Vorsicht angebracht, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Ebenso schwer, wenn nicht noch schwerer, wiegt die Qualität der Daten. Standardisierte Befragungen erlauben keinen Einblick in die Prozesse der Entscheidungsfindung und ihrer Deutung durch die handelnden Individuen selbst (einen Einblick in das Problem erlaubt der am Ende des Berichtsauszugs abgedruckte Fragebogen). Erst auf der Basis solcher Daten, die das erlauben, wie z.B. nicht-standardisierten offenen Interviews, kann man in Erfahrung bringen, worin handlungsleitende Überzeugungen bestehen, die wie ein innerer Kompass Entscheidungsprozesse leiten, ohne dass sie den Individuen bewusst wären (siehe auch hier).

Abgesehen von den methodischen Anmerkungen zur Deutung der Entscheidung von Eltern und zur Datenbasis, fällt in der Berichterstattung eines besonders auf. Sich gegen frühe Fremdbetreuung zu entscheiden, wird vor allem als Problem betrachtet, nicht aber als Ausdruck eines klaren Empfindens für den Vorrang von Familie vor Erwerbstätigkeit. Das muss dann nicht verwundern, wenn es ohnehin nur, wie auf S. 3 der Studie zu lesen ist, um die Bekämpfung sozialer Ungleichheit durch Bildung geht. Was zählt da schon die Eigendynamik von Familie.

Siehe auch „Europas K(r)ampf mit den Babys“

Update: Siehe auch „Ein Fall von Tendenzforschung“ in der FAZ.

Europas K(r)ampf mit den Babys

Sascha Lieberman

„Einkommen ohne Grund“ – Lukas Rühlis Argumente gegen das Bedingungslose Grundeinkommen oder doch bloß sein Standpunkt?

Vor einigen Wochen hat Lukas Rühli, Avenir Suisse, eine kleine Studie zum Bedingungslosen Grundeinkommen vorgelegt („Einkommen ohne Grund“). Sie reagiert auf die Schweizer Debatte um die erfolgreiche Volksinitiative. Er spießt darin manche These von Befürwortern auf – durchaus zurecht, wenngleich man sich Quellenverweise wünschen würde sowohl für Thesen der Befürworter (darauf hat Enno Schmidt hingewiesen), als auch für die vermeintlich eindeutigen und klaren Behauptungen von Rühli selbst. Eine These mancher BGE-Befürworter ist z. B., dass das Arbeitsvolumen seit langem stetig sinke, weiter sinken werde und das für alle Länder gelte. Deswegen sei ein BGE nötig. Nicht nur ist aber die These zum Arbeitsvolumen strittig, ihre Verknüpfung mit dem BGE ist nicht einmal notwendig, man könnte sogar sagen, sie verstellt den Blick. Die Strittigkeit darüber, wie es sich mit dem Arbeitsvolumen verhält, ist nicht dadurch aufzuheben, dass auf Studien verwiesen wird, die Mutmaßungen über zukünftige Entwicklungen (siehe auch hier) über weitere Automatisierung anstellen. Sie bleiben Mutmaßungen. Verstellt indes wird der Blick auf das BGE durch seine Verknüpfung mit der Entwicklung des Arbeitsvolumens. Dadurch erhält es den Status einer Hilfsmaßnahme. Das BGE bliebe somit eine Reaktion auf einen Missstand am Arbeitsmarkt. Wer das ernst nimmt, müsste sofort dann wieder für eine Abschaffung des BGE plädieren, wenn dieser Missstand aufgehoben wäre, wie es durch die demographische Entwicklung statistisch gesehen der Fall sein könnte – solche Prognosen gibt es z.B. für Deutschland.

Abgesehen von bedenkenswerten Anmerkungen fußen viele Ausführungen in der Broschüre auf bestimmten Annahmen. Sie führen dazu, dass der Blick nur auf das fällt, was in die Annahmen hineinpasst, auf anderes nicht. Einige Passagen aus der Broschüre seien hier kommentiert. Zum einen geben sie Einblick in die Annahmen, die zu Kritik am BGE führen, zum anderen erlauben sie, untriftige von triftigen Argumenten für ein BGE zu unterscheiden.

Auf S. 3 heißt es:

„…Das Produktivitätswachstum hat keinerlei Einfluss auf die strukturelle Arbeitslosigkeit. Diese hängt ab von der Arbeitsmarkt- und Wettbewerbspolitik sowie vom Bildungssystem. Zumindest in der Schweiz herrscht derzeit praktisch Vollbeschäftigung. Viele Stellen können nur durch Zuwanderer besetzt werden. Mit der demografischen Alterung wird sich diese Knappheit sogar noch verschärfen…“

Die Eindeutigkeit, mit der hier Zusammenhänge behauptet werden, widerspricht zumindest einer schon länger andauernden Diskussion darüber, ob es technologische bedingte Arbeitslosigkeit gibt oder nicht. Das wäre zu bedenken. Welche Rolle z.B. die ausgeprägte protestantische Arbeitsethik in der Schweiz und die damit einhergehende Vermeidung der Inanspruchnahme von Sozialleistungen aus einem Pflichtgefühl heraus für die Arbeitslosenstatistik spielt (Stichwort „verdeckte Armut“), wäre zu erwägen. Ob überhaupt konsequent automatisiert wird, wo es möglich und wünschenswert wäre, ist ebensowenig klar. Häufig wird unterschätzt, wie sehr die Verankerung unternehmerischer Entscheidungen in dem Konsens eines Gemeinwesens dazu führen kann, dass Handlungsmöglichkeiten nicht so weitgehend genutzt werden, wie es möglich wäre. Können die Stellen in der Schweiz deswegen nicht besetzt werden, weil sie für Schweizer unattraktiv sind (an manchen Hochschulen ist das so), für Zuwanderer, zumal aus Deutschland (z.B. Grenzgänger) aber immer noch attraktiv genug? Handelt es sich hier nicht bloß um einen tatsächliche Mangel an qualifizierten Personen, sondern auch um die Arbeitsbedingungen, die ihnen nicht entsprechen? Und was heißt schon Vollbeschäftigung, handelt es sich dabei doch bloß um eine Definition in der Volkswirtschaftslehre, für die ein relativer Ausgleich von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskraft charakteristisch ist (siehe hier und hier). Alleine damit gehen erhebliche normative Annahmen einher. Rühli, das muss man zugestehen, bewegt sich damit in dem von manchen Befürwortern eröffneten Diskurs. Mit einem BGE würde von dieser Art Vollbeschäftigung, die nur einen Teil des Lebens – Erwerbstätigkeit – definitorisch aufnimmt, nicht mehr die Rede sein. Es ginge dann vielmehr darum, womit sich der Einzelne voll und ganz beschäftigen will: Leidenschaftsprinzip, nicht Leistungsprinzip würde dann womöglich führend werden. Oder ist das schon zu „philosophisch“?

