Ich verstehe, was Sie meinen, es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Bauteile kann man austauschen, ohne die Funktionalität zu beeinträchtigen, Bürger können nicht „ausgetauscht“ werden, ohne das Gemeinwesen zu beschädigen.
— Sascha Liebermann (@SaschaLieberman) February 9, 2023
Kategorie: Gemeinwesen
Unausweichliche Abhängigkeit – die Bürger voneinander, das Gemeinwesen von den Bürgern, die Bürger vom Gemeinwesen…
Der untenstehende Gedanke zum Thema #Grundeinkommen macht eine weithin vorhandene Verdrehung der Wirklichkeit deutlich:
Wir BürgerInnen finanzieren den Staat.
Jeden Schreibtisch, jedes PolitikerInnengehalt, jede Investition, einfach vollständig alles.
Wir bezahlen also die Musik. https://t.co/8WIEPrrupJ— Susanne Wiest ☔️ (@susannewiest) December 30, 2020
…wer das nicht will oder meint hinter sich lassen zu können, kann weder Bürger eines Gemeinwesens sein, noch kann es Gemeinwesen geben. Abhängigkeit ist in dem Sinne zu verstehen, dass beide aufeinander verwiesen sind, sie bedingen sich. Im besonderen Falle hier ist die Rechtfertigungsquelle für diese Abhängigkeiten zumindest im politischen Sinne das Volk der Staatsbürger, das eben zeichnet die moderne Demokratie aus, auch wenn es hiervon verschiedene Gestaltungsformen gibt.
Sascha Liebermann
Auf den Schultern vorangehender Generationen (vertikal) und auf denen aller Bürger (horizontal) – immer, ausnahmslos…
Man kann das #BGE auch einfach als Erbschaftanteil einer Wohlstandsgesellschaft ansehen. Immerhin ist dieser Wohlstand und die resultierenden Möglichkeiten das Ergebnis aller Menschen, die diese Gemeinschaft zusammen aufgebaut haben – arm/reich/sozial/gebildet/mutig/etc.
— samreciter (@MrReciter) December 5, 2020
…deswegen kann ein BGE vollkommen zutreffend als Prämie oder Rente aus diesem Erfolg betrachtet werden, über dessen Verteilung ein Gemeinwesen entscheiden muss. Denn die Abhängigkeiten voneinander sind vielfältig, siehe hier.
Sascha Liebermann
„Wir müssen endlich darüber reden. Es ist ein Fehler, das Thema nur wegzudrücken“…
…sagt Saskia Esken über ein Bedingungsloses Grundeinkommen im gemeinsamen Interview mit Norbert Walter-Borjans auf Spiegel Online. Walter-Borjans ist zwar gegen ein BGE, hält aber die Diskussion darüber für nötig. Beide kandidieren für den SPD-Vorsitz. Hier ist die betreffende Passage:
„Esken: Wir müssen endlich darüber reden. Es ist ein Fehler, das Thema nur wegzudrücken. Für eine Partei darf es, abgesehen von verrückten Dingen wie der Todesstrafe, in der Diskussion keine Tabus geben. Wir haben zum Beispiel auch viel zu lange nicht über den Kohleausstieg gesprochen. Das Grundeinkommen wurde in verschiedenen Abwandlungen nur andiskutiert, wird generell oft verteufelt als Stillhalteprämie für Arbeitslose. Das ist aber nicht die Idee. Es ist ein Konzept mit verschiedenen Facetten, um unterschiedliche Lebensphasen zu ermöglichen, mit mal mehr und mal weniger Erwerbsarbeit. In Zeiten von veränderten Lebensbiografien müssen wir flexiblere Möglichkeiten anbieten.
SPIEGEL ONLINE: Herr Walter-Borjans, wie sehen Sie das als Haushälter?
„Wir müssen endlich darüber reden. Es ist ein Fehler, das Thema nur wegzudrücken“… weiterlesen
„Was ein bedingungsloses Grundeinkommen bringt“ oder: wie man auf halbem Wege stehenbleibt
…das lässt sich einem Beitrag von Florian Diekmann auf Spiegel online verfolgen. Der Autor hatte in jüngerer Zeit wiederholt über Armut und Hartz IV geschrieben, siehe hier. Sein Beitrag über das BGE ist sehr informiert, bleibt in seinen Schlussfolgerungen jedoch auf halbem Wege hängen, wie ich an wenigen Passagen zeigen möchte.
