Woran bemisst sich, ob ein Sozialstaat sein Ziel erreicht?

Diese Frage stellt sich anlässlich des Beitrags von Stephanie Gebert „Ein verstecktes Leben ohne eigene Wohnung“, der im Deutschlandfunk Kultur gesendet wurde. An zwei Zitaten wird deutlich, woran sich messen lässt, ob ein Sozialstaat sein Ziel erreicht:

„Das heißt, die Frau müssten dann den Gang zum Sozialamt machen und diese ganzen Anträge stellen und da durchgehen“, sagt Katja Caliebe. „Und viele Frauen wissen das entweder nicht oder sie schämen sich auch dafür zu sagen: Jetzt muss ich ja von anderen leben.“

Hardliner werden hierzu sagen, dass es eben in der Verantwortung des Einzelnen liege, seine Interessen wahrzunehmen, denn schließlich handele es sich bei diesen Angeboten um Rechtsansprüche (siehe auch hier). Das ist zwar richtig, sozialstaatliche Leistungen sind keine Almosen, doch geht es an der Sache vorbei, die Verantwortung in diesem Fall denjenigen zuzuschreiben, die die Leistungen nicht abrufen. Wer aufgrund seiner Lebensgeschichte nicht in der Lage ist, seine Interessen selbstbewusst wahrzunehmen und sich dafür womöglich sogar schämt; wenn derjenige dann noch auf einen Sozialstaat trifft, der von ihm erwartet, sich zu erklären, damit er Leistungen erhalten kann – dessen Leiden wird noch verstärkt. Er benötigt stattdessen einen Sozialstaat, der diese Situation erkennt, statt sie zu verstärken. In der Sozialpolitik ist in diesem Zusammenhang von „niedrigschwelligen“ Angeboten die Rede, doch worin bestünde hier die Niedrigschwelligkeit?

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Sprachkosmetik und Verschleierung – das Bürgergeldkonzept der SPD…

…ist voller wohlfeiler Aussagen und drückt sich um eine klare Sprache. Es stechen pädagogisierende Formulierungen hervor, die sich in Werbebroschüren nicht besser finden könnten. Der Beschluss vom Wochenende stimmt im wesentlichen mit dem Konzeptpapier überein, das schon im Februar, noch unter dem Vorsitz von Andrea Nahles, vorgestellt wurde. Man beachte schon den Titel „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit“ und die gewählte Reihenfolge der Begriffe, sie steht ganz in der Tradition der SPD. Im Beschluss aber wird die Reihung mit einem „Sozialstaat für eine neue Zeit“ verbunden – der alte also für den neuen? Schon auf S. 1 heißt es:

„Zum anderen ist es, da in unserem System soziale Absicherung stark an Erwerbsarbeit geknüpft ist, Aufgabe der Politik und des Staates, für einen hohen Beschäftigungsstand zu sorgen.“

Als sei es ein ehernes Gesetz, dass dies so sein müsse, von einem Nachdenken über Alternativen keine Spur. Der Beschäftigungsstand dient der Finanzierung des Sozialstaates, das ist der vorrangige Sinn von Arbeitsplätzen – so die Aussage. In der Folge ist die Rede vom emanzipatorischen Charakter des Sozialstaats, von Freiheit, von der „Befähigung zu einem selbstbestimmten Leben“. Bei letzterem muss man stutzig werden, inwiefern befähigt der Sozialstaat? Unterstützt er nicht vielmehr eine vorhandene Fähigkeit und die Möglichkeit, im Fall einer Einschränkung dieser Fähigkeit, sich Hilfe zu holen? Das setzt aber schon Fähigkeiten voraus, der Sozialstaat schafft sie nicht – oder ist hier nur die finanzielle Absicherung gemeint? Dann gilt um so mehr, dass nur etwas unterstützt wird, das schon vorhanden sein muss.

