„…meinen Bürgerstatus habe ich vor allem dadurch erworben, dass ich unabhängig bin…“

In diesem Gespräch, auf das ich in den vergangenen Tagen wiederholt hingewiesen habe, und anderen Ausführungen Gerhard Boschs wird deutlich, wie unterschiedlich die Einschätzungen zu unseren Lebensverhältnissen sein können und welche Schlüsse man daraus ziehen kann. Aber sie sind nicht nur unterschiedlich, wie gleich zu Beginn des verlinkten Gesprächs deutlich wird. Deswegen habe ich diese Passage weitgehend wörtlich verschriftet. Gerhard Bosch sagt auf die Eingangsfrage des Moderators:

„Ich möchte kein Transferempfänger sein, ich möchte meinen Lebensunterhalt selber verdienen, ich möchte dafür befähigt werden durch eine gute Erziehung und durch ne gute und interessante Arbeit und möchte mich dafür auch anstrengen […] ich bin dann auch unabhängig, ein Bedingungsloses Grundeinkommen wird immer davon abhängen, welche Regierung wir haben, es kann gekürzt werden, es kann erhöht werden, es ist keine Garantie für mich, ich bin ein abhängiger Mensch und ein Bürger, meinen Bürgerstatus habe ich erworben vor allem dadurch, dass ich unabhängig bin, ich bin natürlich für ein Grundeinkommen für diejenigen, die kein Geld haben…“

Boschs Antwort erinnert in gewisser Hinsicht an eine Äußerung Andrea Nahles‘ vor einigen Jahren, als sie noch Bundesministerin war. Warum möchte er „kein Transferempfänger sein“ und was meint er genau damit? Deutlich wird der Kontrast, den er setzt zwischen der Situation, Transferempfänger zu sein, also Geld von anderen zu erhalten, und den „Lebensunterhalt selber verdienen“. Was wie eine klare Unterscheidung erscheint, ist so klar nicht, denn ein Leben in Gemeinwesen ist gar nicht möglich, ohne Leistungen des Gemeinwesens in Anspruch nehmen zu müssen, die nicht selbst erbracht werden können. Sogar die Erzielung von Einkommen über Erwerbstätigkeit setzt noch denjenigen voraus, der die Leistungsbereitschaft Boschs in Anspruch nimmt, was wiederum nur möglich ist, wenn es Kunden gibt, die Produkte dieses Anbieters kaufen usw. Darüber hinaus bedarf es der Kollegen, mit denen zusammengearbeitet wird usw. – das scheint alles trivial zu sein, relativiert doch allerdings ziemlich die Bedeutung davon, Geld selbst zu verdienen. Wenn nun Bosch all das andere nicht bestreiten würde und ihm klar ist, dass sich diese vielfältigen Abhängigkeiten von anderen nicht umgehen lassen, ja, sie zum Leben dazugehören, weshalb betont er dann das Geldverdienen derart? Wie man es dreht und wendet, wird sein Stellenwert überhöht, wenn es so betont wird. Durch diese Überhöhung hindurch scheint eine Vorstellung von Unabhängigkeit, die es nicht geben kann, die abstrahiert von all den Abhängigkeiten, die zum Leben dazugehören, das ist das interessante und aufschlussreiche an der Passage.

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„Verborgene Agenda“, „einschmeichelnde Rhetorik“, „süßes Gift“: Wer Sachlichkeit fordert…