Diekmann referiert zwei Zugänge in der BGE-Diskussion, die zur Zeit besonders beachtet werden: Digitalisierung und die Abschaffung von Hartz IV. Er nimmt die Rede von der „Arbeitsgesellschaft“ auf und fragt, ob ihr wirklich die Arbeit ausgehe. Dass schon diese Beschreibung unserer Lebensverhältnisse schief ist und die politische Dimension der Bürgergemeinschaft nicht erwähnt wird, muss als Symptom verstanden werden, als Symptom eines Selbstmissverständnisses (siehe hier und hier). Das Problem beginnt schon bei der Frage, ob denn Erwerbsarbeit ausgehe oder nicht, die letztlich für ein BGE unbedeutend ist. Wenn also der „Arbeitsgesellschaft“ die Erwerbsarbeit nicht ausgehe, gleichwohl aber ein tiefgreifender Strukturwandel durch die Digitalisierung befördert werde, dann stelle sich die Lage folgendermaßen dar:
„…die dürften dann zuhause bleiben“…
…so leitet der Journalist der Süddeutschen Zeitung den Abschnitt eines Gesprächs mit Kardinal Reinhard Marx ein, der sich mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen beschäftigt. Voraus geht dieser Äußerung ein Passage, in der es um etwaige Folgen der Digitalisierung geht und um die These, dass diejenigen, die dann ihre Arbeitsplätze verlören und ein BGE bezögen, zuhause bleiben dürften. Darauf reagiert Marx mit der Prognose, dies sei das Ende der Demokratie, wenn es soweit komme. Doch die These des Journalisten ist genauso eine Verkürzung, wie die Reaktion von Marx einen erstaunen kann. Denn, nicht diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlören, könnten zuhause bleiben, im Prinzip könnten das alle – allerdings würde es dann bald kein BGE mehr geben. Alleine die Vorstellung davon, dass, nur weil jemand keinen Arbeitsplatz habe, er dann „zuhause“ bleibe und dass offenbar „zuhause“ nicht der Ort von Tätigkeit oder nur minderwertiger Tätigkeit sein kann, ist bemerkenswert.
„Die Lüge von der Leistungsgesellschaft“ oder zur unauflösbaren Abhängigkeit aller von allen…
…darum geht es in einem Beitrag von Stephan Kaufmann in der Frankfurter Rundschau. Darin heißt es unter anderem:
„Aber selbst wenn man Produktivität als Maßstab für Leistung anerkennt, so scheitern Betriebe und Ökonomen doch notwendig an der Frage: Welchen Beitrag hat der Einzelne zum gesamten Umsatz des Unternehmens oder einer Branche geleistet? Welcher Teil der Erlöse ist dem Pförtner zuzurechnen, welcher Anteil der Sekretärin, welcher dem Verkaufsleiter? Diese Rechnung ist laut Horn ein Ding der Unmöglichkeit.“
„Balsam für den sozialen Frieden“…
…so titelt der Deutschlandfunk in einem Beitrag von Alois Berger über das Bedingungslose Grundeinkommen. Wieder einmal geht es vor allem um das BGE und Erwerbsarbeit, eine bedauerliche Verengung, aber immerhin ein recht ausführlicher Beitrag. Er macht allerdings auch deutlich, zu welch schiefen Diskussionen es kommen kann, wenn BGE und Erwerbstätigkeit in ein Bedingungsverhältnis gestellt werden, das erstere aus dem Mangel an letzterem hergeleitet wird. Andere Leistungsbeiträge fallen wie gewöhnlich unter den Tisch, so war es auch bei eine Veranstaltung der CDU in Wiesloch, an der ich vor kurzem teilgenommen habe. Trotz ausführlichen Hinweises im Eröffnungsvortrag von Götz W. Werner, dass wir von vielfältigen Leistungsformen leben und nicht nur von standardisierten Gütern und Dienstleistungen, wurden Hinwendung zum Menschen in Erziehung und Pflege in Privathaushalten keines Blickes gewürdigt.
Birger Priddat, Professor an der Universität Witten-Herdecke, wird folgendermaßen zitiert:
Grundeinkommen, bedingungslos – was bedeutet das?
Wir erhalten immer wieder einmal Anfragen zu Aspekten der Grundeinkommensdiskussion, die offenbar für Verwirrung sorgen oder zumindest missverständlich sind. Jüngst ging es dabei um die genaue Bedeutung des Adjektivs „bedingungslos“. Angesichts seiner Unterbestimmtheit beißen sich manche Kritiker gerade daran fest, um gegen das BGE zu wettern, statt wohlwollend an einer Klärung mitzuwirken.