Der Verfasser moniert an anderer Stelle, dass die BGE-Befürworter zur Moralkeule greifen, um ihre Position zu untermauern und dadurch wiederum fragwürdige Zusammenhänge herstellen, so mit Hilfe ihrer Kritik an der Überflussgesellschaft. In der Tat ist dieses Schlagwort nicht unproblematisch. Doch, was der Autor den Befürwortern vorhält, tut er selbst, wie auf S. 4 zu lesen ist:

„…Wenn in diesem Zusammenhang überhaupt etwas als moralisch verwerflich bezeichnet werden könnte, dann ebendieses BGE, das in einem der reichsten Länder der Welt jedem Einwohner ein, gemessen an den dort üblichen Standards, angenehmes Leben bescheren soll, unabhängig davon, ob er bereit ist, dafür jemals einen Finger zu rühren, während anderswo noch Menschen den Hungertod sterben…“

Was heißt „angenehmes Leben“? Es ist sicher kein Zufall, dass das BGE mit einem Attribut in Zusammenhang gebracht wird („angenehm“), das an ein Schlaraffenlandszenario erinnert. Es mögen BGE-Befürworter dieselbe Assoziation haben, das hätte dann mit deren Wünschen womöglich zu tun, nicht aber mit der Realität des Lebens. Denn das reale Leben ist immer eines in einem konkreten Gemeinwesen, das vor Herausforderungen steht, die es zu bewältigen gilt. Genau diese treten somit an den Einzelnen heran, er muss sich ihnen früher oder später stellen und eine für das Gemeinwesen, in dem er lebt, tragfähige Antwort finden oder am Finden mitwirken. Angenehm ist daran nichts, erfüllend vielleicht schon, vor allem ist es: anstrengend und herausfordernd. Nur, weil ein BGE nicht mehr voraussetzte, dass der Einzelne zuvor sich gerührt haben oder danach sich rühren muss, heißt das noch lange nicht, dass er dazu nicht bereit wäre – das suggeriert Rühli jedoch.

Geradezu abstrus moralisierend wird es, wenn Rühli die Frage, wie ein Gemeinwesen sein Zusammenleben gestaltet, davon abhängig machen will, wie es anderswo in der Welt aussieht. Diese Haltung kommt einer Kasteiung gleich. Sollte ein Land Handlungsmöglichkeiten nicht ergreifen, weil sie sich anderen nicht gleichermaßen stellen? Eine Selbstbestrafung angesichts des Leidens in der Welt?

Auf S. 5 heißt es:

„…Unterdessen räumen viele BGE-Verfechter ein, dass eine Fortführung der bisherigen Sozialversicherungen (unter Anrechnung der BGE-Zahlungen) nötig wäre, damit das BGE für die wirklich Arbeitsunfähigen nicht einen drastischen Sozialabbau bedeutet. Damit fällt die Abschaffung der Sozialversicherungsbürokratie, dieses Argument erster Stunde der BGE-Befürworter, ins Wasser…“

Welche Befürworter erster Stunde sind gemeint? Milton Friedman etwa? Er hatte jedoch gar kein BGE im Sinn. Wenn der Verwaltungsaufwand für die Sozialversicherungen, wie der Verfasser zuvor für die Schweiz zeigt, nicht ins Gewicht fällt, dann ist die Beibehaltung der Sozialverwaltung, die er den Befürwortern entgegenhält, gar kein Einwand. Die niedrigen Kosten sind eben nur ein Einwand gegen eine Behauptung mancher Befürworter, die in der Verwaltungsbürokratie das größte Problem erkennen, nicht aber einer gegen das BGE.

Weiter heißt es auf derselben Seite:

„…Das BGE wird gerne als Wegfall des Zwangs zur Arbeit und dies, da ja Zwänge unliberal seien, wiederum als liberale Revolution gepriesen. Diese Analyse ist falsch: Schon heute existiert keinerlei Zwang zur Arbeit. Es existiert einzig ein «Zwang»,die finanziellen Folgen der Arbeitsverweigerung selbst zu tragen. Diesen abzuschaffen, hat mit Liberalismus nichts zu tun, denn der Liberalismus paart Freiheit immer mit Eigenverantwortung: Wer nicht eigenverantwortlich handelt, beschränkt früher oder später die Freiheit seiner Mitmenschen…“

