…und über den Makel, arm zu sein, darüber berichtet ein Beitrag auf Zeit Online. Daran wird deutlich, was ein Bedingungsloses Grundeinkommen leisten könnte. Insbesondere Alleinerziehende, vor allem Frauen, sind davon betroffen. Meist wird die Lösung im Zugang zum Arbeitsmarkt gesucht, statt darin, Entscheidungsmöglichkeiten zu schaffen. Siehe auch den Beitrag „Alleinerziehende und Armutsrisiko – ewig das alte Lied…“
Kategorie: Familie
„…dann muss ich auch verdammt noch mal den Arsch hochkriegen“ – Niko Paech zum Bedingungslosen Grundeinkommen, aber anders, als es scheint
In diesem Videozusammenschnitt von den Hamburger Utopie-Wochen 2014 reagiert Niko Paech, Befürworter einer Postwachstumsökonomie, auf das von Ulrich Schachtschneider vertretene „Ökologische Grundeinkommen“. An einer Stelle wird Paechs Haltung zum BGE besonders deutlich (ab Minute 5:40). Wenn „ich“ Geld erhalten will, „dann muss ich auch verdammt noch mal den Arsch hochkriegen und selber in dieser Maschinerie irgendwie Leistung erbringen“. Das sei nötig, weil der Bezieher sonst in einem Schlaraffenland lebe, was naturwissenschaftlich nicht möglich sei.
„Heilserwartung“, „sozialpolitische Widerstände“ – und blinde Flecken
Stefan Sell, der das Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ betreibt, hat sich in einem längeren Artikel „Zwischen Heilserwartung und sozialpolitischen Widerständen“ mit den Beiträgen in jüngster Zeit zum Bedingungslosen Grundeinkommen befasst. Der Titel kommt zwar etwas reißerisch daher, das erklärt sich jedoch teils aus der Kritik an fundamentalistschen Zügen, die Sell in der Diskussion auf beiden Seiten ausmacht. Er schreibt das zu Beginn:
„Um es gleich an den Anfang dieses Beitrags zu stellen: Hier soll und kann es nicht um eine abschließende Bewertung des Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens gehen (oder sagen wir besser: der vielen teilweise sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon). Zuweilen hat man in der heutzutage sowieso immer gleich von Null auf Hundert beschleunigenden Nicht-Diskussionslandschaft des „Dafür“ oder „Dagegen“ den Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit dem, was unter dem Etikett des „bedingungslosen Grundeinkommens“ verhandelt wird, partiell fundamentalistische Züge trägt. Die einen erwarten sich davon die Erlösung von Hartz IV und dem Erwerbsarbeitsjoch unserer Tage, die anderen sehen den Totalabriss der bestehenden sozialen Sicherungssysteme und ein perfides Täuschungsmanöver der Kapitalseite ante portas. Man kann aus guten Gründen die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen mit großer Sympathie verfolgen für den gedanklichen Grundansatz, ohne deshalb die skeptischen Stimmen und die Gegenargumente hinsichtlich einer Umsetzbarkeit verdrängen zu müssen.“
Da trifft Sell einen Punkt, der sich in der medial aufbereiteten Debatte in der Tat häufiger findet. Wenig pragmatisch wird mit dem BGE umgegangen, hochgejubelt oder verteufelt wird es allzu oft. Es gibt jedoch durchaus eine sachliche, bodenständige Diskussion, die schon länger auslotet, welche Möglichkeiten ein BGE bietet ohne Heilsversprechen zu machen. In dieser Diskussion wird auf Grenzen dessen hinzugewiesen, was sich über tatsächlich eintretende Folgen eines BGE sagen lasst, da diese ja davon abhängen, was die Bürger mit dem BGE machen. Und selbstverständlich spielt die Ausgestaltung eine Rolle. Für diese realistisch-pragmatische Haltung, die auf Grenzen des Bestimmbaren hinweist, wird man dann durchaus ebenso gescholten, denn es sei ja fahrlässig, über die tatsächlichen Folgen nichts sagen zu können. Als hätte man bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland gewusst, was aus der Demokratie wird, für ein Gelingen sprach damals nicht allzuviel angesichts dessen, dass das deutsche Volk die Schrecken des Dritten Reiches zu verantworten hatte und nicht in der Lage war, den Krieg zu beenden.
Sell schreibt über die Zustimmung unter Vorständen großer Unternehmen, die Volksabstimmung in der Schweiz, den internationalen Aufwind für die Idee und die Unterstützung aus der IT-Branche im Silicon Valley. Er referiert die Ausführungen Thomas Straubhaars, der jüngst in verschiedenen Tageszeitungen publizierte, sowie die Rezension dessen Buches durch Christoph Eisenring in der Neuen Zürcher Zeitung.
Zu Straubhaars Ausführungen schreibt er an einer Stelle:
„Und man könnte und müsste an dieser Stelle ergänzen: Und noch höhere Steuersätze würden anfallen müssen, wenn man berücksichtigt, dass in einer idealen Welt vielleicht der Normalbürger über das Grundeinkommen halbwegs abgesichert werden kann – was aber ist mit den Behinderten und den Leistungen zur Inklusion, die sie erhalten? Was ist mit Zuschlägen beispielsweise für Alleinerziehende oder andere Personengruppen, die einen höheren Bedarf haben? Und auch wenn es nervt, müsste man die Frage stellen – wie anders als über einen Staatsstreich will man die erworbenen Ansprüche an die Sozialversicherungssysteme – man denke hier nur an die Rentenanwartschaften – beseitigen, um alles zu ersetzen durch ein einheitliches Grundeinkommen?“
Was Straubhaar in seinem Buch zu diesen Fragen sagt, weiß ich nicht. Meines Wissens hat er in jüngerer Zeit deutlich betont, dass es bedarfsgeprüfte Leistungen weiter geben kann und muss, weil ein BGE sie nicht decken könne. Würde das nicht vorgesehen, würde ein BGE eben nicht leisten können, was es leisten soll: Freiräume zu eröffnen, um Entscheidungen breiter treffen zu können als heute.
Und was ist mit erworbenen Ansprüchen? Das ist eine eminent politische Frage. Das BGE könnte einen Teil dieser Ansprüche ersetzen, den Teil, der darüber hinaus besteht, nicht. Es könnte eine Umwandlung der Ansprüche angestrebt werden, wenn das politisch gewollt ist. Oder das Rentenversicherungssystem wird beibehalten, die Rente aber stärker besteuert. Wege sind viele denkbar.
Aber wie ist es mit der heutigen Rente, worüber reden wir da? Die Deutsche Rentenversicherung verfügt über entsprechende Daten (siehe hier, S. 34). So betrug die durchschnittliche Altersrente in Westdeutschland in 2015 787 € (Männer 1040, Frauen 580). Vergleicht man diese Werte mit den von Straubhaar – und früher schon von anderen – ins Spiel gebrachten 1000 Euro BGE pro Monat und Person, lässt sich leicht erkennen, dass Frauen sich erheblich besserstellen würden, Männer würden auf dem heutigen Niveau etwa verbleiben. Auf Haushalte bezogen würde sich die Lage erheblich verändern, da BGEs in einem Haushalt kumulieren, also sich addieren. Ein weiterer Effekt des BGE ist, dass es immer zur Verfügung steht, so wird der Einzelne in den Stand gesetzt, Vermögen aufzubauen, wenn er es will. In Haushalten wirkt dies noch stärker möglich und würde gerade denjenigen zugutekommen, die heute am wenigsten dazu in der Lage sind. Dafür spielt es eine entscheidende Rolle, dass ein BGE für Erwachsene wie Kinder gleichermaßen hoch ist und kein Unterschied in der Höhe gemacht wird. Dann erst würde es Alleinerziehenden auch helfen.