Das Attribut bedingungslos ist nicht frei von Missverständlichkeiten, denn es ist unterbestimmt. Sowohl in der deutschen als auch in der internationalen Diskussion werden deswegen noch andere Attribute gebraucht, wie z. B. „universal“, garantiert, allgemein. Sie sind jedoch nicht weniger missverständlich, denn sie könnten gleichermaßen zur Beschreibung von Hartz IV verwendet werden, auf das immerhin ein Rechtsanspruch besteht. Vereindeutigen lässt sich diese Unklarheit des Adjektivs „bedingungslos“ nur, wenn man sich vor Augen führt, worum es beim BGE geht und weshalb in der deutschen Diskussion das Attribut „bedingungslos“ eine so große Rolle spielt. Der ganze Vorschlag eines BGE richtet sich zuallererst gegen die Bedürftigkeitsprüfung bzw. die Regelung, Ansprüche durch Erwerbsarbeit erworben haben zu müssen, damit eine Einkommenssicherung (ALG I und Rente) gewährt wird. Diese Bedeutung der Bedingungslosigkeit ist ziemlich klar und findet sich ebenso beim Basic Income Earth Network, ohne dass dort von Bedingungslosigkeit die Rede ist.
Wird Bedürftigkeit bzw. Anspruchserwerb durch Beiträge als Kriterium für die basale Existenzsicherung hingegen aufgegeben, dann hat das Folgen für die bedürftigkeitsgeprüften Leistungen, die oberhalb eines BGE in Zukunft weiterhin bestehen sollen. Denn im Zentrum steht nun nicht mehr die Bedürftigkeit auf Grund des Ausfalls von Erwerbseinkommen bzw. von Erwerbsunfähigkeit, sondern die Bedürftigkeit aufgrund besonderer Lebenslagen, ohne dass Erwerbstätigkeit normativ Vorrang genösse. Erwerbstätigkeit als normatives Ziel stünde nicht mehr im Zentrum des Sozialstaats, sondern das Individuum. Damit änderte sich fast alles.
Dass die Bedingungslosigkeit selbst Bedingungen kennt (siehe meine Ausführungen hier), ist selbstverständlich. Es sind dies aber nicht Gegenleistungsbedingungen wie in den heutigen Systemen sozialer Sicherung, sondern Bereitstellungsbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es ein BGE geben kann. Das fängt schon damit an, dass ein Gemeinwesen die Bereitstellung durchsetzt und absichert. Dann muss es verteilbare Überschüsse geben, also ein bestimmter Wohlstand ist erforderlich. Wir können noch andere Bedingungen nennen, die in der Sache selbst liegen. Ein BGE wird, das ist als solches interessant, nur in den Staaten bzw. Kulturen auf Resonanz stoßen, die einen starken Begriff von Individualität und Gemeinschaft zugleich haben. Das erklärt, weshalb es bislang vor allem in westlichen Demokratien debattiert wird. Selbstbestimmung muss also schon zu den selbstverständlichen Werten gehören, damit ein BGE überhaupt für relevant erachtet wird. Weiterhin muss es eine Bezugsbedingung geben, die mit Zugehörigkeit zum Gemeinwesen bzw. dem Lebensmittelpunkt verbunden ist. Heute wird das über Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus geregelt. Erstere ist unerlässlich, weil es einen Souverän, der über sich selbst bestimmt, nur geben kann, wenn zwischen Angehörigen und Nicht-Angehörigen eines Gemeinwesens unterschieden wird. Staatsangehörige müssen das Gemeinwesen tragen, Entscheidungen verantworten und zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung beitragen. Nicht-Angehörige müssen all dies nur akzeptieren.
Dass zur Bereitstellung eines BGE Steuern notwendig sind, ist selbstverständlich, denn ohne Steuern können hoheitliche Aufgaben nicht erfüllt werden. Wenn nun in der Diskussion hier und dort behauptet wird, bedingungslos sei ein BGE nur, wenn es die Steuerlast nicht verändere insgesamt, dann ist das eine eigenwillige Ausdeutung der Bedingungslosigkeit. Sie ist ebenso eigenwillig wie die Haltung mancher Befürworter, ein „echtes“ BGE davon abhängig zu machen, ob es mit Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung oder anderen Regelungen einhergeht.