Vor wenige Tagen habe ich auf ein Streitgespräch mit Gerhard Bosch über das Bedingungslose Grundeinkommen (siehe meinen Kommentar hier) hingewiesen, in dem deutlich wird, wie unterschiedlich auf die dieselbe Realität geblickt werden kann. In einem IAQ-Standpunkt aus dem Jahr 2018 hat Bosch seine Einwände etwas ausgearbeitet (siehe meinen früheren Kommentar hier). In der Auseinandersetzung darin bezieht er sich auf zwei Quellen, das Buch von Van Parijs und Vanderborght „Basic Income. A Radical Proposal“ sowie auf Beiträge Götz W. Werners (z. B. Einkommen für alle in der Fassung von 2007, die Fassung von 2018 ist ein vollständig anderes Buch, obwohl sie den gleichen Titel hat). Bosch hebt in seinem Beitrag zu einer grundständigen Auseinandersetzung an, betrachtet einige Überlegungen zum BGE aber doch klar von seiner bevorzugten Position, worin die Annahmen zu erkennen sind, von denen er ausgeht. Er geht dabei auch auf schwierige bis wenig haltbare Argumente für ein BGE ein, so z. B. die von einigen Befürwortern prognostizierten Folgen der Digitalisierung, weist sie allerdings ebenfalls mit einer Prognose zurück (siehe meine Kommentare zu dieser These hier, hier und hier). Hier müsste zumindest die Frage gestellt werden, ob und inwiefern offensiver automatisiert werden würde, wenn der Stellenwert von Arbeitsplätzen nicht moralisch so aufgeladen wäre und dies als Rationalisierungshindernis wirkte. Diese Frage stellt Bosch nicht einmal.

Auf S. 3 des IAQ-Standpunktes schreibt er folgendes:

„Gleichzeitig könne man den Wohlfahrtsstaat mit all seinen komplexen Strukturen und Verfahrensweisen ersetzen. Man bräuchte ja die Sozialbudgets, um das BGE zu finanzieren.“

Am Ende dieses Absatzes, aus dem das Zitat stammt, verweist er pauschal auf Van Parijs/ Vanderborght, ohne eine Seitenzahl anzugeben, so dass es den Eindruck erweckt, beide sprächen sich für eine Abschaffung aus. Im Buch der beiden steht auf S. 12:

„Our claim is that, under twenty-first-century conditions, there is a fundamental difference between an unconditional basic income as we have characterized it and public assistance as exemplified by existing conditional minimum-income schemes. Both are relevant to the alleviation of poverty, but an unconditional basic income means far more.“

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„Mehr als ein sperriges Wort – das bedingungslose Grundeinkommen“…

…ein Podcast in HR 2 Der Tag. Darin werden verschiedene Kurzinterviews geführt, u. a. auch mit Marcel Fratzscher, der ja bislang gegen ein BGE war, mit Gerhard Bosch (er hält nichts von einem BGE, siehe auch hier; Bosch macht wieder die Bruttokostenrechnung, „Geld verteilen an Leute, die es gar nicht brauchen“ – erwähnt nicht einmal den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, „Freibier für alle“); Peter Altmaier meint, die Menschen ermuntern zu müssen; Christian Lindner hält ein BGE für eine Stilllegungsprämie; Stefan Sell hat Sympathien für ein BGE, sieht aber auch die Herausforderungen des Umbaus angesichts eines differenzierten Sozialstaats, die alten Systeme könnten nicht von heute auf morgen auf Null gestellt werden, er sieht einen etwaigen „Zuwanderungsdruck“. Bedenkenswerte Einwände, keineswegs neu und dennoch auch in vielerlei Hinsicht keine, die mit einem BGE erst relevant wären, sie sind es schon heute.

Da auch in jüngerer Zeit immer wieder einmal das Attribut bedingungslos missverstanden wird, manche versuchen mit der Unterscheidung bedingungs- vs. voraussetzungslos eine Klärung zu erreichen, das scheint mir auch nicht auszureichen. Deswegen hier und hier zwei Erläuterungen, worauf sich in der deutschen Diskussion von Anbeginn das Attribut bezog.