Mit dem ersten Punkt trifft Rühli eine Schwachstelle in der Diskussion. Einen buchstäblichen Zwang gibt es tatsächlich nicht, denn wer nicht erwerbstätig sein will, muss es nicht sein – weder in Deutschland noch in der Schweiz. Er kann darauf verzichten, muss aber die Folgen, wie Rühli ebenso schreibt, tragen. Genau die allerdings verharmlost Rühli wiederum im zweiten Satz, und zwar in zweierlei Hinsicht: 1) Wo Güter und Dienste arbeitsteilig hergestellt werden und jeder auf die Leistungen anderer angewiesen ist, diese Güter und Dienste darüber hinaus nur durch Geld erworben werden können, da kommt der Einzelne kaum umhin, erst recht nicht, wenn er eine Familie zu versorgen hat, erwerbstätig zu sein, um das dafür nötige Einkommen zu erzielen. Er hat keine Alternative zu Erwerbstätigkeit, will er nicht sein und seiner Angehörigen Auskommen riskieren. 2) Erwerbstätigkeit ist nicht in erster Linie eine aus der Arbeitsteilung und den damit verbundenen Chancen zur Einkommenserzielung erwachsende Notwendigkeit, sie ist vor allem normativ aufgeladen. Was heißt das? Erwerbstätig zu sein wird damit gleichgesetzt, dem Gemeinwohl zu dienen, es ist ein Handeln, das von allen dazu Fähigen erwartet wird. Der kollektive Konsens bewertet sie als erstrebenswert. Daher rühren die bekannten Folgen bei Arbeitslosigkeit, denn dem Stigmatisierungsempfinden entspricht ein objektives Stigmatisiertwerden. Wer nicht erwerbstätig ist, scheitert am geltenden Lebensideal. Die Folgen davon reichen viel weiter als der bloße Verlust eines Erwerbseinkommens. In der Schweiz wird das z.B. daran sehr deutlich, dass eine Frau 16 Wochen nach der Geburt eines Kindes wieder in ihre Arbeitsstelle zurück muss, will sie sie nicht verlieren. Sie kann sich zwar entscheiden, für das Kind zuhause zu bleiben und kein Einkommen zu haben, dann muss es aber entweder über den Kindsvater, den Partner oder sonstwie bereitstehen. Der bräuchte jedoch auch die Zeit, um in das Vatersein hineinzufinden, es handelt sich um einen bedeutenden Umbruch im Leben.

Die Eigenverantwortung, auf die Rühli dann zu sprechen kommt, ist die liberalistisch verkürzte Eigenverantwortung im Sinne einer vermeintlichen Selbstversorgung. Der Einzelne muss sein Auskommen selbst erwirtschaften oder erzielen. So plausibel diese These klingt, so illusionär ist sie, denn aus der stetigen Abhängigkeit von anderen führt in einem Gemeinwesen kein Weg hinaus. Selbstversorgung ist immer zugleich Fremdversorgung, sei es durch Güter und Dienste, sei es durch sozialisatorische Leistungen, die Familien vollbringen, sei es durch Freiwilligendienste und nicht zuletzt bzw. vielmehr vor allem: durch die politische Loyalität der Bürger zum Gemeinwesen.

Dass Rühli nicht mit einer Silbe erwähnt, wie selbstverständlich das Gemeinwesen und damit auch die von ihm gepriesene Eigenverantwortung die Leistungen anderer voraussetzt, von Familien nämlich, überrascht nicht. Auch die Folgen, die die starke Erwerbsorientierung für Familien hat, erwähnt er nicht, obwohl gerade dort ein BGE Entlastung schaffen könnte. Remo Largo, ein bekannter Schweizer Forscher und Kinderarzt, hat auf diese Folgen hingewiesen und – ohne es zu beabsichtigen – eine Brücke zum BGE geschlagen.

Weiter heißt es an dieser Stelle:

„…Die Eigenverantwortung kann gar nicht nachhaltiger geschwächt werden, als wenn einem der Lebensunterhalt von der Wiege bis zum Grab vom Staat garantiert wird…“

Das ist ein Werturteil, aber keine Analyse. Für Rühli mag das so sein, er mag ein BGE für falsch halten, das ist sein gutes Recht. Er hätte in seine Betrachtung einbeziehen können, dass in anderer Hinsicht diese Absicherung von der Wiege bis zur Bahre schon heute vom Gemeinwesen vollzogen wird: indem es auf die Bereitschaft der Bürger vertraut, zur politischen Ordnung loyal zu sein und sich an ihrer Ausgestaltung zu beteiligen. Genau diese fundamentale Stellung der Bürger in einem Gemeinwesen wäre Grund genug, die Existenzsicherung über ein BGE bereitzustellen. Es würde damit zugleich die Möglichkeiten verbessern, sich in öffentliche Fragen einzumischen. „Garantiert“ hingegen könnte das BGE nicht werden, weil eine Bereitstellung nur möglich ist, solange sich die Bürger zum Wohle des Gemeinwesens engagieren, in allen Bereichen. Wie sie das tun, bliebe ihnen überlassen, doch ohne Engagement geht es nicht.

Wie fährt er fort?

„…Wer jetzt einwendet, es sei ja eben ein Maximum an Eigenverantwortung gefordert, sich in einer BGE-Welt trotz fehlender Notwendigkeit noch genügend um die eigene geistige und soziale Entwicklung zu kümmern, erliegt einer Begriffsverwirrung: Mit Eigenverantwortung ist die Forderung gemeint, sich – wenn man dazu fähig ist – seinen Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften, also nicht von den Transfers anderer abhängig zu sein. Eigenverantwortung in Bezug auf die Selbstverwirklichung besteht hingegen ohnehin, in einer BGE-freien Welt genauso wie in der BGE-Welt.“

Das war zu erwarten und stellt genau die Verkürzung dar, die oben angesprochen wurde. Interessant ist, wie Selbstverwirklichung und Gemeinwohlorientierung gegeneinandergestellt werden, die Bereitstellung eines BGE geradezu gemeinwohlgefährdend erscheint. Dass jedoch Gemeinwohl und Selbstverwirklichung – treffender wäre: Autonomie – keine Gegensätze darstellen, sondern ein konstitutives Spannungsverhältnis bilden, wird nicht gesehen.

Ein anderer Aspekt wird hier aufgeworfen (S. 6):

„…Das heutige System der sozialen Sicherung ist bedeutend mehr als eine blosse Geldtransfermaschine. Es beinhaltet Betreuungs- und Wiedereingliederungsmassnahmen (Beratung, Unterstützung, Aktivierung).
_ Diese Integrationsversuche, wie auch die Bemühungen, arbeitsunfähige Menschen von arbeitsunwilligen oder Bedürftige von nicht Bedürftigen zu unterscheiden, mögen nicht immer erfolgreich sein, aber die Aufgabe dieser Bemühungen durch Einführung eines BGE käme für jeden modernen, aufgeklärten Staat einer Bankrotterklärung gleich…“