Sascha Liebermann
Schiefe Vergleiche und unausgesprochener Paternalismus – eine Anhörung im NRW Landtag zum Bedingungslosem Grundeinkommen
Am 30. Juni fand auf Antrag der Piratenpartei eine Experten-Anhörung im Hauptausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen zum Bedingungslosen Grundeinkommen statt. Nun steht das Protokoll (S. 5-25) der Anhörung online und erlaubt, Einblick in die Beiträge der Experten sowie in Antworten auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, nachzulesen. Wer mit der Diskussion zum BGE vertraut ist, wird wenig Neues darin entdecken, allerdings finden sich hier und da Differenzierungen, die in der öffentlichen Diskussion selten vorkommen.
Interessant ist die nachfolgende Passage aus einer Antwort von Dominik Enste (TH Köln/ Institut der deutschen Wirtschaft) auf eine Frage aus dem Ausschuss. Er bezieht sich hierbei auf Ausführungen von Ute Fischer (Fh Dortmund/ Freiheit statt Vollbeschäftigung) zur Bedeutung bedingungsloser Anerkennung in vergemeinschaftenden Lebenszusammenhängen. Was sagte er?
„Eine völlige Bedingungslosigkeit gibt es vielleicht in der Familie, manchmal noch bedingungslose Liebe – danach sehnen wir uns alle – und selbst die ist meistens nicht gegeben, denn die Eltern lieben ihr Kind vor allem dann, wenn es zurücklächelt. Insofern ist auch dort eine gewisse Reziprozität vorhanden. Und diese ist dann eben auch in der Form der Bedürftigkeit bei diesem Einkommen Voraussetzung.“ (Protokoll der Anhörung, S. 16)
Überraschend ist, wie Enste zwei Dinge zusammenführt, die nicht vergleichbar sind. Die Eltern-Kind-Beziehung, die er zum Vergleich wählt und von ihr aus die Bedürftigkeitsprüfung herleitet (Reziprozität), ist eine asymmetrische. Kinder sind von den Eltern in vielerlei Hinsicht abhängig, Eltern treffen Entscheidungen für die Kinder, solange diese noch nicht entscheidungsfähig sind. Das ist nun in keiner Form vergleichbar mit der Beziehung Erwachsener zueinander, die sich in ihrer Selbstbestimmung frei begegnen. In einem Gemeinwesen begegnen sie sich darüber hinaus noch als Angehörige qua Staatsbürgerschaft, dadurch sind sie Gleiche unter Gleichen. Diese Beziehung ist eben nicht asymmetrisch, sie ist symmetrisch. Von hier aus gelangt man eben nicht zur Begründung der Bedürftigkeitsprüfung, stattdessen eröffnet es den Weg zum BGE. Enste sucht sich zur Veranschaulichung dessen, dass er die Bedürftigkeitsprüfung für richtig hält (Werturteil) ein ungeeignetes Beispiel, das der Analyse nicht standhält. Dass dadurch der Erwerbstätigkeit eine vorrangige Wichtigkeit zugesprochen wird und andere Tätigkeiten unter den Tisch fallen, sieht er nicht oder will er nicht sehen. Genau darauf wies jedoch Ute Fischer hin.
Eine zynische Note erhält das Ganze, indem er – und das ist eine Unterstellung – behauptet, dass „meistens“ Eltern ihr Kind vor allem dann liebten, wenn es zurück lächele. Nehmen wir einmal an, dass dies so sei, was folgte daraus? Wir hätten es dann mit einem Phänomen zu tun, das für entsprechende sozialisatorische Folgen sorgte. Denn die für einen gelingenden Bildungsprozess unerlässliche bedingungslose Hinwendung zu den Kindern zeigt diesen gerade, dass sie, so wie sie sind, angenommen werden. Diese Hinwendung ist eine, die keine bestimmte Gegenleistung voraussetzt. Ein Kind macht dadurch die Erfahrung, dass es ganz gleich, was es tut, geliebt wird. Was nun passiert, wenn diese Bedingungslosigkeit nicht einschränkungslos gegeben ist, lässt sich leicht veranschaulichen. Kinder machen die Erfahrung, dass es nicht um sie als solche geht, sondern darum, sich wohlzuverhalten, elterlichen Erwartungen zu entsprechen, sich also anzupassen an das, was den Eltern gefällt, nicht aber ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Sollte eine solche Haltung der verbreitete Normalfall sein, müssten wir uns ernsthaft Sorgen machen. Dass sie vorkommt, steht außer Frage, ist aber gerade problematisch, weil sie die Herausbildung des Selbstvertrauens in die eigene Person als ganze beeinträchtigt (zur Lektüre dazu siehe z. B. hier). Wenn Enste das nun zum Regelfall erklärt, argumentiert er gerade gegen die Anerkennung der Person um ihrer selbst willen und erhebt einen Missstand zum Ideal. Das ist zynisch.