Sascha Liebermann

„Kann ein bedingungsloses Grundeinkommen vor den Unsicherheiten des Arbeitsmarktes schützen?“ – Undifferenziertes aus dem Institut für Arbeit und Qualifikation

So wirkt ein Beitrag von Gerhard Bosch, Universität Duisburg-Essen, in einer Veröffentlichung des Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ). Frühere Kommentare von meiner Seite zu Ausführungen Gerhard Boschs finden Sie hier. Liest man die Kurzfassung des Beitrags hat man den Eindruck, dass es sich um eine ziemlich undifferenzierte Auseinandersetzung – wenn man es überhaupt so nennen kann – handeln muss. Das lässt auch das Fazit des Beitrags auf S. 13. erkennen:

„Ein BGE ist daher keine angemessene Antwort auf künftige Beschäftigungs- und Einkommensunsicherheiten. Es wird mit „Alternativen Fakten“ gerechtfertigt, wie den widerlegten Aussagen zum Ende der Arbeit oder den negativen Auswirkungen von Arbeitsmarktregulierungen und Wohlfahrstaaten auf die Beschäftigung.“

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„Utopie oder Irrweg? Bedingungsloses Grundeinkommen“ in der Zeitschrift „Pro Alter“

Die Zeitschrift „Pro Alter“ des Kuratoriums Deutsche Altershilfe befasst sich in der aktuellen Ausgabe 3/16 mit dem Titel „Arm. Alt. Ausgegrenzt? Altersarmut und das Recht auf Teilhabe“ auch mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen. Pro: Sascha Liebermann, Contra: Gerhard Bosch.

„Ohne Arbeit läuft gar nichts“…

…schrieb Werner Enz schon im März in der Neuen Zürcher Zeitung als Kommentar zur Eidgenössischen Volksinitiative „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“. Dieser Beitrag ist insofern bemerkenswert, als er nicht nur die Argumente der Intitianten für das BGE verzerrt wiedergibt und Dinge unterstellt. Er bezeugt auf besonders deutliche Weise das Missverhältnis zwischen der Deutung der Lebensverhältnisse in der Schweiz und ihrer realen Ausgestaltung. Denn die Schweizer Demokratie mit ihren direktdemokratischen Verfahren bringt ausgesprochen viel Vertrauen in die praktische Vernunft der Bürger zum Ausdruck.

Wenn Enz der Volksinitiative vorwirft, dass ihr Vorschlag zur „Sinnentleerung“ von Arbeit führe, dann ist es im Grunde der Autor selbst, der ein sinnentleertes Verständnis von Arbeit äußert:

„Die grosse Mehrheit arbeitet nicht nur zum Zeitvertreib, sondern um die Familie über die Runden zu bringen und anderen nicht zur Last zu fallen.“

Arbeit „nicht nur“, aber vorwiegend als Zeitvertreib zu betrachten, ist so ziemlich die am wenigsten sachhaltigste Haltung zu Arbeit, die man sich vorstellen kann. Auch „anderen nicht zur Last zu fallen“ ist keine Motivierung, die etwas mit dem Inhalt von Arbeit zu tun hat. Sie hängt der Illusion an, jemand könne für sich selbst ganz alleine sorgen, würde also niemandem zur Last fallen, obwohl doch in allen Gemeinwesen gilt: alle sind von allen abhängig, alle fallen allen zur Last – und zwar notwendigerweise. Ganz ähnlich wie Enz hatte sich im März im WDR-Funkhausgespräch Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen geäußert, der das BGE mit der Begründung ablehnte, er wolle kein „Transferempfänger“ sein, als sei das der Inbegriff einer unwürdigen Existenz. Dabei macht dieser Status nur auf besondere Weise deutlich, wie groß die Abhängigkeit des Einzelnen in einem solidarischen Vergemeinschaftungszusammenhang ist.

Sascha Liebermann

„Sterntaler für alle – ohne Arbeit? Grundeinkommen als Wundermittel“ – WDR-Funkhausgespräch

Am 17. März, von 20.05-21 Uhr, werden im WDR-Funkhausgespräch Sascha Liebermann und Gerhard Bosch, Professor an der Universität Duisburg-Essen, über das Bedingungslose Grundeinkommen diskutieren. Der Podcast wird dann hier bereitgestellt.