Der Hinweis, dass das „System der sozialen Sicherung“ mehr sei als eine Geldtransfermaschine, erinnert an eine Broschüre der SPD in Deutschland („Geld allein genügt nicht“). Dabei geht der Einwand, ein solcher soll er sein, am BGE vorbei, denn auch für es gilt: das Geld ist nicht das Ziel, sondern das Mittel, ein Ermöglichungsinstrument, mehr nicht, weniger jedoch auch nicht. Die heutigen Hilfesysteme zielen stets auf die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und bestimmen damit den maßgeblichen Inhalt der Lebensführung normativ: Erwerbstätigkeit muss demzufolge im Zentrum stehen. Das gilt selbst noch in Eingliederungsprogrammen, für die dieses Ziel nicht nur illusionär ist, sondern darüber hinaus an den Problemlagen der Teilnehmer meist vorbeigeht, wie z.B. in der Sozialpsychiatrie. Eingliederung heißt hier nicht Rückgewinnung von Autonomie, um den Einzelnen in den Stand zu setzen, nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten sein Leben zu führen; Eingliederung heißt stets Rückführung in den Arbeitsmarkt, wodurch Autonomie eben genau auf die Eigenverantwortung verkürzt wird – die Rühli für maßgeblich hält. Schon die von ihm genannten Schlagworte „Beratung, Unterstützung, Aktivierung“ sind nur die halbe Wahrheit. Ihnen korrespondieren im Hilfesystem stets Sanktionsinstrumente, das sollte beim Namen genannt werden, denn die Wortbedeutung von „Beratung“ geht auf das Suchen nach Rat zurück. Wer einen solchen sucht, entscheidet dann, ob er dem Rat folgen will. Wer hingegen von Sanktionen bedroht ist, kann sich nicht mehr beraten lassen, er muss folgen – oder, so Rühli, auf die Leistung verzichten. Wer kann das schon? Eine Bankrotterklärung, wie er meint, wäre der Verzicht auf diese „Wiedereingliederung“ nur dann, wenn Autonomie – also Eigenverantwortung – und Erwerbstätigkeit in eins gesetzt werden. Werden sie das nicht, dann käme der Verzicht auf solche sanktionsgestützten Systeme einer Stärkung von Autonomie gleich, die zugleich eine Stärkung von Verantwortung in einem weiten Sinne wäre, und zwar nicht Eigenverantwortung für Einkommenserzielung, es ginge dann um Verantwortung für die Lebensführung. Keine Bankrotterklärung des modernen, aufgeklärten Staates, wäre das, es wäre eine Eröffnung für ein Gemeinwesen, das noch nicht begriffen hat, dass es sich auf die Souveränität der Bürger als Bürger, nicht als Erwerbstätige gründet. Das BGE würde in diesem Sinne gerade eine Modernisierung darstellen.

Das Zitat geht nun weiter:

„…_ So gesehen könnte das BGE gar als «Schweigeprämie» für die Verlierer des Arbeitsmarktes
gesehen werden: Ein Staat, der nicht fähig ist, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es jedem, der willig ist, erlauben, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, mit der er für seinen Lebensunterhalt (und denjenigen allfälliger Nachkommen) aufkommen kann, braucht sich nicht mehr mit den Verlierern seines Politikversagens zu beschäftigen, denn für 2500 Franken im Monat lassen sich diese ja relativ
einfach ruhigstellen…“

Wer Autonomie auf Eigenverantwortung verkürzt, ganz wie in der SPD-Broschüre oder in vielen anderen Einwänden gegen das BGE, der muss im BGE – ganz wie Rühli – eine „Schweigeprämie“ sehen. Symptomatisch ist diese Bezeichnung, denn sie bezeugt eine paternalistische Haltung. Wer meint, Bürger könnten dadurch zum Schweigen gebracht werden, kann sich darüber nur beklagen, wenn er ihnen diese Freiheit nicht zugestehen will. Wer sich dadurch jedoch zum Schweigen bringen ließe, hätte das selbst zu verantworten.

Weshalb wären diejenigen, die sich auf ein BGE zurückziehen, Verlierer? Wer sagt, dass sie das nicht wollen, es ein sinnerfülltes Leben in anderen Tätigkeitsfeldern geben kann.

Weiter heißt es:

„…Ein BGE in erwähnter Höhe wird die Arbeitsanreize senken, ganz egal, ob es über eine Erhöhung der Einkommenssteuer oder über die MWST finanziert wird [also unabhängig davon, wie es finanziert wird, Hervorhebung SL]. Dass die Konsumbesteuerung die Arbeitsanreize im Gegensatz zur Einkommenssteuer nicht senke, ist ein weit verbreiteter Irrtum: Wir arbeiten, um zu konsumieren. Ein rationales Individuum wählt sein «optimales» Arbeitspensum, indem es die gefühlte Last zusätzlicher Arbeit dem Güterkorb, den es damit erwerben kann, gegenüberstellt…“

Dass Einkommen dazu dient, zu konsumieren, zu investieren oder es zu verschenken, ist unbestritten. Doch ist das nicht der Grund dafür, zu arbeiten. Bloße Modellwelt ist diese Argumentation, ihre Geltung ist schon länger Gegenstand der Kritik auch in den Wirtschaftswissenschaften und keineswegs selbstverständlich.

Wie hermetisch diese Argumentation ist, die ihre Belege schuldig bleibt, ist an der nächsten Passage auf S. 7 zu erkennen:

„…Bei einer schon gut ins Erwerbsleben integrierten Person mit erheblichem Einkommen mag zwar sogar dieser Paradigmenwechsel wahrscheinlich keine allzu drastischen Auswirkungen auf ihren Arbeitswillen haben. Zu glauben, auch ein heranwachsender Mensch unternehme ohne den Druck, Geld zu verdienen, genügend, um sich langfristig nicht selber zu entmündigen, ist jedoch naiv. Die Gefahr ist gross, dass sich durch das BGE ganze Gesellschaftsschichten, nämlich jene mit geringen Lohnaussichten, aus dem Erwerbsleben verabschieden…“

Wer entmündigt wen an dieser Stelle, wenn behauptet wird, es bedürfe dieses Drucks? Dass Menschen sich einbringen wollen, scheint unvorstellbar – naiv nennt es Rühli -, dabei wäre es leicht zu zeigen, dass dies in der Regel der Fall ist und wo nicht, dafür Erklärungen im Bildungsprozess gefunden werden können. Gerade in Deutschland zeigt die Erfahrung, dass Arbeitslosengeld II-Bezieher nicht in diesem Zustand verharren wollen(!), sie wollen aber auch nicht irgend eine Tätigkeit aufnehmen.