Es gibt noch einen ganz anderen Punkt, der gegen die bisherige Rentenversicherung spricht: Sie ist erwerbszentriert und bezieht andere Tätigkeiten kaum ein. Haushaltstätigkeiten, Sorge um die Familie, um Angehörige – sie finden nur geringe Berücksichtigung. Gemäß dem Motto „(Erwerbs)Arbeit schützt vor Armut“ – was nicht stimmt – setzt deswegen die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik darauf, die Erwerbsteilnahme weiter zu erhöhen, das betrifft vor allem Frauen, die meist diejenigen sind, die sich um Haushalt und Familie kümmern. Das hat jedoch zur Folge, die Anwesenheiten im familialen Nahraum zu reduzieren, weniger Zeit für die Kinder zu haben, weniger gemeinsame Erfahrungen zu machen. Denn gegenwärtig wird angestrebt, Fremdbetreuung immer früher zu nutzen. So wird indirekt Druck auf diejnigen ausgeübt, die das nicht wollen, aber sehen müssen, dass sie einen Ü3-Platz bekommen können, wenn in derselben Einrichtung auch U3-Betreuung angeboten wird. Denn die U3-Kinder wachsen in die Ü3-Plätze hinein. Was für Väter schon als Missstand gelten kann, wird durch eine solche Sozialpolitik für Mütter nun zum Leitstern. Ein BGE würde eine Abkehr von dieser Haltung erlauben und den Sorgetätigkeiten die Basis verschaffen, die sie benötigen. Warum taucht dieses Argument für das BGE bei Sell in keiner Weise auf, wo es doch von so großer Bedeutung ist?
Gegen Ende seines abwägenden wohlwollenden Beitrags schreibt Sell, indem er einen anderen Beitrag zitiert:
„Aber man sollte vorsichtig sein, wenn uns wieder einmal eine allzu einfache Lösung in Aussicht gestellt wird. So auch die Kritik bei Andreas Hoffmann in seinem Kommentar Das Grundeinkommen würde uns alle überfordern: »Je mehr ich über das Konzept nachdenke, umso mehr Fragen stellen sich mir. Es ist, als hätte sich die Tür in ein Labyrinth geöffnet. Bald taucht die nächste Tür auf. Dann noch eine. Und noch eine.« Als Beispiel: »Wie steht es mit Tarifverträgen oder Kündigungsschutz? Die Arbeitgeber könnten dann jeden sofort rausschmeißen und sagen: „Du hast ja dein Grundeinkommen.“ Wozu noch Abfindungen oder Betriebsräte? Oder Gewerkschaften? Das alles kann auf den Müllhaufen des Sozialstaats.“
Nach wessen Dafürhalten kann das auf den „Müllhaufen des Sozialstaats“? Hier entscheidet nicht eine Partei, kein Unternehmen, sondern politische Willensbildung. Wenn dieser Wille tatsächlich alles auf den „Müllhaufen“ werfen will, wird das geschehen, wenn nicht, dann eben nicht. Natürlich kann es Tarifverträge mit BGE ebenso geben, sie haben jedoch nicht mehr dieselbe Bedeutung wie heute. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Tarifverträge in etlichen Bereichen heute gar nicht greifen. Die Tarifbindung lag nach Sells eigenem Verweis auf eine Erhebung in 2015 in Westdeutschland bei 59% der Beschäftigten. Weitere 21% hatten Arbeitsverträge die sich an Tarifverträge anlehnten. 20% hatten Verträge gänzlich ohne Tarifbindung. Auch mit BGE wird es Arbeitsverträge geben, wird es ein Arbeitsrecht geben – Arbeitsverhältnisse bewegen sich nicht im luftleeren Raum. Wenn Betriebsräte für wichtig gehalten werden, wird es sie geben. Allerdings wird durch ein BGE ohnehin die Stellung der Belegschaften gestärkt. Das sollte nicht übersehen werden. Auch ein Betriebsrat ist nur so stark, wie er Unterstützung erfährt. Warum sollten Abfindungen nicht in Arbeitsverträgen geregelt werden können? Auch hier wieder ein blinder Fleck, weshalb taucht dieser gewichtige Aspekt in Sells Beitrag nicht auf? Straubhaar weist immerhin daraufhin.
In derselben Passage geht es mit Bezugnahme auf die Anfänge der „Hartz-Reform“ weiter:
„Arbeitslos ist nicht gleich arbeitslos. Es gibt die alleinerziehende Mutter, die arbeiten und ihre Kinder versorgen will. Es gibt den schlecht ausgebildeten jungen Mann, der sucht und sucht. Es gibt den Langzeitarbeitslosen, der mit physischen und psychischen Problemen kämpft. Und. Und. Und. Die Idee der Pauschale wurde still beerdigt.«“
Sell zitiert wieder den Beitrag von Hoffmann. Nun, Thomas Straubhaar spricht von 1000 Euro BGE im Monat. Werden wir konkret. Eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind hätten 2000, eine mit zwei Kindern 3000 Euro zur Verfügung. Wäre das eine Verschlechterung? Der hier zitierte junge Mann könnte sehr wohl weitersuchen, ohne sich den Regularien der Jobcenter unterwerfen zu müssen. Er könnte Beratungsangebote annehmen, die wirkliche Angebote sind, ohne Rechtsfolgenbelehrung wie heute. Wäre das keine Verbesserung? Würde die Befreiung von Druck nicht ihm vielleicht am meisten helfen? Zugleich ist das BGE Ausdruck eines starken Solidargefühls, weil es jedem zuallererst etwas zutraut. Auch das würde der junge Mann spüren können. Dasselbe gilt für den Langzeitarbeitslosen, der nicht mehr ausgeschlossen würde und sich angesichts des heute herrschenden Erwerbsideals als Gescheiterter sehen muss. Da sehe ich mehr Chancen als Probleme, die Probleme haben wir doch heute, nicht mit BGE.
Sell knüpft an die von Hoffmann zitierte Passage zu den Anfängen der Hartz-Reform an:
„An dem letzten Punkt könnte man etwas korrigierend ansetzen und sagen: Das Hartz IV-System hat genau deshalb so viele Probleme, weil es irgendwo hängen geblieben ist zwischen den Polen einer Einzelfallgerechtigkeit und einer unterschiedslosen Pauschalierung für alle, die aber aus fiskalischen Gründen zu niedrig bemessen wurde und ist. Und dann ist das „Grundeinkommen“ nach Hartz IV auch noch ein nicht-bedingungsloses Grundeinkommen, also an Verhaltenserwartungen und bürokratische Nachweispflichten geknüpft, die alle Beteiligten erschöpfen und einige teilweise zerstören. Aber wenn das schon so ist im Grundsicherungssystem SGB II, soll man wirklich glauben dürfen, dass das bei einem Grundeinkommen für alle ganz anders ausfallen wird?