Siehe auch frühere Kommentare von Sascha Liebermann zu Ausführungen von Gerhard Bosch über das Grundeinkommen hier und hier.

„Warum nicht mal 30 Stunden?“…

…fragt ein Beitrag im Magazin Mitbestimmung der Hans-Böckler-Stiftung. Der Titel ist einem Interview mit dem „Arbeitszeitforscher“ Gerhard Bosch entnommen, der sich einst schon zum Bedingungslosen Grundeinkommen geäußert hat („Das Menschenbild des Grundeinkommens „ist nicht wünschenswert““)

Im Interview geht es vor allem um kürzere Arbeitszeiten im Vergleich zu einer heutigen Vollzeitstelle und um Auszeiten wie Sabbaticals. Wenige Stellen seien hier kommentiert:
 „…Wir haben eine starke Standardisierung, die auf der Fünf-Tage-Woche basiert. Trotzdem wirken viele Leute gehetzt.
Die Standardisierung und den Wert des Wochenendes kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Eine Gesellschaft braucht solche Rhythmen. Bei Beschäftigten ohne geregelte Erholungspausen wächst der Wunsch, längere Auszeiten zu nehmen. Auszeiten sind inzwischen sogar unter Topmanagern hoffähig geworden. Der Wettbewerb setzt die Unternehmen jedoch unter einen enormen Druck, den sie an ihre Beschäftigten weiterreichen. Es gibt Unternehmen, die ausgelaugte IT-Spezialisten regelmäßig auswechseln. Die Experten verdienen sehr gut und scheiden frühzeitig aus. Aber das ist keine Lösung für alle. Ich plädiere eher für eine Entschleunigung auch durch Sabbaticals…“

Sabbaticals sind schon lange in der Diskussion, doch würden sie allenfalls Verschnaufpausen schaffen. Sie könnten sogar die Erwerbsorientierung noch weiter stärken, da weiterhin dem Zweck der Wiedergewinnung von Arbeitskraft eingebunden blieben und keine Perspektive unabhängig davon eröffneten. Sie wären eben von vornherein befristete Verschnaufpausen im Rahmen der Erwerbsorientierung.

„…Heute sind viel mehr Frauen erwerbstätig als früher. Doch arbeiten sie oft weniger, als sie es sich wünschen. Was sind die Ursachen?
Durch die fehlende Kinderbetreuung, die Abgabenfreiheit für Minijobs, die über den Ehepartner abgeleitete Krankenversicherung und das Ehegattensplitting arbeiten viele deutsche Frauen in Minijobs. Diese sind gegenüber sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit erheblich billiger. Für manche Tätigkeiten werden fast nur noch Minijobs angeboten, wodurch die Chancen auf einen Übergang in reguläre Arbeit sinken. Im Unterschied zu anderen Ländern wurde bei uns die durchschnittliche Arbeitszeit der Frauen dadurch – entgegen ihren ausdrücklichen Wünschen – immer kürzer…“

Hier wird deutlich, wie stark Bosch in Zusammenhängen der Erwerbsorientierung und im Modell nutzenorientierten Handelns denkt. Ob Frauen den Wunsch nach mehr Erwerbstätigkeit auch hätten, wenn es tatsächlich durch das Gemeinwesen anerkannt wäre, für Kinder zuhause zu bleiben – darüber sagt dies nichts. Inwiefern der Wunsch nach mehr Erwerbstätigkeit und der nach mehr Anerkennung durch Erwerbstätigkeit, daher rührt, dass die fürsorgliche Zuwendung zu Kindern nicht wertgeschätzt wird (siehe hier und hier), kann nur vermutet werden. Dass Ehegattensplitting hält niemanden davon ein, berufstätig zu sein, dem die Berufstätigkeit wichtig ist, der darin eine sinnvolle Betätigung erkennt.