Was hatte denn Ute Fischer eigentlich gesagt, worauf Dominik Enste reagierte? Ute Fischer unterschied zwei Begriffe von Reziprozität, um deutlich zu machen, dass die verbreitete Rede von Reziprozität als Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verkürzt sei:
„Wir haben das Prinzip des Äquivalententausches. Das ist die zweckgerichtete Leistung für die Ökonomie, für den Arbeitsmarkt – da verwenden wir Leistung und Gegenleistung als Äquivalent. Es gibt aber daneben den Bereich der sittlichen Reziprozität, der zweckfreien Gegenseitigkeit. Das verwenden wir immer da, wo wir als ganze Menschen eingebunden sind – in Familien und im politischen Gemeinwesen. Es sind zwei verschiedene Arten, Gegenseitigkeit zu verstehen. Für den ökonomischen Bereich ist der Äquivalententausch genau richtig: Leistung auf Gegenleistung. Für den anderen Bereich – und wir reden hier über das Sozialsystem, das ist der Bereich der politischen Vergemeinschaftung – ist die Gegenseitigkeit als zweckfreie Kooperation entscheidend.“ (S. 10)
Es gibt ein Verständnis von Reziprozität, das seinen Ort dort hat, wo Leistung bzw. -svermögen getauscht wird, z. B. am Güter- und Arbeitsmarkt. Diese Austauschlogik ist mit zweckgerichteter Reziprozität gut umschrieben, weil auch die Leistungsersteller in Gestalt von Mitarbeitern nicht um ihrer selbst willen eingestellt werden, sondern weil sie einem Zweck dienen sollen. Sie übernehmen eine Aufgabe oder Rolle. Deswegen sind sie ja auch austauschbar, ohne dass der Zweck, dem sie dienen sollen, darunter leiden würde. Es macht diese Tauschform aus, dass es nicht um die Person um ihrer selbst willen geht. Um die Person um ihrer selbst willen geht es woanders, und zwar gilt dort ein Verständnis von Reziprozität im Sinne eines zweckfreien Tauschs. Nicht Leistung wird dort getauscht, Personen als ganze tauschen sich miteinander aus und erkennen sich darin um ihrer selbst willen an. Deswegen ist es auch unangemessen, dies als Rolle zu bezeichnen, vielmehr sind es Positionen, die an Personen hängen, z. B. Vater, Mutter, Staatsbürger. Dieser zweckfreie Tausch, anders als häufig dargestellt, ist die Basis dafür, dass der zweckgerichtete verlässlich möglich ist. Normbindung, Bindung an Regeln und damit auch Verträge wird durch die Erfahrung des zweckfreien Tauschs als Grundlage von Bildungsprozessen erst ermöglicht. Die zweckfreie Reziprozität vollzieht sich in zwei Gemeinschaftsformen: in Familie bzw. familienähnlichen Sozialgebilde und in Gemeinwesen. In der Familie ist es die bedingungslose Anerkennung des Gegenübers als Angehöriger eines Verwandtschaftsgebildes (Gatte-Gattin, Eltern-Kind), im Gemeinwesen ist es die bedingungslose Anerkennung der Bürger als Legitimationsquelle politischer Ordnung (GG Art 20, (2)).
In der Diskussion um das BGE wird diese Differenzierung selten vorgenommen, sie ist jedoch wichtig, um zu verstehen, dass ein Gemeinwesen auf anderen Grundlagen steht als ein Erwerbsverhältnis. Solange das nicht genügend auseinandergehalten wird, scheint nicht nur das BGE eine Angelegenheit von einem anderen Stern zu sein, unser Verhältnis zu uns selbst als Bürger eines Gemeinwesens, die die Basis von allem sind, bleibt ebenso verstellt. Wir übersehen uns selbst, könnte man auch sagen. Wie soll es da Veränderungen geben können, die dazu führen, die Bedeutung der Bürger mehr zu achten?
Sascha Liebermann