Und dann noch diese Entmündigung (ebenda):

„…Um das Problem Armut wirkungsvoll und nachhaltig zu bekämpfen, darf nicht ein Instrument wie das BGE eingeführt werden, das Niedrigqualifizierte dazu verleitet [Hervorhebung SL], gar nicht mehr am Erwerbsleben teilzunehmen, sondern es muss im Gegenteil ein Instrument her, dass gerade dieser Bevölkerungsgruppe zeigt, dass auch ihr Einsatz gefragt ist und dass sich Anstrengung lohnt [Hervorhebung SL]. Eine Lösung könnten Lohnsubventionen sein…“

Das klingt ganz nach Volkserziehung. Es muss den Menschen nichts gezeigt werden, es würde reichen, Bedingungen zu schaffen, unter denen sie einfach machen könnten – ohne Druck und ohne Anleitung. Wer in Anreizkonstellationen denkt, muss fürchten, dass nichts mehr geschehe, wenn die Anreize weg sind. Wenn es allerdings gar nicht „Anreize“ sind, die es benötigt, sondern autonomiefördernde statt -hemmende Bedingungen, sieht die Sache ganz anders aus.

In der nachfolgenden Passage wird nochmals der ganze Unwille sichtbar, das festgefügte Modell zu verlassen und BGE-Argumente auf Tragfähigkeit zu prüfen:

„Ziemlich aus der Luft gegriffen ist auch das von BGE-Verfechtern geäusserte Versprechen, das BGE mache es attraktiver, einer unbezahlten Arbeit (Haushaltsarbeit, Kinderhüten, Altenpflege) oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen: Das BGE ändert an der Unbezahltheit dieser Arbeit nichts, denn es wird, wie der Name es ja schon sagt, bedingungslos ausbezahlt, also auch, wenn ein Empfänger es vorzieht, seine Tage vor dem Fernseher zu verbringen.“

Im Anreiz-Modell steckenbleibend, kann der Blick keinen Millimeter jenseits gelangen. Heute kann einer „unbezahlten Arbeit“ nur nachgehen, wer über Einkommen verfügt. Das muss zuerst einmal herangeschafft werden, wozu – nach gemeinschaftlichem Konsens – vor allem Erwerbstätigkeit in Frage kommt. Es handelt sich hierbei nicht bloß um eine Frage der Einkommensbeschaffung, es geht zugleich darum, einer Norm zu entsprechen. Die Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit ordnet alle anderen Tätigkeitsformen ihr nach. So erklärt sich z.B. der häufige Befund relativ weniger ehrenamtlichen Engagements unter Arbeitslosengeld I- und -II-Beziehern. Genau diese normative Vorrangstellung macht „unbezahlte Arbeiten“ unattraktiv für diejenigen, die nicht erwerbstätig sind bzw. müsste es genauer heißen: nicht die Tätigkeiten werden unattraktiv, sie werden lediglich als solche nicht mehr anerkannt. Ein BGE nun würde die Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit aufheben und damit strukturell die anderen Tätigkeiten attraktiver machen, indem sie einer Erwerbstätigkeit gleichgestellt würden. Rühli hält nun den BGE-Befüwortern entgegen, „unbezahlte Arbeiten“ müsse ein BGE-Bezieher nicht machen. Ganz recht, inwiefern ist das nun ein Einwand? BGE-Befürworter, zumindest einige, behaupten nicht, dass sich alle solchen „Arbeiten“ widmen werden, es wäre jedoch zumindest leichter und voraussetzungsloser als heute möglich. Wer „seine Tage vor dem Fernseher“ verbringen will, der tut das auch heute – oder ist Rühli dieses Phänomen nicht bekannt? Davon abgesehen: Was soll ein Unternehmen oder eine öffentliche Einrichtung mit Mitarbeitern, die lieber zuhause vor dem Fernseher säßen, als mitzuwirken? Sieht Rühli in Unternehmen Erziehungsanstalten? Meint er, wer „aktiviert“ werde durch die Sanktionsmöglichkeiten im System sozialer Sicherung, verwandele sich zum leistungsbereiten und schöpferischen Mitarbeiter? Und weshalb ein System an denjenigen ausrichten, die das nicht wollen, statt an der Bereitschaft der Mehrheit?

Jüngst führte Pola Rapatt ein Interview mit Lukas Rühli, um seinen Einwänden gegen das BGE bzw. gegen manche Argumente nachzugehen. Darin – es handelt sich um einen Zusammenschnitt – wird noch deutlicher als in der Broschüre von Avenir Suisse, wie sehr seine Einschätzung von einem Werturteil getragen wird (durchaus auch bei Habermacher/ Kirchgässner – ein kurzer Kommentar von mir siehe hier) und wie sehr seine Analyse genau davon getragen ist. Es werden allerdings Widersprüche zu seinen eigenen Überlegungen deutlicher. Wenn er seine Vorstellung von Arbeit darlegt und sagt, dass für ihn wichtig sei, sich darin verwirklichen zu können, dass sie ihn persönlich interessiere, Verantwortung und Gestaltungsfreiheit dazugehören – was bezeugt er damit? Wie sehr es auf die Bereitschaft des Einzelnen ankommt, genau das zu wollen. Durch normativen Druck oder Verpflichtung ist diese Haltung nicht zu erreichen, sie ist Ergebnis eines Bildungsprozesses, dessen Voraussetzung Autonomie ist. Diese Vorstellung lässt Rühli indes nicht für alle gelten, weil sie – wie er meint – von der Bildung her nicht die Qualifikation mitbringen, um absolut selbsterfüllenden Tätigkeiten nachzugehen. Obwohl er einräumt, dass dies auch in Tätigkeiten möglich sei, die nicht danach aussehen – und von daher letztlich vom Einzelnen entschieden werden muss -, will er ihm diesen Freiraum jedoch nicht einräumen. Wohingegen hier noch Gemeinsamkeiten zum BGE aufscheinen, gehen diese dann wieder verloren (ganz ähnlich wie in Ausführungen von Christian Lindner und Benno Luthiger; weniger Gemeinsamkeiten, ähnlich Einwände allerdings finden sich bei Heiner Flassbeck und Kollegen). Warum, statt aufwendig eine Analyse zu simulieren, nicht gleich zu erkennen geben, dass es sich um einen Standpunkt handelt. Den kann man haben – ein Argument ist er nicht.