„..Sie plädieren als Wissenschaftler seit 15 Jahren für eine neue Arbeitszeitordnung. Wie sollten die Arbeitszeiten zukünftig gestaltet werden?
Ich werbe für ein neues Normalarbeitsverhältnis, in dem je nach Lebenslage auch Phasen mit bezahlten und unbezahlten Unterbrechungen oder Teilzeitarbeit einen Platz haben. Die Art und Weise, wie wir heute arbeiten, entspricht nicht mehr den Lebensentwürfen vieler Beschäftigter. Wir wissen längst, dass viele Frauen in einer längeren Teilzeit arbeiten wollen und dass Männer weniger Überstunden machen wollen…“

Nun kann man sich dafür Arbeitszeitmodelle ausdenken und für sie streiten (sehr differenzierte Teilzeitformen, wie es sie in der Schweiz gibt), die Verhandlungsmöglichkeiten verbleiben innerhalb der Erwerbsorientierung. Bessere Verhandlungsmöglichkeiten hat nur, wer ausweichen kann oder dessen berufliches Profil knapp ist. Will man aber dem Einzelnen mehr Verhandlungsmöglichkeiten schaffen, die weit über Arbeitszeit hinausgehen, von denen diese nur ein Aspekt sind, dann bedarf es einer anderen Lösung, die eben nur ein Bedingungsloses Grundeinkommen bietet. Wäre es eingeführt, braucht über Arbeitszeitmodelle nicht mehr in dem Maße nachgedacht werden, weil sie sich aus den Verhandlungen ergeben, die dann wirklich souverän geführt werden können.

„..Männer sollen also weniger Erwerbsarbeit leisten und Frauen mehr? Was sind eigentlich die Vorteile?

Die Vorteile liegen in einer größeren betrieblichen Bindung der zunehmend gut qualifizierten Frauen und der kostengünstigen Flexibilität bei kurzer Vollzeit, da die Überstunden innerhalb der Regelarbeitszeit keine Zuschläge erfordern. Die Polarisierung zwischen langen Arbeitszeiten und marginaler Teilzeitarbeit könnte abgebaut werden. Eine egalitärere Stundenverteilung würde auch die Einkommensungleichheit verringern…“

Und was hieße das für Familien, für die Zuwendung zu den Kindern? Das wird aus folgender Passage deutlich

„…Sie plädieren aber nicht für eine große, allgemeine Arbeitszeitverkürzung?

Das ginge an den Wünschen der Menschen ebenso vorbei wie an den Verhältnissen in den Betrieben, die in einer globalen Konkurrenz stehen. Firmen sollten aber verstärkt lange Teilzeit – zwischen 20 und 28 Stunden – sowie kurze Vollzeit – zwischen 28 und 35 Stunden – anbieten. Wenn Frauen und Männer gleichermaßen erwerbstätig sind, sich Erziehungs- und Pflegeaufgaben teilen, muss die Arbeitswelt flexibler werden. Wir brauchen ein neues, flexibles Normalarbeitsverhältnis mit der traditionellen Schutzfunktion, die ein unbefristeter Arbeitsvertrag bietet, aber erweitert um Optionen für eine selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung im Erwerbsverlauf. 2002 haben wir „längere Teilzeit“ und „kurze Vollzeit“ als neue Arbeitszeitnormen vorgeschlagen. Jetzt sind diese Begriffe endlich in der politischen Diskussion angekommen…“

Also, doppelte Erwerbstätigkeit, was, selbst bei reduzierten Arbeitsstunden in Vollzeit nicht nur zu höherem Koordinationsbedarf zwischen den Eltern, also mehr Alltagsplanung, führt, sondern auch zu doppelten Verpflichtungen. Denn beide Eltern müssen die Verantwortung gegenüber den Kindern und dem Familienleben auf der einen und die Verpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber auf der anderen Seite unter einen Hut bekommen. Was gemeinhin als Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefeiert wird, ist, dem Titel eines im letzten Jahr erschienen Buches folgend, die „Alles ist möglich-Lüge“. Das Leben lässt sich nicht einfach organisieren, je kleiner die Kinder sind, desto weniger. Darüber hinaus würde die von Bosch vorgeschlagene Flexibilisierung nicht aus der Vorrangstellung von Erwerbsätigkeit hinausführen, würde andere Tätigkeiten weiterhin dahinter eingeordnet lassen.