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„Das bessere Grundeinkommen“ – oder: keinen Sinn für normative Differenzen…

…so könnte man Roman Pletters Beitrag auf Zeit Online übertiteln, der im Original nur aus dem zitierten Teil des Titels besteht. Er beschäftigt sich mit der BGE-Diskussion, den Lagern und Alternativen, die keine Überschreitung des heutigen Sozialstaats verlangen. Die Frage, wie es zu Veränderungen kommen kann, die langfristig wirklich hilfreiche Lösungen für die Herausforderungen des Lebens darstellen, ist berechtigt. In der Tat benötigt man dafür Mehrheiten und ebenso richtig ist, dass es Vorschläge gibt, mit denen das einfacher wäre als mit anderen. Wer also mit dem Erwerbsgebot nicht brechen will, findet Möglichkeiten innerhalb des erwerbszentrierten Sozialstaats: höhere bzw. anders konstruierte bedarfsorientierte Grundsicherungsleistungen, geringere Transferentzugsraten (dass sich Zuverdienst „lohnt“), eine andere Absicherung von Kindern (Kindergrundsicherung) usw. Wenige Passagen seien hier zitiert, um die Stoßrichtung seiner Überlegungen deutlich zu machen. Gegen Ende schreibt er:

„Um die Stigmatisierung aus dem Hartz-IV-System zu vermeiden, muss nicht gleich die Pflicht zur Gegenleistung wegfallen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Auszahlung in Zukunft über Finanzämter organisiert würde: Wer wenig verdient, kann wie in den USA eine Steuergutschrift bekommen. Es ist schließlich ein Unterschied, ob man eine Aufstockung des Lohns beantragt – oder ob man sich eine Steuererstattung holt, um ein Grundeinkommen zu erreichen.“

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„Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Immer mehr Hartz-IV-Bezieher sind arbeitsunfähig“ – zwei gegenläufige Schlussfolgerungen…

…lässt diese Meldung von O-Ton-Arbeitsmarkt zu. Darin heißt es unter anderem:

„Aus Sicht der Wissenschaft gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen der tatsächlichen Beschäftigungslosigkeit und Gesundheit bzw. Krankheit. So erhöhen nicht nur vorhandene physische und psychische Einschränkungen das Risiko, arbeitslos zu werden. Mehrere Studien deuten auch darauf hin, dass sich Arbeitslosigkeit negativ auf die psychische Gesundheit der Betroffenen auswirkt. Hierauf weist beispielsweise der Fehlzeiten-Report 2018 der Krankenkasse AOK hin.“

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Langzeitarbeitslosigkeit, Teilhabe, Coaching – welche Unterstützung ist sinnvoll?

Dieser Frage geht ein Interview mit den Sozialwissenschaftlern Frank Bauer (IAB) und Philipp Fuchs (ISG) aus dem Jahr 2017 nach, das sehr differenziert über die Herausforderungen und Problemlagen von Personen Auskunft gibt, die aufgrund besonderer „Vermittlungshemmnisse“ kaum bis keine Aussichten auf reguläre Arbeitsverhältnisse haben.

Eine Frage, die nicht erörtert wird, aber für die Förderprogramme zu bedenken wäre, ist, welche Bedeutung die normative Konstruktion der Förderprogramme für ihren Erfolg oder Misserfolg hat, Stichwort Stigmatisierung. Welcher Art ist die „Teilhabe“, die durch sie erreicht werden soll, inwiefern entwertet die normative Konstruktion das Beschäftigungsverhältnis, weil sie etwas suggeriert, das sie nicht halten kann: eine Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt, der aber ein simulierter mit eingeschränkter Sachorientierung und stärkerer Sozialfürsorge ist. Hilft das wirklich denjenigen, die sich darin befinden?

Sascha Liebermann

„HartzPlus“-Projekt gestartet – Freiwillige gesucht

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Siehe unsere Kommentare zu Feldexperimenten
Siehe hier zu Untersuchungen über die „Armutsfalle“ und Gründe für  langfristigen Sozialleistungsbezug

Update 7.12.: Wir hatten aus Versehen auf die Pressekonferenz von sanktionsfrei aus dem Jahr 2016 verlinkt.

