„Welche Kinderarmut soll es denn sein?“ – Stefan Sell zur aktuellen Berichterstattung

Sein Beitrag findet sich in seinem Blog Aktuelle Sozialpolitik. Hier der Anfang:

„Natürlich sind solche Zahlen und dann auch noch Kinder betreffend unangenehm: Insgesamt ist die Zahl der unter 15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, im vergangenen Jahr gestiegen. Etwa jedes siebte Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig, konnte man am 1. Juni 2016 in diesem Beitrag lesen: Ein Teil der armen Kinder im Blitzlicht der Medienberichterstattung, erneut die Abwertung von Geldleistungen und jenseits der Sonntagsreden sogar weitere Kürzungen ganz unten ante portas. 2015 waren im Schnitt 1,54 Millionen unter 15-Jährige betroffen. Das waren gut 30.000 Kinder und Jugendliche mehr als im Vorjahr. In Bremen und Berlin ist mit 31,5 Prozent fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren von Hartz-IV-Leistungen abhängig (Ende 2015). Prozentual am wenigsten Betroffene gibt es in Bayern mit 6,5 Prozent.
Man muss berücksichtigen, dass hier nur ein Teil der Kinder aufgeführt wird, die in einkommensarmen Verhältnissen leben (müssen), denn die Gruppe der Hartz IV-Empfänger ist nur eine Teilgruppe der von Einkommensarmut „gefährdeten“ Menschen, wie das die Statistiker nennen….“.

„Jobcenter kürzen Zehntausenden Familien Hartz-IV-Zahlungen“…

…meldet neues deutschland: „…Die staatlichen Zuwendungen für Arbeitslosengeld-II-Bezieher sind sehr knapp bemessen, das gilt für Bürger mit und ohne Kinder. Und wenn Hartz-IV-Empfänger ihre sogenannten Pflichten nicht erfüllen, werden sie mit Geldentzug bestraft. Auch das gilt für Menschen mit und ohne Kinder. Im vorigen Jahr gab es jeden Monat durchschnittlich rund 132 000 Hartz-IV-Bezieher, die mit Sanktionen belegt wurden. Etwa weil sie nicht zu einem Termin beim Jobcenter erschienen waren oder ein Arbeitsangebot abgelehnt hatten. Unter den Bestraften waren monatlich 42700 Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die mit Kindern in einem Haushalt lebten. Das zeigt eine Sonderauswertung von Daten der Bundesagentur für Arbeit für das Kooperationsprojekt »O-Ton Arbeitsmarkt«.“

Gegen Ende des Beitrags heißt es:

„…Stefan Sell hält die Sanktionspraxis der Jobcenter prinzipiell für fragwürdig. Bei der staatlichen Grundsicherung gehe es um ein Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums. »Wie kann das unterschritten oder gar vollständig entzogen werden?« Es werde Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht abschließend kläre, ob die Sanktionen zulässig sind, sagte Sell dem »nd«.“

In der Tat stellt sich die Frage, nach welchen Bedingungen unser Gemeinwesen das Existenzminimum bereitstellen will und ob die heutige Praxis angemessen ist. Aber zugleich muss man fragen, wie in einem Sicherungssystem, das sich auf den Vorrang von Erwerbstätigkeit vor allem anderen stützt, auf Sanktionen verzichtet werden soll? Sicher, der Gebrauch des Instruments lässt sich ändern, weniger restriktiv könnte er sein. Doch macht es den erwerbszentrierten Sozialstaat aus, sanktionieren zu können, das war auch vor der Agenda 2010 schon so. Die Forderung nach einer „repressionsfreien Grundsicherung“ ist entweder eine, die zum BGE führen soll, oder sie verbleibt im heutigen Gefüge. Dann ist sie politisch naiv, denn ohne Sanktionen, kein erwerbszentrierter Sozialstaat.

Sascha Liebermann

„Die Unsicherheit wächst“ – über die Grenzen der Vermögensbesteuerung und neue Finanzierungsquellen

Ein Interview, das Timo Reuter mit dem Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der FH Koblenz in der Wochenzeitung der freitag geführt hat. Das Interview ist in verschiedener Hinsicht interessant. Zuerst, weil Sell deutlich sagt, dass die Agenda 2010 die Deregulierung, die schon in den 1990er Jahren begann, nur verstärkte, aber nicht geschaffen hat.

Dann fragt Reuter, was das Problem daran sei, „Millionäre und Vermögende“ mehr zu belasten. Sell antwortet:

„Es ist verständlich, die Vermögenden zu belasten, aber auch gefährlich, denn die dringend notwendigen Ausgaben können wir dadurch nie stemmen. Das ist ein Mengenproblem. Das Kapital kann sich einer nationalstaatlichen Vorgehensweise entziehen. Außerdem liegt das meiste Vermögen nicht in Form von Geld vor, sondern als Unternehmensbeteiligung. Wenn wir also nicht zum Mittel der Enteignung greifen wollen, werden nur durch Besteuerung von Reichtum nicht genug Mittel frei.“ Deswegen müssten andere Finanzierungsquellen her, welche, sagte Sell nicht. Vielleicht das BGE? Die Möglichkeiten des Nationalstaats scheint er in meinen Augen etwas zu unterschätzen.

Sascha Liebermann

Rechtsverschärfung durch Rechtsvereinfachung – Neue Anweisung der Bundesagentur für Arbeit

Stefan Sell führt in einem Blogbeitrag aus, was es mit der „Rechtsvereinfachung“ auf sich hat, auch Harald Thomé hat in seinem Newsletter vom 31. August darauf hingewiesen.

Wäre die Konsequenz nicht, das Mindesteinkommen auf andere Weise bereitzustellen und damit die Erwerbszentrierung der Sicherungssysteme zu verlassen, die die Legitimationsbasis für Sanktionen abgibt? Das wäre der Schritt zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Über diesen sind sich viele Kritiker des Bestehenden, auch Stefan Sell, doch nicht ganz sicher. Stattdessen fordern manche eine „repressionsfreie Grundsicherung“, als könne ein erwerbszentriertes Sicherungssystem auf Sanktionen verzichten.

Sascha Liebermann

„Noch ärmer: Wie die Hartz-IV-Reform Alleinerziehende schlechter stellt“…

…ein Beitrag in der Fernsehsendung Monitor vom 2. Juni.

Siehe hierzu auch: „Das Bundesverfassungsgericht will (noch?) nicht: Keine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im Hartz IV-System“ von Stefan Sell.