Fragen über Fragen.“
Wenn das BGE ein gänzlich anderes Gefüge bildet und all die erniedrigenden Prozeduren des SGB II nicht enthält, dann wäre das ganz anders, sofern es nicht zu einer Sparversion eingedampft wird. Es steht außer Frage, dass es ein BGE in einer vernünftigen Variante nur geben wird, wenn die „schwarze Pädagogik“ aufgegeben wird, die den heutigen Sozialstaat durchzieht. Es erfordert eine Verbschiedung des Vorrangs von Erwerbstätigkeit, ohne diese Verabschiedung wird es ohnehin nicht kommen. Sorgen, die sich auf das BGE richten, müssten sie sich nicht genauso auf das heutige Gefüge richten? Wenn sich etwas ändern soll, muss das gewollt werden. Das ist immer so. Was dabei herauskommt, hängt von den Bürgern ab, da sind es leerlaufende, vielleicht sogar entmündigenden Vorbehalte, dem BGE Sorgen zuzuschieben, die in der Gegenwart genauso angebracht sind.
Sascha Liebermann
Fatalistisch und technologiefeindlich seien die Anhänger des Bedingungslosen Grundeinkommens…
…laut Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, der einen Beitrag dazu in focus online veröffentlicht hat, der zuvor im Magazin Zukunft 2017 der Konrad- Adenauer-Stiftung erschienen ist.
Er schreibt zum Ergebnis der Volksabstimmung in der Schweiz:
„Denn das Ergebnis der vielschichtigen eidgenössischen Debatte war in erster Linie eine krachende Niederlage für die Initiatoren der Abstimmung. Lediglich 23 Prozent der Wählerschaft stellten sich hinter das Konzept. Das ist weniger Zustimmung als in den Jahren zuvor der Mindestlohn oder die Begrenzung von Managergehältern erhielten. Umfragen zufolge findet sich auch in Deutschland derzeit keine Mehrheit für ein bedingungsloses Grundeinkommen.“
Dass der Mindestlohn mehr Zustimmung erhielt ist insofern nicht überraschend, als er sich im Gefüge der Erwerbszentrierung bewegt und daran nichts ändert. Ein BGE will darüber hinaus und die Erwerbszentrierung aufheben. Die Befürworter haben dem Bestehenden gegenüber also eine Bringschuld deutlich zu machen, dass das BGE etwas ermöglicht, was im heutigen Gefüge nicht möglich ist.
Ist eine Zustimmung von 23 Prozent angesichts eines solchen Ziels denn wenig? Es ist zu wenig, wenn eine Mehrheit gesucht wird, das ist richtig, aber Vorhaben, die größere Veränderungen nach sich ziehen, haben immer eine Weile gebraucht, bis sie Mehrheiten finden konnten. Was wäre wohl in Deutschland los, wenn sich in einem Verfahren 23 Prozent für ein BGE ausgesprochen hätten (also keine nichtssagenden Umfragen)? Es wäre nicht mehr als abwegige Utopie wegzudiskutieren.
Dann äußert sich Hüther zum gegenwärtigen Sozialstaat:
„Keineswegs bedeutet dies, dass man den deutschen Sozialstaat von Reformbedarf freimachen könne. Nichts läge ferner. Denn tatsächlich leiden der Bundeshaushalt und damit die Steuerzahler unter viel zu hohen Bürokratiekosten, Sozialtransferempfänger gleichzeitig unter Stigmatisierung. In der Theorie könnte das bedingungslose Grundeinkommen diese Probleme angehen, soll dieses doch das Gros an Sozialtransfers und der Sozialversicherung – wie der Name schon sagt bedingungslos – ersetzen.“
Zumindest anerkennt er, was ein BGE ermöglichen könnte.
Weiter heißt es:
„Legitimiert die aktuelle Situation in Deutschland jedoch einen solch drastischen Schritt, der den jahrzehntelang weiterentwickelten Sozialstaat und unsere gesamte Wirtschaftsordnung auf den Kopf zu stellen vermag?“
Was genau würde ein BGE denn „auf den Kopf stellen“? Es würde vielmehr etwas miteinander verbinden, das heute nicht zu verbinden ist: Solidarität und Leistung. Denn auch mit einem BGE benötigt es Leistung, damit es dauerhaft bereitgestellt werden kann, aber eben nicht nur eine, sehr eingeschränkte Form von Leistung: Erwerbsarbeit. Es benötigt all die anderen auch, die heute unter dem Vorrang der einen herausgehobenen leiden: Familien, Freiwilligenengagment, staatsbürgerschaftliches Engagement für die Demokratie.
„Freilich beschwören die Befürworter des Grundeinkommens eine sich verschärfende Dringlichkeit. Hierfür bedient man sich der voranschreitenden Digitalisierung und prognostiziert ein rabenschwarzes Bild des Arbeitsmarktes. Maschinen mit künstlicher Intelligenz erledigen Aufgaben, die heute noch von Menschen durchgeführt wird, nur eine kleine Elite würde weiterhin einer entlohnten Tätigkeit nachgehen. Die Mehrheit der Arbeitskräfte wäre schlichtweg überflüssig.“
So argumentieren allerdings nicht nur Befürworter eines BGE, sondern auch solche, die davon nicht so überzeugt sind wie z. B. Erik Brynjolfsson. Hüther trifft hier einen wunden Punkt der Debatte, denn in der Vergangenheit hat es immer wieder Szenarien gegeben, die nicht eintrafen. Außerdem bezieht das BGE seine Bedeutung nicht von etwaigen Entwicklungen durch Digitalisierung. Statt sich auf die Reparaturfunktion eines BGE zu kaprizieren, wäre es für die öffentliche Auseinandersetzung wichtig, dass es um etwas anders im wesentlichen geht – um mehr Selbstbestimmung und Vielfalt in Gemeinschaft.
Entsprechend verweist Hüther auf ein solches Szenario:
„Damit wird ein altbekanntes Narrativ aufgegriffen, auf das bereits Henry Ford während des Zeitalters der Elektrifizierung hereinfiel. „Autos kaufen keine Autos“, so lautete die Sorge des Unternehmers vor über 100 Jahren. Auch er dachte, die Nutzung von technologischen Innovationen führte zu Substitution von menschlicher durch maschinelle Arbeitskraft. Mit fallenden Löhnen und Beschäftigungsquoten würde dann das gesamte System in sich zusammenbrechen.“
Abgesehen von dem schon oben erwähnten Punkt, dass es beim BGE nicht hauptsächlich um den „Arbeitsmarkt“ geht, ist die indirekte Verklärung, die Hüther hier vornimmt, ebensowenig haltbar. Betrachtet man die Entwicklung von Arbeitsvolumen und Erwerbstätigkeit, bietet sich ein Bild, das erheblich differenzierter ist und von einem lang anhaltenden Trend eines sinkenden Arbeitsvolumens zeugt (siehe hier, S. 47 und meinen Kommentar hier).
Hüther folgert:
„Der Argumentation hängt eine fatalistisch-technologiefeindliche Note an. Mit Blick auf zukünftige Massenarbeitslosigkeit und soziale Verwahrlosung böte sich der Gesellschaft ein letzter Ausweg, den großen sozialen Knall zu verhindern: das bedingungslose Grundeinkommen.“
So überzogen die Argumentation mancher BGE-Befürworter hier ist, so überzogen ist sein Abtun der Entwicklung des Arbeitsvolumens. Wir wissen tatsächlich nicht, was die Digitalisierung bringen wird, insofern trägt es zu einer Versachlichung der Debatte bei, hier weder ein Horror-, noch ein Verklärungsszenario zu entwerfen.