Sascha Liebermann

„…wir wollen, dass jeder sein Leben in Würde selbst finanzieren kann…“

Häufig ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, was jemand vor Augen hat, wenn er von Freiheit spricht – das liegt an den verschiedenen Deutungen von Freiheit. Genaues Hinhören oder -schauen ist gefordert. Jüngst war dies angesichts eines Interviews mit Christian Lindner (FDP) der Fall. Er sprach darin zuerst davon, dass der Mensch sich entfalten, seine Ideen in die Welt bringen wolle, ihm dies „eingebaut“ sei. Kaum wird diese Einschätzung vom Interviewer ernst genommen und frag ihn dieser nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen, bleibt von Lindners Menschenbild nichts mehr übrig – außer Misstrauen: das BGE verführe, heißt es dann, es erzeuge Missverständnisse. Der Geist der „Hartz“-Gesetze lässt grüßen.

Ganz ohne Umschweife bringt Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) ihre Wertschätzung für diesen Geist zum Ausdruck, wenngleich das zuerst nicht so klingt zu Beginn des „Sommerinterviews“ aus dem Jahr 2012. Sie äußert sich dort u.a. zur Frage des Betreuungsgeldes:

„Künast: Das erste Lebensjahr soll ein Leben sein, in dem die Gesellschaft die Schonung, ne Schonzeit und einen Schonraum schafft auch für’s Aufwachsen und für das prägende erste Lebensjahr, und danach glaube ich haben Frauen und Männer das gute Recht, dass der Staat ihnen öffentliche Institutionen, Kinderbetreuung vorhält, die hinreichend vorhanden ist und die ihnen die Möglichkeit gibt, erwerbstätig zu sein – jeder der erwachsen ist, erwerbstätig sein kann, von dem erwarten wir eigentlich Erwerbstätigkeit, das sieht man an der ganzen Struktur des ALG II. Wir wollen, dass jeder sein Leben in Würde selbst finanzieren kann und nicht in Altersarmut endet. Deshalb ist es ganz vorne an ein Punkt des Respekts gegenüber Eltern, aber auch den Kindern, zu sagen wir bauen eine gute Bildungsstruktur eine gute Betreuungsstruktur auf…“

Diese Ausführungen sind in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Davon, Eltern zu ermöglichen, darüber zu befinden, wie sie ihren Kindern diesen Schonraum und für wie lange bieten wollen, ist keine Rede. Lediglich das erste Lebensjahr soll das Gemeinwesen es ermöglichen. Dass sich aus der Elternschaft die Verantwortung ergibt, stets das Wohlergehen des Kindes im Auge zu haben und bei allen Entscheidungen ihm, soweit es geht und angemessen ist, den Vorrang einzuräumen – kein Wort davon. Trotz aller Befunde aus der Bindungsforschung (aber auch der Familiensoziologie), die mittlerweile vorliegen (siehe z.B. hier und hier) und die von der Bedeutung der Familie über das erste Lebensjahr hinaus zeugen – für Renate Künast zählt das nicht. Es geht ja nicht darum, den Eltern zu sagen, was sie zu tun haben, das steht auch dem Gemeinwesen nicht an. Fahrlässig ist es jedoch, so zu tun, als sei Fremdbetreuung ab dem ersten Lebensjahr folgenlos. „Wahlfreiheit“ (siehe auch hier), wenn sie bedeutet, nicht mehr das Wohl des Kindes ins Zentrum zu stellen, kommt Verantwortungslosigkeit gleich. Das ist bezeichnend und spiegelt die gesamte Diskussion über Fragen rund um Familie, Kinderkrippen und Kindergärten sowie Bildung wider. Die Kinder haben sich nach den Rhythmen des Erwachsenen- bzw. des Erwerbslebens zu richten und sich ihm früh anzupassen – das sei, so können wir hier umformulieren, das gute Recht von Eltern.

Deutlich wird an den Ausführungen, welche Vorstellung von Familie mittlerweile die öffentliche Diskussion beherrscht, ganz gleich in welchem politischen Lager. Die Verantwortung von Eltern ist eine, die die Familie und damit auch die Kinder im Zentrum haben muss – da gibt es nichts, das wählbar wäre. Affektive Beziehungen, wie sie für Familie und alle Paarbeziehungen wesentlich sind, sind nicht abrufbar wie Kaffee aus einem Automaten. Bindung zwischen Eltern und Kind sind nicht etwas, das einfach so entsteht und stabil ist, dazu braucht es gemeinsame Erfahrungen, bedingungslose Hinwendung, Kontinuität. Sie brauchen Zeit, um wachsen und gedeihen zu können. Wer sich für Kinder entschieden hat, kann nicht mehr wählen, ohne zugleich gegen Familie zu handeln. Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung – zumal von Kleinkindern – sind nicht organisierbar, sie verlangen unmittelbar nach Befriedigung. Allenfalls kann es darum gehen, angesichts der heutigen Lebensverhältnisse, durch den Vorrang von Erwerbstätigkeit, die Spannungen zwischen Familie und Beruf so gut es eben geht zugunsten von Familie auszuhalten. Doch Aufheben lässt sich das Missverhältnis nicht. Auf einfache Weise zeigt sich das an dem Umstand, dass, wer erwerbstätig ist, nicht diese Zeit mit den Kindern verbringen kann.