Herr Muscheid, der DGB-Chef, hat ganz gut begriffen…

…dass die Menschen sich über Arbeit definieren. Aber was er nicht begriffen hat, ist, dass diese Definitionen Ausdruck bestimmter sozialer Deutungsmuster und damit ebensogut Produkte der Menschen sind, wie Autos, Computer etc. Die sozialen Deutungsmuster sind eng verknüpft mit den Denk- und damit zusammenhängend Handlungsmöglichkeiten. Mit der Erwerbung neuer Denkmöglichkeiten – etwa durch offene Debatten in einer unrestringierten Öffentlichkeit, wo die Fragwürdigkeit eingefahrener Deutungsmuster und ihr Scheitern angesichts der Realität thematisiert werden – verändern die Menschen ihre Deutungsmuster und mit der Veränderung der Deutungsmuster, der Art, sich ihrem Leben zu stellen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.

Thomas Loer

„…weil sich Menschen nunmal über Arbeit definierten…“…

…sei ein „bedingungsloses Grundeinkommen […] eine Wahnsinnsidee“, so der Landesvorsitzende Rheinland Pfalz des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Dietmar Muscheid, laut einem Bericht des SWR.

Der Wortlaut der Passage:

„Grundsätzlich sei festzustellen, dass bei Langzeitarbeitslosen die Depressions- und Selbstmordrate 20 Mal höher als bei Erwerbstätigen sei. „Besonders Männner beziehen ihre Identität häufig über die Arbeit“, erklärte Trabert. Insofern löse eine lange Arbeitslosigkeit in vielen Fällen Selbstzweifel aus, einhergehend mit einem „Selbstwertverlust“.

Aus dem Grund hält Gewerkschafter Muscheid ein bedingungsloses Grundeinkommen für den falschen Weg. Das sei eine „Wahnsinnsidee“, weil sich Menschen nunmal über Arbeit definierten. Letztlich sei der einzige Weg, die Regelsätze für Hartz IV zu erhöhen, um Betroffene nicht gänzlich vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen, forderte Trabert.“

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„Wer heute vor dem Fernseher sitzt, wird vermutlich noch länger vor dem Fernseher sitzen“…

…so der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher in einem Interview mit der Luzerner Zeitung. Es ist die einzige Passage, in der es um das BGE geht. Was hat er darüber hinaus gesagt?

Luzerner Zeitung: „Mal angenommen, wir hätten dank einem Modell wie dem bedingungslosen Grundeinkommen bald einen Haufen Menschen ohne existenzielle Probleme: Was werden die dann tun?“
Lüscher: „Wer heute viel vor dem Fernseher sitzt, wird vermutlich noch länger vor dem Fernseher sitzen. Es ist eine etwas romantische Vorstellung, das sich plötzlich alle dem Verfassen von Gedichten oder der Ölmalerei widmen werden. Die Schulausbildung, die wir geniessen, zielt nicht gerade darauf ab, einen darauf vorzubereiten, ein Leben selber zu gestalten. Man wird auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, um dort Erfüllung zu finden. Wenn das mit dem bedingungslosen Grundeinkommen kein neoliberaler Albtraum werden soll, muss das mit einem kompletten Wandel unseres Ausbildungssystems einhergehen“.

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„Ich arbeite, also bin ich“ – gut, dass das einmal gesagt wird…

…so zumindest erscheint der Beitrag von Henrike Roßbach in der Süddeutschen Zeitung. Wer das ernst meint, braucht über Würde nicht mehr nachzudenken.

Sie beginnt hiermit:

„Wenn er erklären will, was Arbeit mit einem Menschen macht, oder eher, was es mit einem Menschen macht, wenn er keine Arbeit hat, dann erzählt Thomas Lenz von dem Mann vom Marktplatz. Zwei Flaschen Schnaps habe der jeden Tag getrunken, und herumgesessen, mitten in Wuppertal. Bis er eines Tages mitarbeiten durfte beim Bau der Wuppertaler Nordbahntrasse, einem 23 Kilometer langen Wander- und Radweg entlang der ehemaligen rheinischen Eisenbahnstrecke. „Den mussten wir bremsen, der war auch samstags auf der Strecke“, sagt Lenz, der das Wuppertaler Jobcenter leitet. Trocken sei der Mann zwar auch damals nicht gewesen, während der Arbeitszeit aber habe er zuverlässig funktioniert und nicht getrunken. Mit ein paar Tricks konnten sie ihn anderthalb Jahre in dem Projekt halten, länger als üblich. Mehr ging nicht. „Heute ist er tot“, sagt Lenz. „Totgesoffen“.“

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