Genau dazu setzt Hüther dann aber an:
„Dabei hat sich die zweite industrielle Revolution Ende des 19. Jahrhunderts als Startpunkt einer schier unglaublichen (und inklusiven) Wohlstands- und Wohlfahrtsstory erwiesen. Auch heute läuft es rund in der deutschen Wirtschaft. Insbesondere auf dem deutschen Arbeitsmarkt jagt ein Rekord den anderen, wobei sich ebenfalls die Qualität der Arbeit gewandelt hat: Nicht der Subsistenzerhalt, sondern vielmehr die Hoffnung auf ein erfülltes Leben ist für viele Menschen heute die Triebfeder des Arbeitens. Technologischer Fortschritt hat dies erst ermöglicht und er wird ebenso in Zukunft dazu führen, dass noch mehr Menschen einer entlohnten sinnstiftenden Arbeit nachgehen können. Die Unabdingbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommens lässt sich nicht herleiten.“
Nicht die Spur von Aufmersamkeit für den Druck, den diese Erwerbszentrierung auf andere Leistungsformen erzeugt. Dass genau diese Erwerbszentrierung es nur unter Inkaufnahme der Folgen vorsieht, ihr für eine gewisse Zeit nicht zu folgen, wenn man sich z. B. dazu entscheidet, mehr Zeit für Familie, für die Fürsorge für Angehörige oder andere Aufgaben zu haben, die nicht bezahlt werden, ignoriert Hüther einfach. Das kann man tun, sollte dann aber nicht verschweigen, welche Konsequenzen es für diese anderen Sphären des Zusammenlebens hat.
Zur Finanzierung:
„Finanzierbarkeit und Arbeitsanreize sprächen demnach für und nicht gegen die Einführung des Grundeinkommens. Zwei Argumente, die doch auf sehr wackeligen Beinen stehen. Orientiert man sich beispielsweise am Grundeinkommensmodell von Götz Werner in der Höhe von monatlich 1000 Euro, belaufen sich die Kosten auf mehr als das Doppelte der gesamten Staatsausgaben des Bundes, gar auf das Sechsfache der öffentlichen Bildungsausgaben – und das allein für die 68 Millionen in Deutschland lebenden Erwachsenen. Zieht man Beträge für Kinder hinzu erhöhen sich die Zahlungen entsprechend.“
Ja, was folgt nun daraus? Ist es finanzierbar oder ist es das nicht? Oder geht es eher darum, ob man dazu bereit ist, es zu finanzieren. Letzteres scheint hier der Fall zu sein.
Eine Schwäche, die alle Berechnungsversuche haben betrifft die Einnahmeseite. Da darüber nichts Verlässliches ausgesagt werden kann, wird nur die Ausgabeseite betrachtet. Aber was bedeutet ein BGE für die Einnahmeseite, welche Auswirkungen hat es auf Arbeitshaltung, Arbeitseffizienz und -effektivität? Das nicht zu beachten, würde darauf hinauslaufen zu behaupten, heute seien die Arbeitsbedingungen optimal, mit einem BGE kann es nur schlechter werden. Wenn nun aber ein BGE die Chance erhöht, dass Individuum und Aufgabe zueinanderpassen, hat dies Auswirkungen auf alle Leistungformen und damit auf die Einnahmeseite. Darüber hinaus wirkt ein BGE sich auf die Lebensführung im Ganzen aus, weil es die normative Bedeutung von Erwerbstätigkeit verändert, folglich auch damit zusammenhängende Phänomene wie demonstrativen Konsum, Krankheitsbilder usw. Wenn Hüther diese Seite, wie viele Kritiker des BGE, einfach übergeht, ist das unseriös.
Dann folgt ein interessanter Einwand zu Feldexperimenten:
„Das zweite Argument ist ebenfalls kaum haltbar, denn Experimente zum bedingungslosen Grundeinkommen haben einen grundsätzlichen Haken: Sie stellen keine authentische Institution dar, die Teilnehmern glaubwürdig einen lebenslangen gesellschaftsvertraglichen Überbau in Form von monatlichen Auszahlungen auf ihrem Konto bietet.“
Das stimmt, siehe hierzu auch meinen Kommentar.
„Ist das Experiment zu klein, könnten Teilnehmer wegziehen, ist das Experiment zu groß, könnte es beispielsweise durch ein Referendum wieder umgekehrt werden. Selbst wenn die Schweizer sich also für ein Bedingungsloses Grundeinkommen entschieden hätten, wer könnte ihnen garantieren, dass sie sich auch im Alter auf die entsprechenden Zahlungen verlassen könnten und sich der Volkswille nicht nach einigen Dekaden wieder in eine andere Richtung verschiebt?“
Das kann niemand garantieren, ist das aber heute anders? Wenn es den politischen Willen gäbe, die Rentenversicherung vollständig umzubauen, würden dadurch tatsächlich die erworbenen Ansprüche von Rentner vollständig geschützt? Würde es noch Grundsicherung im Alter geben, wenn der politische Wille dazu da ist, eine solche Leistung nicht mehr bereitzustellen? Es ist also eine Frage des politischen Willens – das ist immer die entscheidende Frage. Was soll uns der Einwand nun sagen?
Weiter geht es in dieser Passage:
„Die vorhandene Evidenz ist damit kaum zu interpretieren, die simple Forderung nach mehr empirischen Befunden greift aber ebenfalls zu kurz. Teilnehmer reagieren in beiden Fällen mit verzerrtem Verhalten auf die Experimente. Einen Test kann es praktisch nicht geben – die Einführung des Grundeinkommens bleibt eine Reise in die institutionelle Ungewissheit.“
Da hat Hüther in der Tat recht, denn die Experimente können uns nicht sagen, was tatsächlich geschehen wird. Das gilt gleichermaßen für Modellrechnungen? Nun müsste Hüther das aber auch auf seine Argumentation anwenden, denn wir wissen heute ebensowenig, wofür es morgen einen politischen Willen geben oder nicht geben wird. Gestaltung ist immer ein Gang ins Ungewisse, sei es als Gemeinwesen durch politische Entscheidungen, sei es als Unternehmer, sei es als Bürger, der sein Leben lebt. Was morgen kommt, wissen wir nicht, wenngleich wir uns auf Kontinuität verlassen.
Ist aber das BGE soweit entfernt von dem Leben, das wir heute führen? Bringt es so große Veränderungen mit sicht? Das ist eine verbreitete Behauptung, sonst nichts. Bei genauer Betrachtung ist das BGE nur eine konsequente Fortentwicklung des Sozialstaats, damit er endlich auf dem Fundament ruht, das heute schon für die Demokratie selbstverständlich ist: mündigen Bürgern, die ihre Leben leben, Verantwortung wahrnehmen und darum ringen, vernünftige Entscheidungen in ihrem Sinne und im Sinne des Gemeinwesens zu treffen. Würde das BGE daran etwas ändern? Nein. Es würde allerdings deutlicher werden lassen, wo überall diese Aufgaben liegen und wie unterschiedlich sie sind. Wenn also all das für ein BGE als Voraussetzung gilt, was heute schon der Fall ist, dann ist der Schritt eben nicht so groß, wie er scheint.