Was gut für die Kinder ist, was ihnen gut tut, woran sie wachsen und sich entfalten, hat ihren Massstab an ihnen selbst. Wenn Renate Künast dieser Verantwortung entgegenhält, dass „Frauen und Männer das gute Recht haben…“ erwerbstätig zu sein, dann verkennt sie genau diese Spannung und legt sie gegen Familie aus. Wie selbstverständlich sie dabei die scharfe Sozialpolitik unterstützt, zeigt sich hieran:

„…die ihnen die Möglichkeit gibt, erwerbstätig zu sein – jeder der erwachsen ist, erwerbstätig sein kann, von dem erwarten wir eigentlich Erwerbstätigkeit, das sieht man an der ganzen Struktur des ALG II…“

Von wegen „Möglichkeit“- Möglichkeiten kann man nutzen oder es lassen. Der Verweis auf ALG II zeigt, wie wenig es um Möglichkeiten und wie sehr es um Müssen geht. Der Stigmatisierung durch ALG II kann man nur entgehen, indem man auf es verzichtet. Das heißt allerdings, auf Einkommen, das, wer in einer solchen Lage ist, bitter nötig hat, zu verzichten. Wenn diese Verpflichtung dann noch mit dem Hinweis auf „Würde“ und die Vermeidung von „Altersarmut“ verbunden wird, ist klar, woher der Wind weht: die Illusion der Selbstversorgung wird beschworen und Erwerbstätigkeit über alles gestellt (ganz ähnlich argumentiert die Bundesministerin für Familie Manuela Schwesig). Das ist zynisch.

Gegen Ende heißt es dann:

„…Deshalb ist es ganz vorne an ein Punkt des Respekts gegenüber Eltern, aber auch den Kindern, zu sagen, wir bauen eine gute Bildungsstruktur, eine gute Betreuungsstruktur auf…“

Mit Respekt vor Kindern hat dies nichts zu tun, auch nicht mit dem vor Familie. Vielmehr verkörpert sich darin die Vorstellung eines Individuums, das bindungslos lebt und das Verantwortung so „wählen“ kann, wie es Wäsche wechselt. Es gibt aber Dinge im Leben, denen man sich lediglich stellen kann – tut man das nicht, bleibt das nicht folgenlos. Nun kann es nicht darum gehen, Vorschriften zu machen, dass jemand sich diesen Herausforderungen zu stellen hat und wie, das tun wir in vielerlei Hinsicht auch heute nicht. Illusionär wäre es hingegen so zu tun, als gäbe es diese Herausforderungen, denen man sich stellen muss, nicht. Weil es sie aber gibt, müssen Möglichkeiten geschaffen werden, damit der Einzelne möglichst frei von ideologischen Bedrängnissen sich fragen kann, wie er zu ihnen steht und ihnen begegnen will. Den sicheren Hafen dafür bietet nur ein Bedingungsloses Grundeinkommen.

Sascha Liebermann

Wahlfreiheit, die sogenannte

Wahlfreiheit, ein großes und gewichtiges Wort, das die politischen Auseinandersetzungen um Familie und Bildungswesen dominiert, ganz besonders Betreuungseinrichtungen für Kinder unter (U3) ober über 3 Jahre (Ü3), aber auch die Frage, ob nicht Kinder statt im Kindergarten bei einer Tagesmutter bleiben können sollen. Der Zeitgeist hält die U3-Einrichtungen beinahe einschränkungslos für eine große Errungenschaft, und zwar nicht nur für Familien, die sie aufgrund einer Notlage Hilfe benötigen, sondern für alle. Es ist nicht zu übersehen, wie stark politische Entscheidungen in die Richtung weisen, Kinder schon vor dem Kindergartenalter fremdbetreuuen zu lassen. Was aber heißt es, frei zu wählen, wenn es um Familie und Kinder geht? Welche Folgen hat der Ausbau der U3-Plätze für Eltern, die ihre Kinder erst mit 3 Jahren in den Kindergarten schicken möchten?

Die ganze Diskussion würde es in der Form vermutlich nicht geben, wenn Erwerbstätigkeit nicht einen so hohen Stellenwert hätte, dass hinter ihm sogar Kinder zurückstehen müssen. Denn, bei allen rhetorischen Floskeln und Glanzbroschüren, eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf gibt es nicht, zumindest nicht in dem Sinne, dass beides gleichermaßen gelebt werden kann. Wer den ganzen Tag im Beruf engagiert ist, hat keine Zeit für Familie, oder nur die, die nach einem Arbeitstag übrig bleibt. Es wäre viel gewonnen, wenn dies nicht nur gelegentlich einmal klar ausgesprochen würde, ohne es schön zu reden. Keine Zeit für Familie heißt auch, keine Erfahrung mit den Kindern zu machen – oder nur die, die in der Restzeit möglich ist. „Wahlfreiheit“ suggeriert, dass die Wahl für das Familienleben folgenlos sei, das ist sie aber nicht. Wie Eltern dazu stehen, ist ihre Sache.

Der Ausbau der U3-Betreuung hingegen ist gerade nicht Ausdruck davon, Eltern darin zu bestärken, sich frei von Druck zu entscheiden. Denn der Ausbau der U3-Betreuung führt – schleichend – dazu, dass die Anzahl an Ü3-Plätzen abnimmt. Ein Kind, das mit 2 Jahren schon in die Kita kommt, soll danach ja weiterhin dort betreut werden können, also rückt es in auf einen U3-Platz vorher. Damit stehen weniger Plätze für den klassischen Kindergarten bereit. Der U3-Ausbau ohne zusätzliche Finanzierung in Ü3-Plätze sorgt dafür, dass Eltern, die einen Ü3-Platz in Anspruch nehmen wollen, sie für einen U3-Platz anzumelden und gegebenenfalls schon betreuen zu lassen. Tun sie weder das eine, noch das andere nehmen die Chancen darauf, einen Ü3-Platz zu bekommen, ab. Denn die Ü3-Plätze werden von den U3-Kindern übernommen. Dies nicht bedacht bzw. die Konsequenzen nicht in aller Klarheit benannt zu haben kann nun entweder als Nachlässigkeit oder als Strategie ausgelegt werden, eine Art indirekte Familienpolitik verdeckt unter dem Schlagwort der „Wahlfreiheit“, die keine ist. 

