Die SPD im Aufbruch – endlich wieder Würde durch Erwerbsarbeit…

…so muss das Fazit eines umwälzenden Beitrags im IPG-Journal im Grunde lauten, in dem der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel seine Überlegungen zur Digitalisierung skizziert. Es wird Zeit, die Geltung der Grundrechte an den Erwerbsstatus zu koppeln und sich von der Vorstellung, die Demokratie werde von den Bürgern getragen, zu verabschieden. Tatsächlich hängen Wohl und Wehe von den Erwerbstätigen ab, das haben die Befürworter eines Bedingungslosen Grundeinkommens – überhaupt die der Demokratie – noch nicht verstanden. Was schreibt er zum BGE?

„In links-libertären Kreisen ist seit vielen Jahren die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens en vogue. Ich halte das für reine Augenwischerei. Die Idee entkoppelt den Sozialstaat von der Arbeitsgesellschaft. Doch ein Ende der Arbeit, wie häufig prophezeit, sehe ich nicht, wohl aber einen ständigen Wandel der Arbeit. Erwerbstätigkeit ist in unserer Gesellschaft aber ein Baustein der eigenen Identität und Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. All das übersehen die Befürworter. Im schlimmsten Fall kann ein bedingungsloses Grundeinkommen zur staatlichen Subventionierung von Billiglöhnen werden und eine Spaltung der Gesellschaft befördern. Umverteilung ist darin ohnehin nicht vorgesehen.“

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„Was ein bedingungsloses Grundeinkommen bringt“ oder: wie man auf halbem Wege stehenbleibt

…das lässt sich einem Beitrag von Florian Diekmann auf Spiegel online verfolgen. Der Autor hatte in jüngerer Zeit wiederholt über Armut und Hartz IV geschrieben, siehe hier. Sein Beitrag über das BGE ist sehr informiert, bleibt in seinen Schlussfolgerungen jedoch auf halbem Wege hängen, wie ich an wenigen Passagen zeigen möchte.

Diekmann referiert zwei Zugänge in der BGE-Diskussion, die zur Zeit besonders beachtet werden: Digitalisierung und die Abschaffung von Hartz IV. Er nimmt die Rede von der „Arbeitsgesellschaft“ auf und fragt, ob ihr wirklich die Arbeit ausgehe. Dass schon diese Beschreibung unserer Lebensverhältnisse schief ist und die politische Dimension der Bürgergemeinschaft nicht erwähnt wird, muss als Symptom verstanden werden, als Symptom eines Selbstmissverständnisses (siehe hier und hier). Das Problem beginnt schon bei der Frage, ob denn Erwerbsarbeit ausgehe oder nicht, die letztlich für ein BGE unbedeutend ist. Wenn also der „Arbeitsgesellschaft“ die Erwerbsarbeit nicht ausgehe, gleichwohl aber ein tiefgreifender Strukturwandel durch die Digitalisierung befördert werde, dann stelle sich die Lage folgendermaßen dar:

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„Soziales Grundeinkommen erforderlich“…

…schreibt Ursula Engelen-Kefer auf der Website des Sozialverbands Schleswig-Holsteins. Doch der Titel ist irreführend, handelt es sich eher um eine Abrechnung mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen und einem Festhalten am bestehenden Sozialstaat. Interessant, dass zur Sanktionspraxis, den stigmatisierenden Folgen der heutigen Bedarfsprüfung und der Degradierung unbezahlter Arbeit kein Wort gesagt wird. Aber das mag schwer sein für jemanden, der jahrzehntelang in führenden Positionen der Gewerkschaften tätig war. Engelen-Kefer nahm auch an der Diskussionsveranstaltung der SPD in Kiel kürzlich teil, hier geht es zum Video.