Hüther sieht das selbstverständlich anders, er schreibt dann:
„Unsere heutige Gesellschaft beruht auf der Maxime der Leistungsgerechtigkeit und der Fairness. Man kann sich durchaus andere Gesellschaftsformen vorstellen, die Besteuerung von Leistungseinkommen für leistungslose Einkommen ist jedoch keine davon. Zwar ist ein inhärenter Reformdruck auf den Sozialstaat zu spüren, und ein Grundeinkommen würde wohl der zunehmenden Bürokratisierung Rechnung tragen, die aus einer immer tiefergehenden Ausdifferenzierung der Arbeitswelt herrührt.“
Leistungsgerechtigkeit? Welche ist gemeint? Die Leistung der Familien, der Ehrenamtlichen? Selbstverständlich nicht. Hüther kennt nur eine Form des Leistungsträgers: den Erwerbstätigen. Wieviele Stunden pro Jahre wenden wir – um das in Erinnerung zu rufen – für nicht bezahlte Arbeit auf? Ach so, ja, 35% mehr Zeit für unbezahlte als für bezahlte Arbeit (siehe Statistisches Bundesamt). Wird diese Leistung denn in irgendeiner Form ernsthaft berücksichtigt und als gleichwertig erachtet? Nein. Ist das Leistungsgerechtigkeit? Wenn man es entsprechend hinbiegt und das reale Leben nicht beachtet.
Was ist nun riskant, das BGE oder der heutige Zustand? Mir scheint, es ist der heutige Zustand, der Leistung missachtet und so tut, als sei unbezahlte Arbeit einfach so da und selbstverständlich. Die Verschiebung, die statistisch beobachtbar ist, von unbezahlter zu bezahlter Arbeit macht allerdings deutlich, dass das eine auf Kosten des anderen geschieht. Wieviele Eltern – tatsächlich sind es zwar Mütter, es wäre wünschenswert, wenn es genauso Väter wären – sind denn heute bis zum Eintritt in den Kindergarten zuhause und konzentrieren sich auf die Bedürnisse der Familie? Und wieviele sind es danach? Ein Blick in die Betreuungsquote gibt Einblick darein? Wollen wir diese Degradierung von Familie und anderer unbezahlter Arbeit noch weiter treiben? Und die Folgen tragen?
Das BGE, im Unterschied zu heutigen Leistungen, würde es freistellen, wie Eltern dazu stehen. Erst dann könnten diese sich aber auch unbedrängt auf die Aufgabe einlassen, die Elternschaft darstellt. Dann würden wir sehen, wie sie ihre Prioritäten setzen. Heute drängen wir sie durch den normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit in eine Richtung: Erwerbstätigkeit. Was dies mit dem Solidarzusammenhang unseres Gemeinwesens anstellt, können wir erahnen.
Sascha Liebermann
„Was macht Gratis-Geld mit der Arbeitswelt?“…
…fragt Perspective Daily, veröffentlicht einen informativen Text zum Bedingungslosen Grundeinkommen und übersieht dabei doch wichtige Bereiche, auf die ein BGE sich auswirken würde: Demokratie, Familie, Bildungsprozesse. Der Titel bildet diesen Mangel treffend ab.
Überschätzt wird, was Feldexperimente oder Simulationsmodelle leisten können. Dass sie öffentliche Wirkung entfalten und Aufmerksamkeit auf das BGE lenken, steht auf einem anderen Blatt.
Kindergrundsicherung gegen Grundeinkommen oder: Kinder absichern ohne Eltern
vorwärts hat in diesem Jahr schon einige Beiträge über das Grundeinkommen veröffentlicht. Nun meldet sich dort Alexander Nöhring, Geschäftsführer des Zukunftsforum Familie, ein familienpolitischer Fachverband der Arbeitwohlfahrt, mit dem Beitrag „Die Kindergrundsicherung ist besser als ein Grundeinkommen für alle“, zu Wort. Er war unter anderen als Experte in der Anhörung im Landtag von Nordrhein Westfalen zu Kindergrundsicherung und Bedingungslosem Grundeinkommen geladen, von der wir berichtet haben (hier, zu den Expertenstellungnahmen geht es hier).
Es entbehrt nicht der Ironie, dass ein Verein wie das Zukunftsforum Familie, der sich als Vertreter von Familieninteressen versteht, vorwiegend für Erwerbsbeteiligung argumentiert, statt dafür, Eltern mehr Freiraum dafür zu verschaffen, sich der Aufgabe Elternschaft stellen zu können.
Im Beitrag heißt es ziemlich zu Beginn:
„Als ZFF sehen wir die Gefahr, dass die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) Anstrengungen zu einer sozial gerechten Arbeitsmarktpolitik, wie beispielsweise tarifvertraglichen Errungenschaften, entgegensteht. Bei den Befürworter*innen des Grundeinkommens ist auch der gesetzliche Mindestlohn umstritten. Das ZFF hingegen ist der Überzeugung, dass die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden dürfen, für existenzsichernde und rentenfeste Löhne zu sorgen und die Realisierung von Bedingungen guter Arbeit zu erreichen, wie beispielsweise Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Lohngerechtigkeit, Work-Life-Balance und Gesundheitsmanagement.“
Eine Gefahr kann man in allen Vorschlägen erkennen, deren Auswirkungen nicht genau zu bestimmen sind, will sagen, die zwar Möglichkeiten schaffen, aber nicht garantieren, dass diese Möglichkeiten auch ergriffen werden. Dann müsste so ziemlich alles abgelehnt werden, das vom Bestehenden wegführt. Möglichkeiten haben es jedoch so an sich, dass sie auch nicht genutzt werden können und es ist gerade die Demokratie, die auf das selbstbestimmte Ergreifen bzw. Nicht-Ergreifen von Möglichkeiten setzt, statt das Ergreifen derselben vorzuschreiben. Statt abstrakt über Gefahren zu sprechen wäre doch auszuloten, welche Möglichkeiten ein BGE denn nun schüfe im Vergleich zum bestehenden Sozialstaat. Das geschieht in dem Beitrag jedoch nicht, sonst würde der Autor sich klar machen, weshalb ein ausreichend hohes BGE einen Mindestlohn (siehe auch hier) nicht mehr erforderlich macht, ein zu niedriges hingegen ihn womöglich notwendig machte.
Was die Arbeitgeber nicht alles leisten sollen. Die Frage wäre doch, ob es ihre Aufgabe ist und sein kann, ob sie dies Verantwortung überhaupt tragen können, all das zu leisten, was der Autor erwartet. Oder ob nicht vielmehr dies alles leichter erreichbar wäre, wenn die Arbeitnehmer über die entsprechende Verhandlungsmacht verfügten, dann könnten sie für vieles selbst streiten. Wo das nicht ausreicht, könnte über allgemeine Regelungen immer noch nachgedacht werden. Verhandlungsmacht wird es aber erst dann in jeder Lebenslage geben, wenn der eigene Lebensunterhalt unabhängig von einem Erwerbsverhältnis gesichtert ist. Genau das leistet ein BGE, eine Kindergrundsicherung hingegen nicht. Für die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf sei hier auf meinen älteren Beitrag verwiesen.
Weiter heißt es:
„Darüber hinaus erkennt das ZFF in einem BGE einen Widerspruch zum Ziel der Geschlechtergerechtigkeit: Es stünde dem feministischen Ideal einer eigenständigen Erwerbstätigkeit als emanzipatorische Praxis gegenüber. Zudem könnte es dazu führen, die aktuelle „Care-Krise“ zu verschärfen, anstatt sie zu mildern: Gut bezahlte (männliche) außerhäusliche Erwerbsarbeit stünde einer (weiblichen) privaten Fürsorgetätigkeit gegenüber, die durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zwar abgesichert, aber nicht ebenso gut entgolten wäre.“
Wer Emanzipation als Fortschritt hin zur weiteren Befestigung eines Arbeitsbegriffes versteht, in dessen Zentrum Erwerbstätigkeit steht – dann muss das so gedacht werden wie in dem Beitrag. Wenn Emanzipation aber Selbstbestimmung in Gemeinschaft, Freiraum zum Ergreifen von Möglichkeiten in alle Richtungen des Tätigseins heißt, dann geht das nicht ohne BGE. Nöhring bemerkt nicht, dass eine weitere Ausdehnung von Erwerbstätigkeit ihren normativen Vorrang weiter bekräftigt und gerade Fürsorgeeaufgaben in der Familie und darüber hinaus weiter herabsetzt.