Sascha Liebermann

Superfrauen, Supermütter, Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Verklärungen dominieren die Diskussionen über Elternschaft, Väter, Mütter und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Verklärungen sind es, weil sie in jede Richtung geschehen, entweder in die eines perfekten, ohne Probleme und Konflikte ablaufenden Familienlebens oder in die andere eines reibungslosen Zusammenfügens von unvereinbaren Sphären. Selten liest und hört man anderes, zumindest in der Öffentlichkeit. Eine Erfahrung in Gesprächen mit Eltern ist es, nicht so gerne darüber zu sprechen, dass nicht alles so gut und reibungslos klappt, wie es gewünscht oder gehofft wird.

Ein Lichtblick ist es dann, wenn einmal klar benannt wird, wo die Konflktlinien liegen und dass das Bestreben, Familie und Beruf vereinbaren zu wollen, seinen Preis hat, wie dies jüngst Judith Lembke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. März tat. Sie schreibt unter dem Titel „Vereinbarkeit ist eine Lüge“: „…Jeden Tag erleben sie [die Mütter, über die sie berichtet, SL] eine Binsenweisheit, die so banal ist, dass sie sich im Nachhinein wundern, warum sie es nicht haben kommen sehen: Wer Karriere machen will, muss viel arbeiten. Wer viel arbeitet, hat wenig Zeit für Kinder. Oder anders herum: Die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere ist eine Lüge – zumindest, wenn das Wort Kinder dafür steht, dass man sie nicht nur bekommt, sondern sich auch selbst um sie kümmert…“ oder, könnte ergänzt werden, man ausreichend Zeit für sie haben möchte.

Das Gegenteil von dieser Einschätzung war in der Sendung „Superfrauen zwischen Beruf und Karriere“ (ZDF, 37 Grad) zu sehen. Wer aufmerksam hinhörte, konnte allerdings erkennen, dass manche der Eltern, die dort präsentiert wurden, den Preis der Vereinbarkeit schon spüren, aber entweder nicht wahrhaben wollen oder in Kauf nehmen. Wie überhaupt dieser Preis in der ganzen Sendung übergangen und statt dessen der Erfolg der Superfrauen gefeiert wurde. Eine Mutter von vier Kindern, Tanja von Waldbeck, spricht an einer Stelle darüber, wie es ist, wenn sie nach einem Arbeitstag ihre Kinder zu Bett bringt: „…Man hat dann das Gefühl [Hervorhebung SL], dass man doch noch Teil dieses Tages auf jeden Fall ist…“ (ab Minute 12). Die Steigerung davon, das Gefühl zu haben, dass es so sein könnte, wäre, nicht einmal das Gefühl zu haben – also nicht mehr Teil des Tages zu sein. Damit sagt sie etwas, wovon in der ganzen Dokumentation nicht die Rede ist: des Berufs wegen bei voller Stelle abwesend zu sein, bedeutet, von den Kindern beinahe nichts mitzubekommen, sie wenig zu erleben und zu erfahren bzw. gemeinsame Erfahrungen zu machen.

Wie von dieser Verklärung wegkommen? Indem dem Einzelnen die Möglichkeiten geschaffen werden, sich frei von Verklärungen der Aufgabe Elternschaft zu stellen, um zu entscheiden, wie er damit umgehen will. Dann würde es leichter sich – auch gegen den dominanten Zeitgeist – offen einzugestehen, dass man beides nicht haben kann – ausreichend Zeit für Familie, also auch die Kinder, und ein erfülltes Berufsleben. Der Preis für die „Vereinbarkeit“ ist hoch, das sollte offen ausgesprochen werden, statt sich in verklärenden Slogans zu ergehen. Einen solchen Freiraum eröffnet nur ein Bedingungsloses Grundeinkommen. Alle bisher existierenden Instrumente der Familienpolitik heben den Vorrang von Erwerbstätigkeit nicht auf. 

Darüberhinaus gibt es aus der Bindungsforschung beachtenswerte Befunde z.B. von Lieselotte Ahnert „Das bedeutet für Kinder Stress“ und Karl-Heinz Brisch „Das Krippenrisiko“. Sie zeigen deutlich, welche Folgen eine zu frühe Fremdbetreuung haben kann, zumal angesichs der gegenwärtigen Personalschlüssel in den Einrichtungen. Worüber diese Studien nichts sagen, ist, ob man ein Familienleben haben will, indem für die Familie nur das Frühstück und das Abendessen bleiben. Das muss jeder für sich entscheiden – mit allen Konsequenzen und ohne Verklärungen.

Siehe auch meine früheren Kommentare hier, hier und hier sowie „Erziehung zur Unmündigkeit“ von Thomas Loer

Sascha Liebermann

„Frauen in der Pflegefalle“ – und das Bedingungslose Grundeinkommen

Der Bayrische Rundfunk sendet im Rahmen von „Kontrovers-Story“ einen Beitrag über „Frauen in der Pflegefalle“ – tatsächlich trifft es vor allem Frauen. Doch handelt es sich um ein strukturelles Problem, denn ganz gleich, wer pflegen will oder pflegt, hat im heutigen System sozialer Sicherung das Nachsehen. Mit einem ausreichend hohen BGE würden sich andere Möglichkeiten bieten, nicht nur im Sinne einer Ermöglichung von Pflege und der Absicherung derjenigen, die privat pflegen. Es bedeutete eine Aufwertung dieser Tätigkeiten, weil sie nicht mehr durch das Sicherungssystem an den Rand gedrängt würden, obwohl sie in die Mitte des Gemeinwesens gehören.

Siehe unseren früheren Beiträge „Behindernde Sozialpolitik“, „Das Grundeinkommen und die Scheißarbeit“ und „Freiräume schaffen oder Leistungsansprüche optimieren?“.

„Alleinerziehende – der Mut der Mücke“…

…ein Feature des Deutschlandfunkt. Manuskript und Audiodatei sind online verfügbar. Wieder ein schönes Beispiel dafür, auf wie einfache Weise eine Bedingungsloses Grundeinkommen Möglichkeiten schüfe und so Perspektiven entstehen ließe. Siehe auch „Vorrang von Erwerbstätigkeit – Abwertung von Familie“ und „Die Debatte um das Betreuungsgeld als Symptom“.