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„Geld fürs Nichtstun?“ – ein Blick von der Warte der „Arbeitsgesellschaft“

Dieser Beitrag in der taz von Gernot Knödler mag von der Warte einer „Arbeitsgesellschaft“ aus naheliegend sein. Doch das BGE ist kein Einkommen für ein bestimmtes Handeln, hier: das „Nichtstun“. Es geht an die Person um ihrer selbst und um des Gemeinwesens selbst willen. Das ist entscheidend. Dazu aber muss in den Blick genommen werden, was eine Demokratie auszeichnet, das scheint schwierig.

„Du bist uns als Mensch wichtig nicht nur als Arbeitskraft“

Dieses Wahlplakat trifft eine wichtige Aussage, dass nämlich der Mensch (als Bürger) um seiner selbst und um des Gemeinwesens willen im Zentrum stehen sollte – und nicht die Erwerbstätigen (siehe hier und hier). Der deutsche Sozialstaat ist jedoch einer, in dessen Zentrum Erwerbstätigkeit steht, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Ein BGE erst würde das ändern können.

Bedingungsloses Grundeinkommen? Aber nicht ohne Umwandlung der Bildungssysteme

Richard David Precht hat sich schon öfter zum Bedingungslosen Grundeinkommen geäußert, ich habe seine Ausführungen immer wieder einmal kommentiert und finde die jüngsten in einem Interview mit Tilo Jung ebenso kommentierenswert. Wie begründet Precht seine Haltung zum BGE (Ab Stunde 1:43)?

Wenn die „Auflösung der Arbeitsgesellschaft“ bevorstehe, dann sei ein BGE aus verschiedenen Gründen wichtig, sagt er: 1) Um den Binnenmarkt zu stärken (Kauftkraftstabilisierung; 2) für das Glück jedes Einzelnen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, und 3) weil ein BGE in Verbindung mit einem umgewandelten Bildungssystem erlaube, auch dann ein erfülltes Leben zu haben, wenn man keinen „nine-to-five-job“ habe.

Ob die „Arbeitsgesellschaft“ sich auflösen wird im Sinne mancher Prognosen bezüglich etwaiger Folgen der Digitalisierung sei dahingestellt. Es mag so sein, vielleicht auch nicht, und wenn es so kommen sollte, so können wir über den Umfang der Auswirkungen nichts Genaues sagen.Technologienutzung ist ein sozialer Prozess und erfolgt nicht automatisch. Das zeigte der französische Historiker Marc Bloch schon für die Verbreitung der Wassermühle. Darüber hinaus steht in Frage, ob es überhaupt angemessen ist, unsere heutigen Lebensverhältnissen als „Arbeitsgesellschaft“ zu bezeichnen, siehe meine früheren Ausführungen dazu hier und hier. Eine Demokratie stützt sich nicht auf Erwerbstätige, sie benötigt Bürger, die sie tragen.

Dass ein BGE den Binnemarkt stärken würde, steht außer Zweifel, denn die Kaufkraftstabilisierung würde zugleich eine Stabilisierung von Investitionen und Verbrauch nach sich ziehen können. Ein Argumente, das viel zu selten bemüht wird.

Von daher wäre es auch erheblich einfacher für den Einzelnen, seinen Bedürfnissen nachzugehen, sofern er dazu ein stabiles Einkommen benötigt. Die normative Relativierung von Erwerbstätigkeit würde dazu führen, heute degradierte Tätigkeiten aufzuwerten, so dass sie zu Haupttätigkeiten werden könnten, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Das wäre ein großer Unterscheid. Precht spricht von solchem Engagement allerdings gar nicht konkret, es ist also nicht ganz klar, was er an dieser Stelle vor Augen hat.