Zu betonen, dass „eigenständige Erwerbstätigkeit“ emanzipatorisch sei, heißt letztlich, die Familie als Schonraum für Intimität und Nähe aufzugeben, denn, wer vollerwerbstätig ist, kann nicht mit den Kindern zuhause sein. Als sei es nicht schon länger ein Missstand, wenn Eltern – faktisch meist Väter – so wenig zuhause präsent sind, weil Vollerwerbstätigkeit dies eben nicht erlaubt. Nun soll dieser Missstand noch auf Mütter ausgehnt werden, damit wenigstens beide nicht da sein können. Worin besteht da der Fortschritt? Es ist ein Fortschritt, der den Schonraum Familie zerstört und an ihrer Statt die Zeit, die Kinder in Betreuungseinrichtungen verbringen sollen, weiter erhöht. Statt eine Sozialpolitik fortzuführen, die genau dahin strebt, würde ein BGE Freiräume öffnen, es würde gerade Eltern signalisieren, dass sie dazu ihre Haltung finden sollen, ohne ein bestimmtes Ziel anstreben zu sollen, heute die Rückkehr in Erwerbstätigkeit. In dem Moment, da Eltern unabhängig von Erwerbseinkommen dies entscheiden könnten, stellt sich nicht mehr die Frage, wer besser verdient – die heute manchmal bittere Realität, manchmal eine Ausrede und manchmal Ausdruck einer bewussten Entscheidung ist. Soll denn verwehrt werden, sich für das Zuhausebleiben zu entscheiden, ganz gleich, ob das „gleich“ oder „ungleich“ verteilt wäre? Wo keiner mehr muss, zeigt sich die Verantwortung für Fürsorge um so stärker – Ausreden wie heute – Erwerbstätigkeit – gibt es dann nicht mehr.
Aufklärung über den Emanzipationsbegriff folgt auf den Fuß:
„Für das ZFF steht die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums durch eigenständige Erwerbsarbeit an erster Stelle. Diese sorgt nicht nur für gesellschaftliche Wertschöpfung, sondern kann gleichfalls die Emanzipation von wirtschaftlicher Abhängigkeit unterstützen. Darauf hat u.a. auch Christoph Butterwegge in seinem Beitrag zu dieser vorwärts-Debatte hingewiesen.“
Es setzt sich fort, was wir schon diagnostizieren konnten: Individualistisch ganz im Sinne des erfolgreichen Marktakteurs argumentiert Nöhring hier. Das ZFF setzt sich – so kann man daran erkennen – nicht für Familie ein, sondern dafür, Familie der Erwerbstätigkeit und individualistischer Selbstversorgung nachzuordnen. Aus dem Blick gerät dabei, was Familie wie jede andere Lebensgemeinschaft auszeichnet, dass es keine, einzelnen Personen zuzuordnende Einkommen geben kann, sondern alle Einkommen immer Familieneinkommen sind, sonst ist es keine Lebensgemeinschaft. Das Gemeinschaftliche im Leben besteht bei Familie und Paarbeziehungen gerade darin, dass das Leben ein gemeinsames und kein separates ist. Wer Emanzipation daran festmacht, über eine unabhängige Einkommensquelle zu verfügen, hebt das gemeinschaftliche Leben gerade auf (siehe auch hier), reißt es auseinander. Dass unser Sozialstaat heute auf diese Eigenheiten nur ungenügende Antworten bietet, wie z. B. die lächerliche Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, steht auf einem anderen Blatt. Das BGE würde genau diesbezüglich eine große Verbesserung darstellen, aber nicht gegen, sondern mit Gemeinschaft. Es würde nicht weiter die Illusion nähren, dass Einkommen Individualverdienst seien und statt dessen deutlich machen, wie sehr hinter jedem Einkommen Gemeinschaftsleistungen stehen.
Indem Nöhring den Beitrag zur gesellschaftlichen Wertschöpfung herausstellt, der durch Erwerbsarbeit erfolge, degradiert er die Leistungen von Familie zum Privatvergnügen – für einen solchen Verein, der Familieninteressen zu vertreten behauptet, erstaunlich. Wie soll Familie da eine Zukunft haben?
„Der Satz „Dem Staat und der Gesellschaft sollte jedes Kind gleichviel wert sein“ gewinnt hier eine besondere Bedeutung: Als ZFF meinen wir, dass dies nicht bedeutet, dass auch alle gleichviel ausbezahlt bekommen müssen. Es muss aber sichergestellt sein, dass alle Kinder auch tatsächlich ein Existenzminimum erhalten, welches zum Leben ausreicht und die soziokulturelle Teilhabe ermöglicht. Und um es deutlich zu sagen: Die derzeitigen Kinderregelsätze im SGB II/XII sind hierfür zu gering!“
Ganz konsequent der Linie einer individualistischen Vorstellung folgend wird für eine Kindergrundsicherung argumentiert, ohne nur ins Auge zu fassen, dass Kinder viel Zeit mit ihren Eltern – und anderen für sie wichtigen Personen – für ihr Wohlergehen benötigen. Dazu leistet eine Kindergrundsicherung keinen Beitrag, sie nährt nur die Ilusion, das Kindeswohl könne ohne die Eltern betrachtet werden:
„Das Konzept der Kindergrundsicherung könnte genau dies leisten. Im Rahmen des Bündnisses Kindergrundsicherung streiten wir deshalb zusammen mit vielen weiteren namhaften Verbänden (u.a. Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Kinderschutzbund, Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, pro familia Bundesverband, Naturfreunde Deutschland, Verband berufstätiger Mütter) und Wissenschaftler*innen für dessen Realisierung.“
Wer für mehr Erwerbstätigkeit der Eltern streitet, weil sie zu „gesellschaftlicher Wertschöpfung“ beitrage, hat eine Vorstellung vom Wohlergehen von Kindern, ohne an Eltern zu denken, ohne daran zu denken, dass gemeinsame Erfahrungen Zeit benötigen. Das Zusammenleben wird darauf reduziert, zur Wertschöpfung beizutragen, ohne dass die anderen Beiträge zum Fortbestehen des Gemeinwesens durch sozialisatorische Leistungen von Familien oder das Engagment der Bürger überhaupt erwähnt wird. Manche würden womöglich die Haltung, die hier gegenüber Familie an den Tag gelegt wird, als „neoliberal“ bezeichnen.