Wohin das führt, sehen wir hier:

„…Das hört sich alles gut an. Aber wer kann es sich schon leisten, längere Zeit nur 30 Stunden zu arbeiten?
Wenn in einer Paarbeziehung beide 30 Stunden arbeiten, ist das Einkommen nicht niedriger als mit einem Alleinverdiener. Aber es stimmt: Bei einem zu geringen Haushaltseinkommen scheitert das Modell. In Ländern wie den USA, in denen Einkommen sehr ungleich verteilt sind, versuchen die Geringverdiener, ihren Lebensstandard durch einen zweiten Job oder Überstunden zu sichern. Bei zunehmender Einkommensungleichheit laufen alle Vorschläge zu einer auch nur vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit ins Leere…“

30 Stunden in einer Fünf-Tage-Woche sind immer noch sechs Stunden pro Werktag (in einer Vier-Tage-Woche wäre es siebeneinhalb Stunden, beinahe wie bisherige Vollzeit), hinzukommen noch An- und Abfahrt, die je nach dem eine weitere Stunde betragen können. Dann wären es also sieben Stunden am Tag. Damit einhergehen müssten längere Betreuungszeiten für Kinder im Kindergarten (Arbeitszeit der Eltern plus Bring- und Abholzeit), da beide Eltern berufstätig sind und nur dann, wenn Schicht gearbeitet würde, einer die Kinder abholen könnte. Boschs Vorschlag würde – für den Vollzeiterwerbstätigkeit aus der gegenwärtigen Entwicklung hin zu längeren Betreuungszeiten nicht hinausführen. Darüber hinaus würde durch den Vorrang von Erwerbstätigkeit die damit einhergehende Abwertung von Familien nicht aufgehoben.

Und in der folgenden Passage wird das Lenkungsdenken allzudeutlich, Stichwort „Anreize“:

„…Gibt es dafür eine ausreichende Infrastuktur?
Das Angebot an Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen mit zuverlässigen ganztägigen Öffnungszeiten muss weiter verbessert werden, sodass Eltern auch tatsächliche Arbeitszeitoptionen erhalten. Die gegenwärtigen Versuche der Politik, ein neues Familienmodell zu fördern, sind inkonsequent, da der Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschulen durch gegenteilige Anreize im Steuer-, Sozial- und Arbeitsrecht konterkariert wird…“

Das Leben operiert nicht in Reiz-Reaktions-Abläufen.

„…Sie fordern Wahlarbeitszeiten für Beschäftigte, was neben dem Recht auf Teilzeit auch das Rückkehrrecht auf die alte Arbeitszeit einschließt. Wie weit zieht die Politik mit?
Mit der Verabredung im Koalitionsvertrag, Rückkehrrechte auf die alte Arbeitszeit bei Kindererziehung und Pflege gesetzlich zu verankern, wurde ein großer Schritt in diese Richtung getan. Vielleicht kommt man im nächsten Schritt dazu, solche Rückkehrrechte auf alle Teilzeitbeschäftigten auszudehnen..“

Was von einer gesetzlichen Regelung zu halten ist, zeigen die heutigen Beispiele z.B. im Falle von Eltern, die in Elternzeit gehen und dann doch nicht mehr zurückkehren können auf ihre Stelle, ganz legal. An diesem Beispiel zeigt sich wiederum, wieviel weitreichender ein BGE wäre, weil es nicht nur die Abhängigkeit vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit – je nach Höhe des BGE – aufhöbe, sondern auch das Nicht-Erwerbstätigsein zum legitimen Status erklären würde.

Sascha Liebermann