Der dritte Aspekt, den er nennt, ist besonders interessant, weil sich darin eine sehr häufig anzutreffende Vorstellung von Autonomie und Bildungsprozessen zu erkennen gibt. Er unterscheidet zwei Varianten von BGE, die anthroposophisch-humanistische und die Silicon Valley-Version. Diese Gegenüberstellung ist zugespitzt, denn „die“ anthroposophische Variante gibt es ja nicht, da sich unter Anthroposophen ebenso Gegner eines BGE finden, und zwar vehemente. Unter den Befürwortern aus dem Silicon Valley gibt es auch Stimmen wie Albert Wenger, der sehr differenziert argumentiert, wenn es um das BGE geht. Dann sagt Precht etwas, was folgenreich ist. Das BGE alleine könne nicht die gewünschten oder erhofften Wirkungen entfalten, es müsse eine Umwandlung des Bildungssystems dazutreten, da es heute die Menschen „fehlkonditioniert[e]“. Nun kann man manche Kritik am Bildungssystem anbringen, doch von einer Konditionierung zu sprechen, geht in meinen Augen zu weit. Abgesehen davon, dass Bildungsprozesse sich nicht durch Konditionierung vollziehen, fördert das Bildungssystem im besten Fall Bildungsprozesse, im schlechtesten hemmt sie diese. Es kann also entweder dazu beitragen, dass der Apfel etwas weiter vom Stamm fällt oder aber eben genau dies nicht tun. Es ist aber nicht in der Lage, Menschen zu etwas zu machen, das sie nicht sind. Hier überschätzt Precht den Einfluß des Bildungssystems und unterschätzt die Bedeutung von Bildungsprozessen in familialen Zusammenhängen. Kinder müssen auch nicht „lernen“, intrinsisch motiviert zu sein, das sind sie in der Regel ohnehin. Die Frage ist vielmehr, ob dieser Erkundungsdrang von Eltern – und später vom Bildungssystem – unterstützt oder gehemmt wird.

Was traut Precht den Bürgern heute zu? Offenbar nicht allzuviel, wenn er ein BGE nur dann für erstrebenswert erachtet, wenn es ein anderes Bildungssystem gibt. Man könnte dementgegen gerade in die andere Richtung argumentieren, dass, wenn ein BGE einmal gewollt wird, das Denken über Bildung sich vermutlich ebenfalls schon verändert hat. Letztlich läuft Prechts Haltung darauf hinaus, das BGE vorzuenthalten, weil die Bürger nicht selbstbestimmt genug seien, um mit ihm umgehen zu können. Das sehen andere durchaus auch so, z. B. Wolfgang Engler. Wer aber so denkt, muss auch die Gefahr sehen, dass sich Bürger mit etwas „abspeisen“ lassen. Wenn sie das tatsächlich täten, hätten sie es nicht selbst zu verantworten? Ist es aber nicht anmaßend, davon auszugehen, dass sich jemand abspeisen lässt, ohne dafür Gründe zu haben?

Entsprechend entwirft Precht am Ende ein Szenario, welches BGE wohl zu erwarten sei und fragt „Auf wen hört die Bundesregierung“? Nun, auf wen die Regierung hört, das entscheiden die Bürger, wenn sie es wollen. Und wenn nicht, wer ist dann dafür verantwortlich? Die Bürger, wer sonst.

Sascha Liebermann

„Ein Grundeinkommen kann die Gesellschaft wieder vereinen“…

…ein Beitrag von Thomas Straubhaar in der Süddeutschen Zeitung.

An einer Stelle schreibt er treffend:

„Wie hoch das Grundeinkommen sein soll, wie viel Steuern der Besserverdienende mehr zahlen soll als der Geringverdienende, damit unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprochen wird, bleiben Streitpunkte, die auch künftig durch die Politik zu beantworten sind.“

Entgegen der weitverbreiteten Forderung, detaillierte Vorschläge vorzulegen, die die Richtung, für die das BGE steht, im Klein-Klein des Details zu verlieren, bleibt Straubhaar grundlegend. Das halte ich für angemessen, weil die Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung beim Souverän liegt. Sie hängt davon ab, was mit den zu ergreifenden Schritten in der Ausgestaltung ermöglicht werden soll. Entsprechend breit sind die Vorstellungen, worin diese Schritte bestehen könnten. Entgegen der Hoffnung, durch konkrete Vorschläge der Einführung näher zu kommen, ließe sich genauso gut dafür argumentieren, dass eine zu frühe Verlegung auf die Ausgestaltung die politische Willensbildung behindern kann. Solange der Schritt zum BGE grundsätzlich nicht befürwortet wird, sind andere Diskussionen zu führen als die über eine Ausgestaltung en détail. Wie sie dann letztlich auszusehen hat, darüber hat der Souverän zu befinden, nicht Experten.