Sascha Liebermann
„Kinder sollen sich auch langweilen…Frühförderung heisst auch Freiraum, Freizeit, Freiheit“…
…ein interessantes Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag über die Bedeutung des Spiels für Bildungsprozesse, Zeit mit den Eltern und Freiräume für unbeaufsichtigtes Erkunden der Lebenswelt. Wie stark die von Margrit Stamm vertretene Haltung der aktuellen Sozialpolitik entgegensteht, lässt sich am Achten Familienbericht ersehen:
„…Notwendig ist ein bedarfsgerechter Ausbau an qualitativ hochwertigen Betreuungsplätzen in Kindertageseinrichtungen und in der Tagespflege, der den Bedürfnissen der Kinder und Eltern entspricht und mit der lokalen Infrastruktur vernetzt ist. Erst wenn für alle Kinder Ganztagsbetreuungsplätze in hervorragender Qualität vorhanden sind, haben Eltern tatsächlich eine Wahlmöglichkeit. Die zeitliche Flexibilität der Betreuungsangebote sollte sich nach den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Eltern ausrichten. Für lange Betreuungsbedarfe im ersten Lebensjahr oder abends und nachts eignet sich (ergänzend) eine Tagespflegefamilie, die dem Kind eine familienähnliche, vertraute Umgebung bietet, besser als eine Kindertageseinrichtung, in der Kleinkinder schicht- und fluktuationsbedingtem Personalwechsel ausgesetzt sind.“ (Achter Familienbericht, 2012: „Zeit für Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik“ – Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/9000, S. 137).
Von den Bedürfnissen von Kindern und Eltern zu sprechen ist in diesem Zusammenhang bloße Gleichheitsrhetorik, die die Bedürfnisse der Kinder schon vergessen hat. Sie artikulieren von sich aus bis weit in das vierte Lebensjahr hinein gar kein „Bedürfnis“, einen Kindergarten oder eine Kita zu besuchen (siehe auch „Wahlfreiheit, die sogenannte“). Es sind die Eltern, die diese Bedürfnisse äußern, unter anderem weil Erwerbstätigkeit im Allgemeinen als erheblich wichtiger erachtet wird, als Zeit für die Kinder zu haben.
Vielleicht sollte der Familienbericht in Anlehnung an dieses Zitat besser umbenannt werden in „Zeit für Erwerbsarbeit“, denn alle „Wahlmöglichkeit“, die es heute gibt, besteht auf eigenes Risiko (kaum Anerkennung in der Rentenversicherung). Gravierender noch ist die normative Degradierung von Haushaltstätigkeiten. Wer für Kinder zuhause bleibt, um ihnen einen Schonraum in vertrauter Umgebung zu gewähren, muss sehen, wo er bleibt. Nur ein Bedingungsloses Grundeinkommen weist hieraus einen Ausweg, der nicht wieder über die Individuen hinweggeht.
Sascha Liebermann
„Jobcenter kürzen Zehntausenden Familien Hartz-IV-Zahlungen“…
…meldet neues deutschland: „…Die staatlichen Zuwendungen für Arbeitslosengeld-II-Bezieher sind sehr knapp bemessen, das gilt für Bürger mit und ohne Kinder. Und wenn Hartz-IV-Empfänger ihre sogenannten Pflichten nicht erfüllen, werden sie mit Geldentzug bestraft. Auch das gilt für Menschen mit und ohne Kinder. Im vorigen Jahr gab es jeden Monat durchschnittlich rund 132 000 Hartz-IV-Bezieher, die mit Sanktionen belegt wurden. Etwa weil sie nicht zu einem Termin beim Jobcenter erschienen waren oder ein Arbeitsangebot abgelehnt hatten. Unter den Bestraften waren monatlich 42700 Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die mit Kindern in einem Haushalt lebten. Das zeigt eine Sonderauswertung von Daten der Bundesagentur für Arbeit für das Kooperationsprojekt »O-Ton Arbeitsmarkt«.“
Gegen Ende des Beitrags heißt es:
„…Stefan Sell hält die Sanktionspraxis der Jobcenter prinzipiell für fragwürdig. Bei der staatlichen Grundsicherung gehe es um ein Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums. »Wie kann das unterschritten oder gar vollständig entzogen werden?« Es werde Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht abschließend kläre, ob die Sanktionen zulässig sind, sagte Sell dem »nd«.“
In der Tat stellt sich die Frage, nach welchen Bedingungen unser Gemeinwesen das Existenzminimum bereitstellen will und ob die heutige Praxis angemessen ist. Aber zugleich muss man fragen, wie in einem Sicherungssystem, das sich auf den Vorrang von Erwerbstätigkeit vor allem anderen stützt, auf Sanktionen verzichtet werden soll? Sicher, der Gebrauch des Instruments lässt sich ändern, weniger restriktiv könnte er sein. Doch macht es den erwerbszentrierten Sozialstaat aus, sanktionieren zu können, das war auch vor der Agenda 2010 schon so. Die Forderung nach einer „repressionsfreien Grundsicherung“ ist entweder eine, die zum BGE führen soll, oder sie verbleibt im heutigen Gefüge. Dann ist sie politisch naiv, denn ohne Sanktionen, kein erwerbszentrierter Sozialstaat.
Sascha Liebermann
Und noch einmal: Wozu Zeit für Familie?
In der Sendung „Unter den Linden“ (Phoenix) ging es kürzlich um „Armut in Deutschland – Wer hat warum zu wenig?“. Ganz ähnlich wie in der Anhörung im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend des Landtags von Nordrhein-Westfalen ging es darum, was gegen Armut unternommen werden könne. Dabei fiel das Stichwort Kindergrundsicherung, die in der Anhörung ebenfalls eine große Rolle spielte. Ganz wie dort war derselbe Widerspruch auszumachen, dass, wenn über Familie und wie ihnen geholfen werden könnte, Vorschläge unterbreitet wurden, die Familien gerade nicht besonders helfen. Wer, wie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (diw), auf den Wunsch von alleinerziehenden Frauen hinweist, mehr als nur Teilzeit erwerbstätig sein zu wollen und damit die Forderung nach einem Ausbau von Kinderbetreuung verbindet, unterstützt vermeintlich diese Familien. Tatsächlich jedoch tut er das Gegenteil, denn mehr Erwerbstätigkeit heißt weniger Zeit für Familie. Gerade wo nur ein Elternteil vorhanden ist, würde deren Zeit für sein Kind bzw. seine Kinder noch mehr reduziert.
Siehe meinen Kommentar zur Anhörung über Kindergrundsicherung, bedingungsloses Grundeinkommen im Landtag von Nordrhein-Westfalen.
Sascha Liebermann
Schiefe Vergleiche und unausgesprochener Paternalismus – eine Anhörung im NRW Landtag zum Bedingungslosem Grundeinkommen
Am 30. Juni fand auf Antrag der Piratenpartei eine Experten-Anhörung im Hauptausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen zum Bedingungslosen Grundeinkommen statt. Nun steht das Protokoll (S. 5-25) der Anhörung online und erlaubt, Einblick in die Beiträge der Experten sowie in Antworten auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, nachzulesen. Wer mit der Diskussion zum BGE vertraut ist, wird wenig Neues darin entdecken, allerdings finden sich hier und da Differenzierungen, die in der öffentlichen Diskussion selten vorkommen.
Interessant ist die nachfolgende Passage aus einer Antwort von Dominik Enste (TH Köln/ Institut der deutschen Wirtschaft) auf eine Frage aus dem Ausschuss. Er bezieht sich hierbei auf Ausführungen von Ute Fischer (Fh Dortmund/ Freiheit statt Vollbeschäftigung) zur Bedeutung bedingungsloser Anerkennung in vergemeinschaftenden Lebenszusammenhängen. Was sagte er?