Dann heißt es missverständlich:

„Das Grundeinkommen ist lediglich das Instrument zur Umsetzung politischer Entscheidungen. Es ist im Kern nichts anderes als eine fundamentale Steuerreform. Es bündelt alle sozialpolitischen Maßnahmen in einem einzigen Instrument.“

Straubhaar sagt zwar nicht ausdrücklich, dass Leistungen oberhalb des BGE ausgeschlossen sind, er erwähnt aber auch nicht, dass sie fortbestehen sollen. Das macht jedoch einen großen Unterschied, weil im ersten Fall Härtefälle entstehen würden, das BGE also diejenigen, die Bedarfe oberhalb des BGE haben aufgrund einer Erkrankung oder Ähnlichem, alleine lassen würde. Im weiten Fall hingegen wären sie geschützt.

Wenn es gegen Ende des Beitrages heißt, das BGE sei radikal, da es die „Grundlage zu einem neuen Gesellschaftsvertrag“ biete, kann man das so sehen. Ich hingegen würde herausheben, dass der Schritt weniger radikal ist, als er scheint. Wir würden damit vielmehr ein Sicherungssystem schaffen, das unserer demokratischen Grundordnung gemäß ist, statt einen Sozialstaat fortzuschreiben, in dessen normatives Zentrum Erwerbstätigkeit ist, nicht demokratische Souveränität. Wir leben nicht, wie es so oft heißt, in einer Arbeitsgesellschaft, sondern in einem Widerspruch zwischen einem Sozialstaat, der die Arbeitsgesellschaft im Zentrum hat, und einer Demokratie, in deren Zentrum die Bürgergemeinschaft steht.

Thomas Straubhaar hat sich in den letzten Jahren sehr deutlich zum BGE geäußert, allerdings durchaus auch missverständlich oder hat etwa in gleichem Atemzug die Agenda 2010 gelobt, ohne etwas über das Sanktionsregime im Arbeitslosengeld II zu sagen. Frühere Kommentare von mir zu seinen Ausführungen finden Sie hier.

Sascha Liebermann

Stellungnahme von Ute Fischer zur Anhörung im Landtag online

Die Stellungnahme von Ute Fischer zur öffentlichen Anhörung des Hauptausschusses des Landtags Nordrhein-Westfalen zum Antrag der Fraktion der PIRATEN, Drucksache 16/11692, zum „Abschied von der Arbeitsgesellschaft“, am 30 Juni, ist online zugänglich. Das Protokoll der Ausschusssitzung sowie einen Kommentar dazu von Sascha Liebermann finden Sie hier.

Schiefe Vergleiche und unausgesprochener Paternalismus – eine Anhörung im NRW Landtag zum Bedingungslosem Grundeinkommen

Am 30. Juni fand auf Antrag der Piratenpartei eine Experten-Anhörung im Hauptausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen zum Bedingungslosen Grundeinkommen statt. Nun steht das Protokoll (S. 5-25) der Anhörung online und erlaubt, Einblick in die Beiträge der Experten sowie in Antworten auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, nachzulesen. Wer mit der Diskussion zum BGE vertraut ist, wird wenig Neues darin entdecken, allerdings finden sich hier und da Differenzierungen, die in der öffentlichen Diskussion selten vorkommen.

Interessant ist die nachfolgende Passage aus einer Antwort von Dominik Enste (TH Köln/ Institut der deutschen Wirtschaft) auf eine Frage aus dem Ausschuss. Er bezieht sich hierbei auf Ausführungen von Ute Fischer (Fh Dortmund/ Freiheit statt Vollbeschäftigung) zur Bedeutung bedingungsloser Anerkennung in vergemeinschaftenden Lebenszusammenhängen. Was sagte er?