„Eine völlige Bedingungslosigkeit gibt es vielleicht in der Familie, manchmal noch bedingungslose Liebe – danach sehnen wir uns alle – und selbst die ist meistens nicht gegeben, denn die Eltern lieben ihr Kind vor allem dann, wenn es zurücklächelt. Insofern ist auch dort eine gewisse Reziprozität vorhanden. Und diese ist dann eben auch in der Form der Bedürftigkeit bei diesem Einkommen Voraussetzung.“ (Protokoll der Anhörung, S. 16)
Überraschend ist, wie Enste zwei Dinge zusammenführt, die nicht vergleichbar sind. Die Eltern-Kind-Beziehung, die er zum Vergleich wählt und von ihr aus die Bedürftigkeitsprüfung herleitet (Reziprozität), ist eine asymmetrische. Kinder sind von den Eltern in vielerlei Hinsicht abhängig, Eltern treffen Entscheidungen für die Kinder, solange diese noch nicht entscheidungsfähig sind. Das ist nun in keiner Form vergleichbar mit der Beziehung Erwachsener zueinander, die sich in ihrer Selbstbestimmung frei begegnen. In einem Gemeinwesen begegnen sie sich darüber hinaus noch als Angehörige qua Staatsbürgerschaft, dadurch sind sie Gleiche unter Gleichen. Diese Beziehung ist eben nicht asymmetrisch, sie ist symmetrisch. Von hier aus gelangt man eben nicht zur Begründung der Bedürftigkeitsprüfung, stattdessen eröffnet es den Weg zum BGE. Enste sucht sich zur Veranschaulichung dessen, dass er die Bedürftigkeitsprüfung für richtig hält (Werturteil) ein ungeeignetes Beispiel, das der Analyse nicht standhält. Dass dadurch der Erwerbstätigkeit eine vorrangige Wichtigkeit zugesprochen wird und andere Tätigkeiten unter den Tisch fallen, sieht er nicht oder will er nicht sehen. Genau darauf wies jedoch Ute Fischer hin.
Eine zynische Note erhält das Ganze, indem er – und das ist eine Unterstellung – behauptet, dass „meistens“ Eltern ihr Kind vor allem dann liebten, wenn es zurück lächele. Nehmen wir einmal an, dass dies so sei, was folgte daraus? Wir hätten es dann mit einem Phänomen zu tun, das für entsprechende sozialisatorische Folgen sorgte. Denn die für einen gelingenden Bildungsprozess unerlässliche bedingungslose Hinwendung zu den Kindern zeigt diesen gerade, dass sie, so wie sie sind, angenommen werden. Diese Hinwendung ist eine, die keine bestimmte Gegenleistung voraussetzt. Ein Kind macht dadurch die Erfahrung, dass es ganz gleich, was es tut, geliebt wird. Was nun passiert, wenn diese Bedingungslosigkeit nicht einschränkungslos gegeben ist, lässt sich leicht veranschaulichen. Kinder machen die Erfahrung, dass es nicht um sie als solche geht, sondern darum, sich wohlzuverhalten, elterlichen Erwartungen zu entsprechen, sich also anzupassen an das, was den Eltern gefällt, nicht aber ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Sollte eine solche Haltung der verbreitete Normalfall sein, müssten wir uns ernsthaft Sorgen machen. Dass sie vorkommt, steht außer Frage, ist aber gerade problematisch, weil sie die Herausbildung des Selbstvertrauens in die eigene Person als ganze beeinträchtigt (zur Lektüre dazu siehe z. B. hier). Wenn Enste das nun zum Regelfall erklärt, argumentiert er gerade gegen die Anerkennung der Person um ihrer selbst willen und erhebt einen Missstand zum Ideal. Das ist zynisch.
Was hatte denn Ute Fischer eigentlich gesagt, worauf Dominik Enste reagierte? Ute Fischer unterschied zwei Begriffe von Reziprozität, um deutlich zu machen, dass die verbreitete Rede von Reziprozität als Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verkürzt sei:
„Wir haben das Prinzip des Äquivalententausches. Das ist die zweckgerichtete Leistung für die Ökonomie, für den Arbeitsmarkt – da verwenden wir Leistung und Gegenleistung als Äquivalent. Es gibt aber daneben den Bereich der sittlichen Reziprozität, der zweckfreien Gegenseitigkeit. Das verwenden wir immer da, wo wir als ganze Menschen eingebunden sind – in Familien und im politischen Gemeinwesen. Es sind zwei verschiedene Arten, Gegenseitigkeit zu verstehen. Für den ökonomischen Bereich ist der Äquivalententausch genau richtig: Leistung auf Gegenleistung. Für den anderen Bereich – und wir reden hier über das Sozialsystem, das ist der Bereich der politischen Vergemeinschaftung – ist die Gegenseitigkeit als zweckfreie Kooperation entscheidend.“ (S. 10)
Es gibt ein Verständnis von Reziprozität, das seinen Ort dort hat, wo Leistung bzw. -svermögen getauscht wird, z. B. am Güter- und Arbeitsmarkt. Diese Austauschlogik ist mit zweckgerichteter Reziprozität gut umschrieben, weil auch die Leistungsersteller in Gestalt von Mitarbeitern nicht um ihrer selbst willen eingestellt werden, sondern weil sie einem Zweck dienen sollen. Sie übernehmen eine Aufgabe oder Rolle. Deswegen sind sie ja auch austauschbar, ohne dass der Zweck, dem sie dienen sollen, darunter leiden würde. Es macht diese Tauschform aus, dass es nicht um die Person um ihrer selbst willen geht. Um die Person um ihrer selbst willen geht es woanders, und zwar gilt dort ein Verständnis von Reziprozität im Sinne eines zweckfreien Tauschs. Nicht Leistung wird dort getauscht, Personen als ganze tauschen sich miteinander aus und erkennen sich darin um ihrer selbst willen an. Deswegen ist es auch unangemessen, dies als Rolle zu bezeichnen, vielmehr sind es Positionen, die an Personen hängen, z. B. Vater, Mutter, Staatsbürger. Dieser zweckfreie Tausch, anders als häufig dargestellt, ist die Basis dafür, dass der zweckgerichtete verlässlich möglich ist. Normbindung, Bindung an Regeln und damit auch Verträge wird durch die Erfahrung des zweckfreien Tauschs als Grundlage von Bildungsprozessen erst ermöglicht. Die zweckfreie Reziprozität vollzieht sich in zwei Gemeinschaftsformen: in Familie bzw. familienähnlichen Sozialgebilde und in Gemeinwesen. In der Familie ist es die bedingungslose Anerkennung des Gegenübers als Angehöriger eines Verwandtschaftsgebildes (Gatte-Gattin, Eltern-Kind), im Gemeinwesen ist es die bedingungslose Anerkennung der Bürger als Legitimationsquelle politischer Ordnung (GG Art 20, (2)).
In der Diskussion um das BGE wird diese Differenzierung selten vorgenommen, sie ist jedoch wichtig, um zu verstehen, dass ein Gemeinwesen auf anderen Grundlagen steht als ein Erwerbsverhältnis. Solange das nicht genügend auseinandergehalten wird, scheint nicht nur das BGE eine Angelegenheit von einem anderen Stern zu sein, unser Verhältnis zu uns selbst als Bürger eines Gemeinwesens, die die Basis von allem sind, bleibt ebenso verstellt. Wir übersehen uns selbst, könnte man auch sagen. Wie soll es da Veränderungen geben können, die dazu führen, die Bedeutung der Bürger mehr zu achten?
Sascha Liebermann