„Eine völlige Bedingungslosigkeit gibt es vielleicht in der Familie, manchmal noch bedingungslose Liebe – danach sehnen wir uns alle – und selbst die ist meistens nicht gegeben, denn die Eltern lieben ihr Kind vor allem dann, wenn es zurücklächelt. Insofern ist auch dort eine gewisse Reziprozität vorhanden. Und diese ist dann eben auch in der Form der Bedürftigkeit bei diesem Einkommen Voraussetzung.“ (Protokoll der Anhörung, S. 16)

Überraschend ist, wie Enste zwei Dinge zusammenführt, die nicht vergleichbar sind. Die Eltern-Kind-Beziehung, die er zum Vergleich wählt und von ihr aus die Bedürftigkeitsprüfung herleitet (Reziprozität), ist eine asymmetrische. Kinder sind von den Eltern in vielerlei Hinsicht abhängig, Eltern treffen Entscheidungen für die Kinder, solange diese noch nicht entscheidungsfähig sind. Das ist nun in keiner Form vergleichbar mit der Beziehung Erwachsener zueinander, die sich in ihrer Selbstbestimmung frei begegnen. In einem Gemeinwesen begegnen sie sich darüber hinaus noch als Angehörige qua Staatsbürgerschaft, dadurch sind sie Gleiche unter Gleichen. Diese Beziehung ist eben nicht asymmetrisch, sie ist symmetrisch. Von hier aus gelangt man eben nicht zur Begründung der Bedürftigkeitsprüfung, stattdessen eröffnet es den Weg zum BGE. Enste sucht sich zur Veranschaulichung dessen, dass er die Bedürftigkeitsprüfung für richtig hält (Werturteil) ein ungeeignetes Beispiel, das der Analyse nicht standhält. Dass dadurch der Erwerbstätigkeit eine vorrangige Wichtigkeit zugesprochen wird und andere Tätigkeiten unter den Tisch fallen, sieht er nicht oder will er nicht sehen. Genau darauf wies jedoch Ute Fischer hin.

Eine zynische Note erhält das Ganze, indem er – und das ist eine Unterstellung – behauptet, dass „meistens“ Eltern ihr Kind vor allem dann liebten, wenn es zurück lächele. Nehmen wir einmal an, dass dies so sei, was folgte daraus? Wir hätten es dann mit einem Phänomen zu tun, das für entsprechende sozialisatorische Folgen sorgte. Denn die für einen gelingenden Bildungsprozess unerlässliche bedingungslose Hinwendung zu den Kindern zeigt diesen gerade, dass sie, so wie sie sind, angenommen werden. Diese Hinwendung ist eine, die keine bestimmte Gegenleistung voraussetzt. Ein Kind macht dadurch die Erfahrung, dass es ganz gleich, was es tut, geliebt wird. Was nun passiert, wenn diese Bedingungslosigkeit nicht einschränkungslos gegeben ist, lässt sich leicht veranschaulichen. Kinder machen die Erfahrung, dass es nicht um sie als solche geht, sondern darum, sich wohlzuverhalten, elterlichen Erwartungen zu entsprechen, sich also anzupassen an das, was den Eltern gefällt, nicht aber ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Sollte eine solche Haltung der verbreitete Normalfall sein, müssten wir uns ernsthaft Sorgen machen. Dass sie vorkommt, steht außer Frage, ist aber gerade problematisch, weil sie die Herausbildung des Selbstvertrauens in die eigene Person als ganze beeinträchtigt (zur Lektüre dazu siehe z. B. hier). Wenn Enste das nun zum Regelfall erklärt, argumentiert er gerade gegen die Anerkennung der Person um ihrer selbst willen und erhebt einen Missstand zum Ideal. Das ist zynisch.

Was hatte denn Ute Fischer eigentlich gesagt, worauf Dominik Enste reagierte? Ute Fischer unterschied zwei Begriffe von Reziprozität, um deutlich zu machen, dass die verbreitete Rede von Reziprozität als Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verkürzt sei:

„Wir haben das Prinzip des Äquivalententausches. Das ist die zweckgerichtete Leistung für die Ökonomie, für den Arbeitsmarkt – da verwenden wir Leistung und Gegenleistung als Äquivalent. Es gibt aber daneben den Bereich der sittlichen Reziprozität, der zweckfreien Gegenseitigkeit. Das verwenden wir immer da, wo wir als ganze Menschen eingebunden sind – in Familien und im politischen Gemeinwesen. Es sind zwei verschiedene Arten, Gegenseitigkeit zu verstehen. Für den ökonomischen Bereich ist der Äquivalententausch genau richtig: Leistung auf Gegenleistung. Für den anderen Bereich – und wir reden hier über das Sozialsystem, das ist der Bereich der politischen Vergemeinschaftung – ist die Gegenseitigkeit als zweckfreie Kooperation entscheidend.“ (S. 10)

Es gibt ein Verständnis von Reziprozität, das seinen Ort dort hat, wo Leistung bzw. -svermögen getauscht wird, z. B. am Güter- und Arbeitsmarkt. Diese Austauschlogik ist mit zweckgerichteter Reziprozität gut umschrieben, weil auch die Leistungsersteller in Gestalt von Mitarbeitern nicht um ihrer selbst willen eingestellt werden, sondern weil sie einem Zweck dienen sollen. Sie übernehmen eine Aufgabe oder Rolle. Deswegen sind sie ja auch austauschbar, ohne dass der Zweck, dem sie dienen sollen, darunter leiden würde. Es macht diese Tauschform aus, dass es nicht um die Person um ihrer selbst willen geht. Um die Person um ihrer selbst willen geht es woanders, und zwar gilt dort ein Verständnis von Reziprozität im Sinne eines zweckfreien Tauschs. Nicht Leistung wird dort getauscht, Personen als ganze tauschen sich miteinander aus und erkennen sich darin um ihrer selbst willen an. Deswegen ist es auch unangemessen, dies als Rolle zu bezeichnen, vielmehr sind es Positionen, die an Personen hängen, z. B. Vater, Mutter, Staatsbürger. Dieser zweckfreie Tausch, anders als häufig dargestellt, ist die Basis dafür, dass der zweckgerichtete verlässlich möglich ist. Normbindung, Bindung an Regeln und damit auch Verträge wird durch die Erfahrung des zweckfreien Tauschs als Grundlage von Bildungsprozessen erst ermöglicht. Die zweckfreie Reziprozität vollzieht sich in zwei Gemeinschaftsformen: in Familie bzw. familienähnlichen Sozialgebilde und in Gemeinwesen. In der Familie ist es die bedingungslose Anerkennung des Gegenübers als Angehöriger eines Verwandtschaftsgebildes (Gatte-Gattin, Eltern-Kind), im Gemeinwesen ist es die bedingungslose Anerkennung der Bürger als Legitimationsquelle politischer Ordnung (GG Art 20, (2)).

In der Diskussion um das BGE wird diese Differenzierung selten vorgenommen, sie ist jedoch wichtig, um zu verstehen, dass ein Gemeinwesen auf anderen Grundlagen steht als ein Erwerbsverhältnis. Solange das nicht genügend auseinandergehalten wird, scheint nicht nur das BGE eine Angelegenheit von einem anderen Stern zu sein, unser Verhältnis zu uns selbst als Bürger eines Gemeinwesens, die die Basis von allem sind, bleibt ebenso verstellt. Wir übersehen uns selbst, könnte man auch sagen. Wie soll es da Veränderungen geben können, die dazu führen, die Bedeutung der Bürger mehr zu achten?

Sascha Liebermann